Freitag, 29. März 2024

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Der Kuß der Koi

Wenn Sie fragen würden, was mich dazu bewogen hat, vier schon relativ späte Lebensjahre in dieses Buch zu investieren, würde ich Ihnen nicht nur sagen, Schuld waren die Fische; auch nicht nur, Schuld war das Zusammenleben mit diesen Fischen – die Jahre, seit ich mit diesen Fischen zusammenlebe, waren zwar Jahre des Staunens, der Ver- und Bewunderung und des zwangsläufigen Nachdenkens über unsere eigene Kreatürlichkeit und über unseren Gattungshochmut. Es waren Jahre, soweit sie Teichzeit waren, voller bezaubernder melancholischer Augenblicke:

Lerke von Saalfeld | 02.05.2003
    Das Weiß des weißen Koi – ein makelloses spiegelndes Schneeköniginnenweiß! Ein Weiß, das weiß-trunken macht und farbensüchtig zugleich. Schwimmt ein Rot vorüber, überzieht den Fisch ein Blütenschimmer, als sei er ein rosablühender Bauernrosenstrauch, und dem Gelb im Schwarm wirft er Hunderte winziger Zitronenechos zu.

    Das Marienkäferrot des Koi mit dem schwarzen Punkt auf der Oberlippe – kein Rot des Sommers könnte es an Pracht überbieten! Der schwarze Punkt erinnert an das ‚Ja-nein, Ja-nein‘ der Kinder, die abzählen, ob der Marienkäfer ihnen Glück bringt, und die, wenn ein ‚Nein‘ herauskommt, in umgekehrter Reihenfolge von vorn beginnen. Mir genügt der eine Punkt, denn ich beginne mit ‚Ja‘.

    Allein die Freude, die mir die Arbeit an diesem Buch gemacht hat, wäre Impuls genug gewesen, das Buch zu schreiben und die Fische zu fotografieren. Aber, und darauf will ich hinaus, vor allem hatte ich die Chance gesehen, einmal etwas zu machen, das etwas Schönem gilt. Ich sage nicht, daß ich etwas Schönes gemacht habe, sondern das etwas Schönem gilt. Und da dies überhaupt nicht in unsere Zeit paßt, reizte micht diese Möglichkeit doppelt. Wir könnten ohne das Schöne nicht leben. Das Schöne zu bewahren und zu mehren ist ebenso progressiv wie das Ozonloch zu schließen. Das war der eigentliche Grund, daß ich dieses Buch geschrieben und fotografiert habe.


    Reiner Kunze ist verzaubert vom "Kuß der Koi". Ernst Jünger vertiefte sich mit Hingabe in die Welt der Insekten, Wladimir Nabokov hat den Leser mit Schmetterlingen vertraut gemacht; Reiner Kunze entdeckt fotografierend und schreibend das Leben der Koi, jener farbenprächtigen japanischen Wildkarpfen, die inzwischen auch in Deutschland eine große Gemeinde von Verehrern gefunden haben. Aber der Lyriker betont, mit der allerorten ausgebrochenen Koi-Mode habe er nichts am Hut, Poesie entfaltet sich nach anderen Gesetzen:

    Poesie kennt keine Mode. Dort wo sie Mode anlegt, ist es keine Poesie mehr oder hat sie nicht die Substanz, die man von Poesie erwartet. Wenn Sie sich mit der Welt so auseinandersetzen, wie sich eben jemand auseinandersetzt, dem Einfälle kommen, aus denen Gedichte werden, aus denen gar nichts anderes entstehen kann als Gedichte, dann spielt es überhaupt keine Rolle, wo Sie leben, wo Sie schreiben. Eine Rolle spielt, daß, wenn Sie in einem Land schreiben, in dem Ihnen auch die Welt offensteht, Sie einen völlig anderen Horizont bekommen.

