Donnerstag, 25. April 2024

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Der lange Marsch

Der Fall ist außergewöhnlich, wenn nicht gar sensationell zu nennen: ein Roman, der Anfang der dreißiger Jahre geschrieben wurde, nicht erscheinen durfte, sondern eingestampft wurde, von dem aber wenige Exemplare der Vernichtung entgingen, unter vertrauenswürdigen Personen kursierte, um den es ein Geraune gab und höchstes Lob. Ein russischer Roman, der 1999 endlich in Russland verlegt wurde und jetzt, im Jahr des Russland-Schwerpunktes der Frankfurter Buchmesse, auch zu uns. Ein Roman von den Dimensionen, die wir von Dostojewski und Tolstoi kennen, ein Roman von meisterlichen Qualitäten, der in der russischen Literaturgeschichte die Lücke schließt zwischen diesen beiden und, sagen wir, Pasternaks "Doktor Schiwago", ein Roman, den Pasternak selbst gerühmt hat als den besten Roman über die russische Revolution: Dieser Roman ist "Wiktor Wawitsch" von Boris Schitkow.

Martin Ebel | 12.10.2003
    Der Name des Autors ist auch Spezialisten bisher unbekannt gewesen, was sich jetzt ändern dürfte. Der studierte Chemiker reiste als Seemann um die Welt, schlug sich nach dem Sieg der Bolschewisten als Kinderbuchautor durch, und zwar recht erfolgreich: auch viele Kinder in der DDR sind mit seinen Seefahrer- und Tiergeschichten aufgewachsen. Aber sein ganzer Ehrgeiz galt diesem einen monumentalen Roman, dem "Wiktor Wawitsch". Kurz nach der Vollendung ist er 1938 an Lungenkrebs gestorben. "Wiktor Wawitsch" ist eine Entdeckung, unter all den russischen Romanen, die in diesem Herbst erscheinen, einer der bedeutendsten und sicher der mit der ungewöhnlichsten Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte.

    Wiktor Wawitsch war ein weiches Kind, das am liebsten träumte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt.

    So hätte, wenn Heinrich Mann Russe gewesen wäre, dieser Roman anfangen können. Denn Boris Schitkow hat tatsächlich so etwas wie den russischen "Untertan" geschrieben, und wie das Werk seines berühmten deutschen Kollegen spielt sein Roman in einem Kaiserreich und vor dem Krieg, der mit der alten Ordnung, mit allen Ancien régimes in Europa, ein Ende machte. Die russische Revolution, die Pasternak meint und die hier geschildert wird, ist auch nicht die von 1917, weder die Februar- noch die Oktoberrevolution, sondern eine frühere, von der viele von uns gar nicht wissen, dass es sie überhaupt gegeben hat. Sie begann 1905 mit Streiks und Unruhen, führte zu Barrikadenkämpfen in verschiedenen Städten des riesigen Reiches, das gerade einen Krieg gegen Japan führte und verlor; Zar Nikolaus II machte Zugeständnisse, versprach bürgerliche Freiheiten, ja eine Verfassung; die Duma, ein Parlament, trat zusammen, diese Verfassung auszuarbeiten; aber dem Zaren gefiel nicht, was die Mitglieder vorlegten, er löste sie zweimal auf, schlug auch gleichzeitig ausbrechende Arbeiteraufstände nieder, kurz: die Revolution verlief schließlich im Sande. Sie war aber ein wichtiger Vorläufer für das, was 1917 passieren sollte, für alle Beteiligten eine Art unfreiwilliger Generalprobe.

    Boris Schitkow schildert das Ausbrechen dieser Revolution, das Nachgeben
    der Führung, die Reaktion der Reaktionäre und den zur Ablenkung der Massen gegen die Juden inszenierten Pogrom in einer Provinzstadt, die nur mit dem Buchstaben N. bezeichnet ist. Diese Stadt N. ist seit Gogol eine feste Grösse in der russischen Literatur, es könnte aber auch das Kürzel seiner Geburtsstadt Nowgorod sein.

    Schitkow schrieb den Roman von 1928 bis 1934; in einer Phase, als Stalin alle wirklichen und potenziellen Konkurrenten ausschaltete, seine absolute Herrschaft sicherte und die erste Terrorwelle anlief, die die Bewohner der Sowjetunion in eine Hölle des Denunziantentums und der Todesangst verwandeln sollte. Dies erklärt, warum der Autor sich in eine entlegene Vergangenheit zurückzog, aber noch nicht, warum die Zensur, und zwar in Gestalt Alexander Fadejews, des Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes, Anstoß an dem Manuskript nahm und sich weigerte, die schon gedruckte Auflage ausliefern zu lassen.

