Archiv


Der König gibt sich volksnah mit Bockwurst und Bierkrug

Demokratie kann ganz schön anstrengend sein! Das zeigen auch auf köstlich humorvolle Weise Martin Baltscheit und Christine Schwarz in ihrem Bilderbuch vom "Wahlkampf der Tiere". Durch die Bundestagwahl hat es eine Aktualität gewonnen, die es auch für Erwachsene zu einer höchst vergnüglichen Lektüre macht.

Von Martina Wehlte | 17.09.2005
    Wohl darf das Tierpersonal als zeitlos gelten: vom verschlagenen Fuchs über die dümmlichen Gänse bis zum wonnigen Stier Ferdi, über dessen unschuldigen Knopfaugen die Illustratorin Christine Schwarz ein Sträußchen Wiesenblumen platziert hat. Auch der imposante Löwe und die kleine graue Maus haben ihren festen Platz in der Fabelwelt, wo sie die ideale Besetzung für ein Lehrstück über die Macht der Starken und den Mut der Schwachen abgeben. Doch welcher Erwachsene würde gerade jetzt keinen Bezug zu unseren politischen Hauptakteuren erkennen, wenn er den König der Tiere volksnah mit Bockwurst und Bierkrug sieht und die Maus als sein Herausforderer vollmundig verkündet:

    "Katzen dürfen keine Mäuse fressen! Wenn ich König bin, werden wir die Katzen fressen!"

    Und wie jede Tierart nun ihr Mitspracherecht nutzt und einen Kandidaten samt Programm aufstellt, das wirkt doch sehr vertraut.

    "Der Vogel Strauß sprach stundenlang über einen Flughafen, den er bauen wollte, mit Geschäften und Parkhäusern, 4 Landebahnen und einer unterirdischen Zugverbindung. Als ihn jemand fragte, wer das bezahlen solle, steckte er seinen Kopf in den Sand."

    Weil sich dann bei der Wahl jeder selbst eine Stimme gibt und regieren will, kommt es wie’s kommen muss: Nichts geht mehr. Über zwei ganze Seiten tobt die Schlacht des Fressens und Gefressen-Werdens. Mit aufgesperrten Mäulern und gebleckten Zähnen, die Augen voll starrer Gier und die Krallen ausgefahren, so fallen die karikaturhaften Monster übereinander her, purzeln kopfüber ins Bild und flüchten wieder daraus, so dass nur noch ihre Pfoten zu sehen sind. Tierkarikaturen dürften wohl zum Schwersten in der zeichnerischen Zunft gehören. Christine Schwarz hat die Herausforderung, die Baltscheits witzig-ironischer Text stellt, bravourös bestanden und sich als kongeniale Partnerin erwiesen.

    Und wie geht die Geschichte weiter? Der Löwe ruft Neuwahlen aus, die zu einem ganz überraschenden Ergebnis führen. Aber diese Pointe wird nicht verraten.

    Eine Zeit, in der es um die Verteilung von Macht, um Ämter und Posten geht, rückt auch Bettina Wegenasts Kinderbuch "Wolf sein" in ein besonderes Licht. Die Schweizer Autorin hat ihre Geschichte von den drei Schafen Kalle, Locke und René irgendwo zwischen Fabel und Märchen angesiedelt und ursprünglich als Theaterstück "für Schafe ab 8 Jahren" geschrieben. So wirbt jedenfalls das junge Theater Konstanz für seine Aufführung im Rahmen der Erzähltheater-Reihe. "Wolf sein" erhielt 2004 den Münchner Dramatiker-Förderpreis und wurde nun in einer Buchfassung mit einfachen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Kataharina Bußhoff herausgebracht. "Der Wolf ist tot, der Wolf ist tot" so jubeln eingangs drei kleine Schweinchen und scheinen damit in den Chor der sieben Geißlein einzustimmen, die bei den Brüdern Grimm am Ende um den Brunnen herumtanzen, in dem der böse Wolf mit seinem Bauch voller Wackersteine ersoffen ist. Eine Fortsetzung des klassischen Märchens also? Ja, insofern ein neuer böser Wolf gesucht wird (in unserer modernen Zeit per Stellenausschreibung, versteht sich). Nein, insofern der neue Wolf eigentlich ein Schaf im Wolfspelz ist, nämlich Kalle, der die Gelegenheit bekommt seine dunkle Seite, den sprichwörtlichen Wolf im Schafspelz, von Amts wegen auszuleben. Seinen Freund Locke schaudert’s wohlig, wenn er etwas über den großen bösen Wolf hört, und das unbekannte Böse fasziniert ihn.
    Hierzu die Autorin:

    "Dieses gut - böse finde ich ein interessantes Thema, aber ich glaube, das eine ist im andern auch schon angelegt. Locke hat auch Spaß daran, er freut sich ja auch sich vorzustellen eben dieses Gruselige. Das genießt er ja auch. Und dadurch wird Kalle eben auch beflügelt, aber das ist natürlich schon in ihm angelegt."

    Die Doppelseitigkeit des Gut - Böse ist humorvoll dargestellt und glaubwürdig. Ja, Kalle hatte René im Spiel tatsächlich ins Bein gebissen, so dass der wochenlang humpelte.

    "Die Vorstellung, als Wolf sich da mal so richtig austoben zu können, das beflügelt ihn."

    Und so tritt Kalle bei der Stellenvermittlung recht forsch und selbstbewusst auf. Er bekommt den Job auf Probe und will sich nun – ausgestattet mit schwarzem Pelz und gelben Zähnen – natürlich profilieren. Locke wird unwissentlich sein Helfer, indem er René in den Wald lockt, wo Kalle ihn verschlingt. Damit hatte Locke nicht gerechnet. Er wird zum Jäger und läuft in dieser Rolle zu wahrer Größe auf. René wird gerettet und Kalle in einer listigen Schlusswendung zum lammfrommen Artgenossen gemacht.
    Wie gelingt es hier, den Mechanismus vom Fressen und Gefressen-Werden zu durchbrechen? Indem ein persönliches Verhältnis aufgebaut, ein Bewusstsein von der eigenen Identität geschaffen wird. So vergleicht René das Schaf Locke mit einer Wolke.

    "Dadurch dass René Locke anders benennt, gibt er ihm auch die Möglichkeit aus diesem Schafdasein rauszutreten und eröffnet ihm quasi eine neue Dimension. Das stimmt natürlich, dass das für Locke so die Initialzündung ist: ah, ich bin ja auch noch eine Wolke."

    Dabei ist es interessant zu beobachten, wie die Rollen im Theater besetzt werden:

    "Ich finde das immer sehr spannend, wer eine Frau ist oder wer ein Mann ist. Kalle war bisher immer ein Mann und Locke war beides schon, ein Mann oder eine Frau, und René auch. Und das ergibt immer wieder eine andere Spannung."

    Bei der Inszenierung des Lesers im Kopf helfen statt dramaturgischer Anweisungen Katharina Bußhoffs Zeichnungen mit ihrer Situationskomik. Wenn Kalles Killerinstinkt durchbricht oder Locke in seiner neuen Funktion als Jäger für Recht und Ordnung sorgt, dann ist in den schlichten Illustrationen immer noch etwas von dem Unschuldslamm zu erkennen, das beide mit ihrem wolligen Fell, dem einfältigen Schafskopf und den staksigen Beinen von Natur aus doch sind. Erst durch ihren Job und die damit verbundenen Erwartungen verhalten sie sich wesensfremd. Die Rollenzwänge, also den strammen Wolfspelz und den engen Jägermantel, abzustreifen, das ist der Appell der Geschichte und darin unterscheidet sie sich grundlegend vom klassischen Märchentypus mit seiner Polarisierung aufs abgrundtief Böse und vollkommen Liebe. Wir müssen uns für Freundschaft, Aufrichtigkeit, Verantwortung und Toleranz entscheiden, für soziales Verhalten im Alltag, so lautet die Botschaft dieses humorvollen Büchleins für Schafe jeden Alters.

    Martin Baltscheit / Christine Schwarz: Ich bin für mich oder Der Wahlkampf der Tiere
    Zürich (Bajazzo) 2005. Für jedes Alter. 40 S., durchgehend ill. Preis: 12,90 Euro

    Bettina Wegenast / Katharina Bußhoff: Wolf sein
    Sauerländer, 2005. Ab 6 Jahren. 64 Seiten. Preis 9,90 Euro