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Der Körper als Ware

Etliche private Firmen erforschen die menschlichen Gene und bieten gegen Entgelt eine Analyse von Erbgut an. Wie der Körper zur Ware wird, schildert Kaushik Sunder Rajan in "Biokapitalismus".

Von Annette Brüggemann | 18.09.2009
    Kaufen und verkaufen ist der Kreislauf, in dem wir uns bewegen. Der Markt richtet hohe Erwartungen auch an unseren Körper. Der junge französische Philosoph Camille de Toledo stellte jüngst in einem Interview die These auf, es sei ein Traum des Finanzkapitals, dass der soziale Körper genauso schnell wird wie das Geld. Im sozialen Körper sieht Camille de Toledo den Inbegriff von Demokratie und Widerstand, von natürlicher Langsamkeit und Schwere gegenüber der globalen, nicht greifbaren Schnelligkeit des Kapitals. Wobei genau diese Schnelligkeit - die Finanzkrise hat es gezeigt - am Nullpunkt angelangt ist und sich nun an der Realität messen lassen muss.

    Camille de Toledo nannte es einen "Verrat am Fleisch", dass unser widerständiger Körper ein Körper für das Kapital wird, einfach nur dadurch, dass wir ihn als Information ansehen; als eine Information, die sich in Daten und Zahlen umwandeln lässt.

    Das Buch des Anthropologen Kaushik Sunder Rajan handelt von diesem Körper als Information. Er durchleuchtet die Mechanismen, die der Biokapitalismus, wie er ihn nennt, fördert und vorantreibt. Seine These, die der Camille de Toledos ähnelt, lautet:

    Ganz allgemein revolutionieren die technologischen und epistemologischen Veränderungen im Bereich der Biotechnologie unsere Vorstellung davon, was wir "Leben" nennen. Das "Leben" wird nun plötzlich zu etwas Materiellem, das man handeln und tauschen kann. Die entsprechenden Kreisläufe sind gekennzeichnet von einem komplexen Wechselspiel der kommerziellen Logik des Privateigentums und jener der öffentlichen Güter. Die neue Wirtschaftsform, die sich daraus entwickelt, entspricht weder dem alten Industriekapitalismus noch der sogenannten postmodernen Wissensgesellschaft. Und genau für dieses ökonomische System, das man als materiell-spekulativ bezeichnen könnte, verwende ich den Begriff "Biokapital", der Auskunft darüber gibt, in welcher Weise das "Leben" im Rahmen dieser widersprüchlichen Kommerzialisierungsprozesse neu definiert wird.

    Vielleicht lässt sich Rajans These noch radikaler formulieren: Es geht nicht nur darum, dass das Leben plötzlich zu etwas Materiellem wird, sondern es gibt in Technologie und Anthropologie insgesamt einen offenen Kampf gegen das, was uns determiniert.

    Wir sehen es an der wissenschaftlichen Forschung über das Genom. Jedes Mal geht es darum, einen Code zu knacken, einen Code, der uns festlegt, unseren Charakter, unsere Person. Wir versuchen uns, von diesen Vorbestimmungen zu befreien. Der Körper und seine Gene bestimmen, wie unser Leben verlaufen wird, woran wir erkranken, wie schnell wir altern. Aber sie liefern auch die nötigen Daten, um diese Feststellung mithilfe der Medizin zu unterlaufen. Schon heute würden Versicherungen gerne diese genetischen Informationen erfragen: höheres Krankheitsrisiko - höhere Versicherungsprämie. Doch noch ist der Körper hinderlich im freien Fluss des Marktes. Noch gibt es keinen gläsernen Menschen. Noch immer hat die Genforschung mit unbekannten Phänomenen zu tun.


    Kaushik Sunder Rajan beschreibt in seinem Buch den Wettlauf um Erkenntnis auf dem freien Markt der Gene. Er vergleicht öffentlich finanzierte Forschungsprojekte wie das "Human Genom Project", kurz HGP, und das Privatunternehmen eines Craig Venter. "Herr der Gene" lautet der Spitzname des amerikanischen Biochemikers, dessen DNA - noch nie hat es das gegeben - komplett entziffert wurde. 1998 gründete Craig Venter das Unternehmen "Celera Genomics Corporation", um auf Basis privater Finanzierung menschliche Gene durch automatisierte Sequenzierung zu kartieren. Er war schneller, als das öffentlich geförderte HGP.

    Doch Wissenschaft und Kapitalismus, Forschung und Pharmaindustrie gehen bei einem Privatunternehmen wie dem Craig Venters Hand in Hand; gepaart mit spekulativen Heilsversprechen, in Zukunft Leben retten zu können.