    Die Antwort ist ganz einfach: Fadejew hatte begriffen, was Schitkow wollte, was er meinte, wenn er von der zaristischen Geheimpolizei schrieb, von willkürlichen Verhaftungen, psychischer und physischer Folter. Er hatte begriffen, dass jeder Leser, der Augen im Kopf und seine Gedanken beisammen hatte, hinter der historischen Maske die grässliche Fratze der stalinistischen Gegenwart erkennen konnte. Deshalb musste der Roman eingestampft werden, "nicht von Nutzen in unseren Tagen", wie Fadejew kommentierte. Aus demselben Grund - weil er nämlich wie jeder gute historische Roman auch die Gegenwart meint, wenn er von der Vergangenheit spricht -, aus diesem Grund ist der "Wiktor Wawitsch" für heutige Leser von Interesse.

    Ein weiteres wird Fadejew nicht entgangen sein. Boris Schitkow schildert die Gesellschaft einer russischen Provinzstadt, einer untergehenden Gesellschaft, wie man weiß. Er erlaubt sich einige prophetische Bemerkungen, die er verschiedenen seiner Gestalten in den Mund legt. Dabei geht es immer um den Anspruch des Sozialismus, eine bessere Welt zu schaffen, ein Anspruch, der durch die Realität, die Schitkow aushalten musste, grausam Lügen gestraft wurde. Da sitzt etwa die Familie Tiktin am Abendbrotstisch und diskutiert. Es ist eine bürgerliche Familie, der Vater ist Bankdirektor und Abgeordneter des Stadtrats, der Sohn Sanka ein Student, der noch nicht weiss, was er mit seinem Leben anfangen soll, die Tochter Nadja eine glühende Anhängerin einer klassenlosen, paradiesischen Zukunft, eine idealistische Sozialistin also. Sanka provoziert sie im Tone freundlich-geschwisterlichen Streits mit folgender Bemerkung:

    Ich sage dir, man bräuchte euch nur alle auf einer Robinson-Insel anzusiedeln - das erste, was ihr bauen würdet, wäre eine Polizeiwache. Ja, ja, und obendrein pflanzt ihr noch eine rote Fahne.

    Ein anderer Vertreter jenes liberalen Bürgertums, das unter dem Zaren zwar leidet, aber auch floriert, das die in den Köpfen der eigenen Kinder erblühende neue Ordnung aber bereits skeptisch durchschaut, ist der Anwalt Rschewski. Er erzählt Tanja und Sanka Tiktin von der Hinrichtung eines politischen Häftlings, der er beiwohnen musste, und vergleicht ihn mit einem Gladiator, dessen Kampf gegen das übermächtige System sinnlos sei. Dann aber lässt er seine Phantasie spielen:

    Rschewski redete plötzlich laut, baute sich vor Sanka auf, die Beine kräftig breitgestellt. "Und was meinen Sie, angenommen, es erschiene ein Spartakus, Würde meinetwegen sogar siegen. Dann würden doch gleich am nächsten Tag", - Rschewski beugte sich zu Sanka vor - "gleich morgen würden diese Gladiatoren im Zirkus auf den Bänken sitzen und zuschauen, wie die wilden Tiere die Herren Senatoren zerreissen. Ich versichere es Ihnen. Nein, sagen Sie? Sie wären die allertreusten Nachfolger der jetzigen Ordnung. Ich verbürge mich dafür!

    Jeder Leser des Jahres 1934, oder gar 1941, als Fadejew sein vernichtendes Urteil schrieb, jeder unter dem stalinistischen Terror ächzende Sowjetbürger hätte Boris Schitkow hier zugestimmt. Schon deshalb durfte dieser Roman nicht erscheinen. Und deshalb, neben vielen anderen guten Gründen, ist dieser alte Text über eine noch ältere Zeit für heutige Leser von einiger Anziehungs- und Faszinationskraft. Entscheidend sind aber natürlich ästhetische Gründe, wobei auch dieser in Zeiten gelenkter Literatur nicht von der Politik zu trennen sind.
    Was Fadejew, der nun wirklich zum letzten Mal genannt sei, was Fadejew auch missfiel, war die Art und Weise, wie Schitkow der zaristischen Gesellschaft Gerechtigkeit widerfahren lässt. Gerechtigkeit in der Literatur heisst aber: Er lässt sie alle leben, vom General bis zum Proleten, die Klein- und die Bildungsbürger, es sind keine Pappkameraden aus dem Lehrbuch des sozialistischen Realismus ausgeschnitten, sondern Individuen mit ihren Eigenheiten und Widersprüchen, die in kein Schema passen.

