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Der Krieg der Frauen

Manchmal gibt es sie, die großen Überraschungen in der deutschen Literatur. Da erscheint der Roman einer Schriftstellerin, deren Namen bisher kaum jemand gekannt hat - und plötzlich ist zur so genannten Nachkriegsliteratur ein Roman hinzugekommen, knapp vierhundert Seiten lang und in schnörkelloser, aber hochgradig intensiver Sprache erzählt, der noch einmal völlig neue Blicke in diese Zeiten der großen Verwüstungen hinein wirft. Birgit Bauer heißt diese Schriftstellerin und ihr Roman "Im Federhaus der Zeit".

Uwe Pralle | 23.12.2003
    "Federhaus" ist das Innere einer mechanisch betriebenen Armbanduhr oder eben einer Standuhr. Und die Zahnräder und die Unruhe, das ist in einem Gehäuse, und dieses Gehäuse nennt sich Federhaus.

    ... sagt sie zu diesen Titel, der zuerst tatsächlich ganz andere Assoziationen auslöst als die an einen verborgenen Mechanismus. Geboren ist Birgit Bauer 1958 in Bremen und gearbeitet hat sie bisher vor allem als Filmemacherin und Cutterin, lange Zeit in Hamburg und zwischendurch auch zwei Jahre in Rom. Vor fünf Jahren ist ein erster Roman von ihr erschienen, "Holy Mood Boulevard", verglichen mit dem jetzigen Roman allerdings kaum mehr als eine Fingerübung, und mittlerweile lebt sie seit einigen Jahren in Berlin. Das Neue an ihrem Blick in die Kriegs- und Nachkriegsjahre besteht unter anderem darin:

    Der Roman ist aus einer weiblichen Perspektive geschrieben, aber über dieser weiblichen Perspektive steht der Vater. Da finden wir den Vater in Form von Jesus, Gott, Herr, Heiland am Kreuz, Vater Staat; das finden wir in Westdeutschland in der Nachkriegszeit ebenso wie in der DDR. Also diese Vaterfigur ist ständig präsent und diktiert, gibt vor, wie Leben zu funktionieren hat. Die Vaterfigur ist eine Bedrohung, in jeder Form, ob das nun der Gott, Herr, Heiland am Kreuz ist, ob es diese Vaterfigur in Form "Staat" ist, sie ist eine Bedrohung, sie ist die totale Macht.

    Den Krieg und seine Nachwirkungen radikal aus weiblichem Blickwinkel darzustellen, so dass er sich als finsterer Vater zumindest vieler Dinge zeigt: das hat es in der deutschen Literatur der letzten fünfzig Jahre noch nicht gegeben. Sogar in ihr war der Krieg bisher vor allem Männersache. Man braucht nur an die großen Namen von Schmidt über Borchardt und Böll bis zu Grass zu denken. Wo sie an diesen Komplex rührten, kreisten ihre Romane fast ausschließlich um männliche Kriegstraumata. Erst Uwe Johnson hat in "Jahrestage" versucht, die männlichen Perspektive aufzubrechen, indem er den Zeitraum vom Nationalsozialismus bis ins Jahr 1968 im Doppelblick von Mutter und Tochter Cresspahl zeigte.

    Wenn es eine gewisse - und sei es auch unbewusste - literarische Verwandtschaft von Birgit Bauers "Federhaus der Zeit" gibt: dann zu Johnsons "Jahrestage" - und nicht allein, weil eine langer Abschnitt ihres Romans von den letzten zwei Kriegsjahren bis in die ersten Jahre der DDR in Stralsund, sozusagen auf Johnsons mecklenburgischem Terrain, spielt, sondern weil ihre beiden Hauptfiguren ebenfalls Mutter und Tochter sind. Nur ist ihr Verhältnis und auch der weibliche Blick dieser beiden, denen die Macht der "Väter Staat" weder vor noch nach dem Krieg jemals aufhört, ins Leben einzugreifen, noch viel tiefer von Gewalt geprägt.

    Ich würde das Verhältnis mit Wölfen vergleichen. Und zwar ist das eine schicksalshafte Zwangsgemeinschaft. Wölfe sind Einzeltiere, Außenseiter, die finden sich nur zusammen, um zu überleben, nämlich wenn sie fressen müssen. Und das ist für mich dieses Verhältnis von Mutter und Tochter. Die Mutter erkennt an einem bestimmten Punkt, dass sie die Tochter, Lisa, braucht, um das Leben bewältigen zu können. Und Lisa, aufgrund ihres Alters, ist auf die Mutter angewiesen.