    Die beste Metapher für die Magie des technowissenschaftlichen Kapitalismus ist daher nicht jene des unerschöpflichen Goldtopfes, sondern die des Kaninchens, das aus dem Hut gezaubert wird. Daher hat die eine Seite des Ethos, der Autorität und der Magie des technowissenschaftlichen Kapitalismus nicht nur mit seinem generativen, sondern auch mit seinem kreativen Potenzial zu tun. Zugleich produzieren Lebenswissenschaften Fakten. Da diese so etwas Fundamentales wie das Leben betreffen, haben sie einen bestimmten Wert. Und weil sie Fakten sind, können sie eine gewisse Autorität beanspruchen. Und am Horizont all dieser Trends steht die viel gepriesene individualisierte Medizin.

    Die viel gepriesene individualisierte Medizin meint nichts anderes, als eine verbraucherorientierte Genforschung. Patienten kaufen den direkten Zugang zu Informationen und Technologien und beschränken dadurch die Rolle von Ärzten auf ein Minimum.

    Kaushik Sunder Rajan hat sein Buch geschrieben, bevor Schlagzeilen rund um die amerikanische Firma "23andMe" durch die Presse gingen. Für knapp 1000 Dollar und eine Speichelprobe analysiert das Unternehmen das Erbgut seiner Kunden auf ethnische Abstammung, Krankheitsveranlagungen und kuriose Eigenheiten wie die Fähigkeit, Bitteres zu schmecken. Einen nahezu identischen Service unter dem Namen "deCODEme" bietet das isländische Unternehmen "Decode Genetics" seit Ende 2007 an.

    Insofern hat Kaushik Sunder Rajan recht, wenn er sagt, die Genforschung habe einen messianischen Raum betreten. Und er beschreibt eindrücklich, wie diese Aura auf kulthaften amerikanischen Firmenpartys zelebriert wird, ganz nach dem Motto: "Wir betreiben Genforschung um des Lebens willen."

    Fragt sich nur, welche menschlichen Werte bei all der Euphorie um die verheißungsvolle Wissenschaft der Zukunft erhalten bleiben. Kaushik Sunder Rajan spricht in seinem Buch von großen Begriffen wie Wahrheit, Moral und Verantwortung.

    Das Schöne an einer Zukunftsvision ist natürlich, dass sie nicht wahr werden muss. Es ist beispielsweise rechtlich zulässig, solche Vorhersagen einzuschränken, indem derjenige, der sie formuliert, explizit keine Verantwortung dafür übernimmt, dass sie tatsächlich eintreten. Doch von rechtlichen Aspekten einmal abgesehen, müssen Visionen ohnehin nicht wahr sein, wenn es darum geht, sie zu verkaufen.

    Kaushik Sunder Rajan hat auf Konferenzen wie in Laboratorien, in den USA und Indien recherchiert. Spannend und greifbar wird seine Analyse vor allem im globalen Vergleich dieser beiden Standorte. Indien träume davon, so Rajan, ein Global Player in der Biotechnologie zu werden. Einst Objekt kolonialistischer Bestrebungen, sei die Versuchung jedoch nah, in die gleiche Falle zu tappen. Indien ist bereits ein beliebter Zulieferant von Genmaterial im Bereich der Populationsgenetik.

    Rajan entlarvt das vermeintlich Globale als amerikanische Vorstellung von einem freien Markt. Ist der Biokapitalismus also ein Spiel nach amerikanischen Regeln? Welche Chancen hat ein ambitionierter Forschungsstandort wie Indien, eine eigene Innovationskultur aufzubauen?

    "Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter" von Kaushik Sunder Rajan entfaltet sein Potenzial in der Differenz - in der genauen Betrachtung der Unterschiede. Was dem Buch fehlt, ist eine eigene klare Linie. Zu häufig werden Philosophen wie Michel Foucault und Jacques Derrida oder ein Soziologe wie Pierre Bourdieu zitiert und zurate gezogen. So wirkt das Buch bei allen Fakten und Hintergründen sperrig und unausgereift, auch wenn Rajans eigener Wille zur Wahrheit merklich das Buch vorantreibt. Brillant ist Kaushik Sunder Rajan dann, wenn er seinen eigenen Beobachtungen traut.

    Kaushik Sunder Rajan: Biokapitalismus. Werte im postgenomischen Zeitalter
    Suhrkamp Verlag, Edition Zweite Moderne, Frankfurt a. M. 2009, 303 Seiten, 24,80 Euro