    Schitkow verhehlt nicht, dass die alte Ordnung dem Untergang geweiht ist, aber er lässt eben deren Vielfalt, Differenziertheit und Kultiviertheit in allen Farben leuchten.

    Kein Autor, der im Sowjetsystem veröffentlichen wollte, kam um eine ausführliche Darstellung der Arbeiterschaft herum. Das war auch Schitkow klar. Bei ihm kommen etliche Arbeiter vor, mit ganz unterschiedlichen Fähigkeiten, Charakteren und Interessen. Er nimmt sie wirklich ernst - und beschönigt deshalb auch nichts. Zum Beispiel der Dreher Filipp. Der ist Mitglied einer revolutionären Gruppe, vor allem aber ein Mann, der auf seine Arbeit stolz ist und Anerkennung sucht.

    Filipp Wassiljew war Dreher. Kein schlechter Dreher - dreieinhalb Rubel gaben sie einem nicht für umsonst. Der Meister sagte über ihn: "Ist zwar noch jung, hat aber großes Interesse an der Arbeit." Wassiljew wusste, dass der Meister ihn lobte, und er wollte es selbst hören, wollte unbedingt, dass der Meister ihm, Wassiljew, ins Gesicht sagte, er sei der beste Dreher der Fabrik.
    Der Meister war ein schnauzbärtiger, finsterer, schwergewichtiger Mann mit großer Familie. Wortkarg. Ging durch die Werkstatt, die Hände auf dem Rücken, kaute an den Lippen und hatte seine Augen überall. Mit dem Rücken spürten die Arbeiter seine Blicke, sie sahen sich gar nicht um, beugten sich nur noch tiefer über ihre Arbeit. Lieferte ein Arbeiter ein Werkstück ab, umfing Ignatytsch es mit einem Blick, als ob er es mit der Hand abtastete, schaute den Arbeiter aber nicht an, kaute auf den Lippen und knurrte nur: "Na schön". Der Arbeiter holte tief Luft. Falls er aber den Arbeiter anschaute, dann so, dass der sich kaum auf den Beinen hielt, als ob der Meister durch die ganze Fabrik gebrüllt hätte: "Ein Dummkopf bist du, ein Rindvieh!" Und der Arbeiter packte das Werkstück, bloß fort damit und selber aus dem Blickfeld verschwunden. Eben diesem Ignatytsch nun wollte Wassiljew ein Lob abpressen.


    Das geht natürlich gründlich schief, und wie es schief geht, ist nicht ohne Komik. Jedenfalls glaubt der Meister, Filipp wolle eine Lohnerhöhung herausschlagen, und lässt ihn brüsk abfahren. Filipp bleibt mit dem Gefühl der Demütigung zurück, aus der Demütigung wird in dem kleinen Chemielabor, das wir alle in uns tragen, wilder Hass auf Ignatytsch und, zum politischen Argument rationalisiert : Hass auf alle Meister. Als er mit Nadja, jener idealistischen Bürgerstochter, die in seiner Gruppe politische Aufklärungsvorträge halten soll, die Themen bespricht, versucht er sie mühsam von den indirekten Steuern, worüber sie eigentlich sprechen soll, umzulenken auf das, was ihn wirklich interessiert:

    Das mit den Steuern, das muss natürlich erklärt werden, was da für Finten dahinterstecken. Bloss, Genossin, das ist was für solche, die schon was wissen. Die heute abend brauchen was Leichteres, was näher liegt, was sie betrifft. Sagen wir, über diejenigen, die sie führen, das heisst, uns führen, die Arbeiter." - "Über die Rolle der liberalen Intelligenz?" fragte Nadja, immer noch schwer atmend. - "Aber nein!" sagte FIlipp verärgert. "Das begreifen sie auch nicht. Wenigstens mal was über die Meister. Wissen sie? Da gibt es solche Dreckskerle, Sie entschuldigen schon. Die sind für den arbeitenden Menschen wahre Blutsauger. Schlimmer geht's nicht. Da wird einem so eine Vogelscheuche vor die Nase gesetzt, kriegt fuffzig Rubel mehr, und schon spaziert er mit Stielaugen durch die Werkstatt. Kaum ist was, kriegst du entweder was abgezogen oder gleich einen Fusstritt, und aus der Traum. Frisst sich dick und rund wie eine Spinne.