    Diese Mutter gehörte zu den ersten "Lebensborn"-Kindern. "Lebensborn" war ein Lieblingsprojekt von Himmler. 1935 gegründet, um nach sogenannten rassischen Merkmalen ausgewählte Frauen und SS-Männer Kinder zeugen zu lassen, die später ihrerseits wieder miteinander gekreuzt werden sollten, war es als Zuchtanstalt für eine "arische Elite" geplant. Wer dort zur Welt kam, kannte oft nicht einmal die leiblichen Eltern und war im Grunde das Kind einer Verbindung von Rassenideologie und NS-Staat. Die Kindheit der Mutter ist eine grausame Odyssee, auf der sie alle Niedertracht und Gewalt in den "Lebensborn"-Heimen, manchen Pflegefamilien sowie dem immer näher heranrückenden Krieg zu spüren bekommt.

    Die "Lebensborn"-Kinder sollten bis zur Pubertät möglichst bei Pflegeeltern untergebracht werden; doch auf der Odyssee dieses Kindes werden in zwei Fällen die Pflegeeltern bei Bombenangriffen getötet, bevor sie 1944, inzwischen acht Jahre alt, in Stralsund zu einer Familie kommt, bei der sie auch nach Kriegsende bleiben kann und die russische Besatzung sowie die ersten Jahre nach der Gründung der DDR erlebt. Erstaunlich ist, wie eindringlich und genau die Zeitatmosphäre eingefangen ist, die starren Ordnungssysteme in den Kinderheimen und Familien, in denen ein perfides Klima von Gewalt und scheinheiliger Moral herrschte. Dabei hat Birgit Bauer weder die 40er und 50er Jahre noch die frühe DDR-Zeit selbst erlebt, und autobiographische Züge besitzt der Roman auch sonst kaum. Entstanden ist er auf ganz andere Weise:

    Also die Schlüsselgeschichte war damals, dass ich - das war Anfang der 80er - eine längere Zugfahrt machte und während dieser Zugfahrt eine Reisebekanntschaft hatte, eine ältere Dame, die mir ihre Lebensgeschichte erzählte. Unter anderem erzählte sie mir, dass sie ein "Lebensborn"-Kind sei, dass sie Jahre damit verbracht hätte, ihre Eltern zu finden, die sie dann schließlich auch gefunden hatte, und die sie mit ihrem Dasein konfrontiert hatte. Dazu muß man sagen, diese Eltern hatten unabhängig voneinander neue Familien gegründet, mit Kindern. Und beide Eltern, der Vater sowohl als auch die Mutter, haben abgestritten, die Eltern dieser Dame zu sein. Diese Geschichte, die hat mich damals tief berührt.

    Über viele Jahre ist Birgit Bauer den Spuren dieser und anderer solcher Viten nachgegangen, wobei sich der Fokus ihres Blicks auf die inneren und äußeren Zeitlandschaften allmählich immer weiter ausgedehnt hat.

    Ich habe dann zum Beispiel Anzeigen aufgegeben, "Wer hat seine Kindheit in den 50er/ 60er Jahren in Heimen verbracht?" Dann bin ich in Hamburg, habe ich in einer offenen Sozialstation für ältere Mitbürger nachgefragt, ob ich da Interviews machen kann. Mir war damals klar - also das hatte ich dann auch festgestellt - dass das Thema "Lebensborn" ein Tabuthema ist. Und ich habe mich gefragt: was interessiert mich außerhalb dieser Thematik, wie schaffe ich es, ein Vertrauen aufzubauen, um dieses Tabuthema irgendwann in dieser Gesprächsrunde ansprechen zu können? Und habe dann eben gesagt, was mich interessiert bei diesem Gesprächskreis: wie die Frauen den Krieg erlebt haben, wie sie ihre Kinder satt bekommen haben, was sie getan haben, wenn sie ausgebombt waren. Und irgendwann stand ich dann eben vor einem unglaublichen Berg von Informationen.

    Das klingt vielleicht, als sei dieser Roman ein Ableger des Zeitzeugen-TVs à la Guido Knopp. Doch seine literarische Vielschichtigkeit und Tiefenschärfe trennt diesen Roman davon um Welten, um von der Verführungskraft von Birgit Bauers geradezu makelloser Prosa zu schweigen. Und was gelungene Literatur elementar von historischen Dokumenten unterscheidet, ist außerdem, im Netz des Erzählens nicht etwa nur Stimmen von Zeugen einzufangen, sondern auch Wahrheiten, die oft quasi im toten Winkel der Zeitzeugen liegen.