    In großformatigen brillanten Bildern und begleitenden Prosa-Texten erzählt Kunze von seiner Leidenschaft. Auf einer Wiese, nicht am Haus, sondern mitten in der Natur, hat der Schriftsteller einen Mostapfelbaum ausgehoben und in dem entstandenen Loch von anderthalb Metern Tiefe - dem "Urloch", wie Kunze es nennt -, entstand der Teich. Am Rand des Wassers stehend hat er seine Fische mit dem Auge und mit der Kamera beobachtet und ihnen abgelauscht, was sie bewegt – er hat aber auch entdeckt, was ihn bewegt beim Anblick der Majestät der Fische:

    Ich kann mich an den Tieren nicht satt sehen, das sind wunderschöne Wesen. Da ist der Natur in Gemeinschaft mit den Menschen wirklich was ganz Außerordentliches gelungen. Es gibt Exemplare, die könnten von Miró oder sonst jemand gezeichnet sein, von den ganz großen modernen Künstlern. Abgesehen davon hängen wir aneinander.

    Einwurf: Es gibt ja auch Bilder, wo Sie den Finger reinhalten, und die Fische Ihren Finger küssen.Ja, sie kommen, das Vertrauen ist da. Es geht darum, daß die Tiere Sie erkennen. Sie haben auch einen unterschiedlichen Intellekt, unterschiedliche geistige Fähigkeiten. Nicht jedes Tier ist wie das Andere, aber auch da muß ist etwas sagen: Es geht nicht nur darum, daß man sich etwas Schönes bewahrt, es geht auch um Erkenntnis, was für Wesen wir sind, wie die Fische mit den Menschen verwandt sind, und wie der Mensch mit den Tieren verwandt ist. Hätte mir jemand gesagt, diese Fische haben kein Innenleben, sie sind bar jeder Intelligenz, hätte ich ihm nicht geglaubt.

    Die Fische führen den beobachtenden Poeten in ihre Welt ein und lassen ihn spüren, die Weisheit der Menschen ist begrenzt. Vor allem aber beschreibt er die Farbenpracht der Tiere, - das königliche Weiß, das metallisch glänzende Rotorange, das tiefe Schwarz, das leuchtende Gelb – das Farbspiel ihrer Körpermuster fasziniert ihn ebenso wie ihr Verhalten:

    Die Koidame mit dem mondänen schwarzen Blitz im Tüllschleier vor den Augen scheint einer Boutique von Dior entschwommen zu sein. Ihr Kleid ist von exklusiver Eleganz. Ich nenne sie die Pariserin. Leider benimmt sie sich ein wenig herrisch. Ist einer schneller an der angepeilten Futterperle als sie, schwimmt sie ihm, allen Koi Verhaltensregeln zum Trotz, energisch nach, um sich in einer Kehrtwendung vor ihm zu positionieren und ihr extrem breites Lippenpaar in schnatternde Bewegung zu versetzen. Meist ignoriert man sie, doch einmal fuhr ihr einer im gleichen Lippenrhythmus übers Maul.

    Kunze beschreibt zunächst in schlichtem Ton seine Erlebnisse und Erfahrungen. Die Koi bedürfen keiner Überhöhung mehr, die Fotos verbreiten schon Glanz genug. Die Koi wecken aber auch Erinnerungen, an den Vater, an die Mutter; ihre so sehr verschiedenen Temperamente findet er auch unter den Fischen wieder. Literarisch fühlt sich der Dichter erinnert an den spanischen Poeten Juan Ramón Jiménez, der seinem Esel Platero zu literarischem Ruhm verhalf und ihn zum liebsten Alltagsfreund machte. Friedrich Hölderlin wird ebenso zum Zeugen der Leidenschaft wie Friedrich Nietzsche. Und wären die Koi Musik, dann wären sie laut Kunze von Mozart. Und deshalb hat er auch ein KV angelegt, nicht Köchelverzeichnis, sondern ein Koiverzeichnis, in dem er achtzehn Prachtexemplare samt ihrer japanischen Namen vorstellt.

    Die Fische bewegen sich nach eigenen Gesetzen; der Mensch könnte etwas von ihnen lernen: die Friedfertigkeit :

    Nie sah ich einen Koi einen Koi angreifen, nie einen Koi vor einem Koi fliehen. Jede Art Regung, die als feindselig empfunden werden könnte, scheint eurem Wesen fremd zu sein..... Euer Dasein ist ein ruhiges Aufeinanderzu und Aneinandervorüber, ein Unter und Über, Hin und Her von Farben und wohlgenährten Leibern, und wenn ihr flieht, flieht ihr zueinander.