    Also bei meiner Recherche habe ich festgestellt, dass es die Stunde Null nicht gegeben hat. Die Autoritäten sind ausgetauscht worden, und die Leitbilder, die sozialpolitischen Ziele haben sich verändert. Aber die Strukturen, die sind die gleichen geblieben. Und die Ergebnisse, die Erziehungsergebnisse bei den Kindern sind auch die gleichen geblieben. Und das ist egal, ob das in der NS-Zeit, in der DDR oder in der Nachkriegszeit in Westdeutschland gewesen ist. Das Räderwerk ist weitergelaufen.

    Es ist eine der Wahrheiten, um die dieser Roman kreist, dass ein Räderwerk von Gewalt still und heimlich weiterlief - wie hätten sich auch die brutalisierten Verhältnisse vor 1945 in der Zeit danach so ohne weiteres entzerren sollen? Davon erzählt Birgit Bauer in der von Anfang an parallelgeführten Geschichte Lisas, der Tochter. Sie ist 1959 geboren, nachdem die Mutter Mitte der 50er Jahre aus der DDR in den Westen geflohen ist. Zum Heimkind wird auch die Tochter, nur ist es dieses Mal ein katholisches Kinderheim - und ein westdeutsches Jugendamt, das der Mutter das Sorgerecht entzieht, weil sie ihr Kind alleine erzieht, aber den als anrüchig geltenden Beruf einer Kellnerin ausübt. Das ist damals kein Ausnahmefall gewesen:

    Nach dem Krieg war es für ledige Frauen mit unehelich geborenen Kindern nicht einfach. Die Frauen standen unter einem großen Druck, nicht nur finanziell, also es gab damals kein Kindergeld, die Frauen waren gezwungen zu arbeiten. Oft wurde den Frauen das Sorgerecht entzogen. Viele Frauen haben aber auch ihre Kinder aus wirtschaftlicher Not in Kinderheimen untergebracht, weil auch noch durch den Krieg die Familien zerstört waren und man nicht wusste: wo sollte man diese Kinder unterbringen.

    Diese Folgen des Krieges und der frostige Moralismus, der in den ersten Nachkriegsjahrzehnten hüben und drüben durch Amtsstuben und Öffentlichkeit wehte, unterfüttert von einer noch tief in den Leibern steckenden Verrohung: das ist das große Thema dieses Romans. So schonungslos ist von dieser Seite des Krieges bisher noch nie erzählt worden. Wenn die Mutter ihre Tochter zwei Mal aus Heimen entführt und dann wie eine Kriminelle mit ihr kreuz und quer durch die Bundesrepublik von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle vagabundiert, immer den Vater Staat im Nacken: dann wiederholt sich die eigene Odyssee auch im Leben der Tochter. Und als sie endlich wieder legal zusammenleben können: da ist das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter davon längst schwer beschädigt. Bestechend an dem Roman ist, diese unheimliche Zeitlandschaft zu
    beleuchten, ohne je von den Linien des Erzählens abzuweichen.

    Nichts ist erklärt, alles erzählt, und zwar höchst nunanciert, aber mit ungeheurer emotionaler Wucht. Dieser Roman hat das Zeug dazu, einmal neben den wenigen großen Werken der Nachkriegsliteratur als das weibliche Epos eines Krieges zu stehen, der niie ganz aufhörte, als er zu Ende war. Ein Wermutstropfen muss jedoch beigemischt werden: der Schluss dieses Romans ist viel zu kurz geraten, um das Gewicht der überraschenden Wendung zu tragen, als Lisa, die Tochter, nach 1989 in Stralsund selbst nach den Lebensspuren ihrer Mutter suchen kann - und sie plötzlich vor ziemlich verstörenden Fragen steht. Verwunderlich, dieser kurze Schluss, bei Birgit Bauers sonst so genauem Sinn für erzählerische Proportionen - zumal dieser Schluss auch ihre Haltung und die ihrer eigenen Generation zur Vergangenheit mit dieser verstörenden Frage konfrontieren soll:

    Also für mich ist das auch so was wie Panik der heute Fünfzigjährigen, dass eben auch nicht mehr viel Zeit bleibt, diese Lücken auffüllen zu können in den eigenen Biographien, die das Schweigen der Eltern hinterlassen haben. Was für mich dabei interessant ist, dass es diese Generation der heute fast Fünfzigjährigen ist, die spricht und versucht, dieses Schweigen zu füllen. Dabei stellt sich für mich die Frage: Wie nah kommt diese Generation der Wahrheit?

    Birgit Bauer, Im Federhaus der Zeit
    DVA, 383 S., 22,90