    Nadja kann mit diesen Invektiven natürlich nichts anfangen, und so versucht es Filipp bei der Versammlung selbst, die Meister als das Grundübel des Systems darzustellen. Ein alter Arbeiter hält ihm trocken entgegen:

    Ich sage dir, lass das, Filipp. Würden sie dich als Meister hinstellen, wärst du ein Einpeitscher schlimmer als Ignatytsch. Ganz unbedingt.

    Die Arbeiterklasse, diese Ikone des sozialistischen Realismus, erscheint bei Schitkow individualisiert und in der politischen Aktion als zutiefst in sich zerstrittener Haufen. So kommt der Streik der
    Kesselschmiede, der den Aufstand in der Stadt N. auslöst, spontan und
    gegen den Willen der organisierten Sozialdemokraten - wie die späteren Bolschewisten damals noch hießen - zustande. Aus strategischen Gründen, weil sie nämlich ihre Kräfte erst sammeln, dann bündeln und schließlich zum richtigen Zeitpunkt explodieren lassen wollen, sind die "progressiven" Sozialdemokraten gegen den Streik, und überhaupt halten sie die Kesselschmiede für ein dummes, primitives Volk. Statt Klassenbewusstsein hier also gegenseitige Verachtung und Neid. Das idealisierte Arbeiterbild findet sich bei Schitkow auch, aber nur in ironischer Spiegelung. Es findet sich nämlich im Kopf der Bankierstochter Nadja, jener, die die Vorträge über indirekte Steuern halten will.

    Nadja hatte früher, wenn sie das Wort "Arbeiter" aussprach, nach diesem Wort stets eine leichte Pause eingelegt, ein Atemholen sozusagen. Nach allen Gesprächen und Büchern stellte sie sich Arbeiter wie die auf den Basreliefs deutscher Künstler vor - mit klugen, gesammelten, angespannten Gesichtern, alle nackt bis zum Gürtel, mit Schubkarren. Oder mit Vorschlaghammer über der Schulter und stolzer Haltung, das Gesicht ausländisch. Sie wäre nie auf den Gedanken gekommen, jene Klempner, die in der Küche die Wasserrohre reparierten, seien Arbeiter. Und hätte ihr das jemand gesagt, hätte sie gedacht: "Ja, aber keine echten.

    In Filipp trifft sie nun auf einen echten Arbeiter, der sie kurzerhand zu seiner Geliebten macht und dann herumscheucht und herumschubst. Hat sie auch Bildung und Kultur - in diesem Verhältnis ist er der Herr. Und Boris Schitkow gibt mit Nadjas romantischen Jungmädchenträumen die ganze einschlägige Sowjetpropaganda der Lächerlichkeit preis.

    Was ist nun aber mit Wiktor Wawitsch, dem Titelhelden des Romans? Er ist kein Held im klassischen, sondern im modernen Sinne, eine dubiose Gestalt, die, wie es Rolf Vollmann in seinem Vorwort sehr schön ausdrückt, froh sein darf, überhaupt einen so langen Roman durchhalten zu dürfen. Wiktor Wawitsch ist von beschränktem Verstand; seine Familie, seine Vorgesetzten und selbst seine Geliebte nennen ihn ohne Umschweife einen Dummkopf. Wenig fehlte, dass er sich selbst so nennt, denn was andere denken, ist ihm äußerst wichtig. Das Gefühl eigener Minderwertigkeit nährt einen beständig brodelnden Groll, der in dem Moment sein Ventil findet, als Wiktor in den Polizeidienst eintritt. Das ist im Russland jener Jahre offenbar eine fast ehrenrührige Entscheidung, denn die zaristische Polizei steht auf der sozialen Stufenleiter recht weit unten. Aber eines hat sie: Macht über andere, und je unruhiger die Zeiten sind, desto mehr Macht bekommt sie.

    Die Unruhen in der Stadt N., die Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch die streikenden und demonstrierenden Arbeiter: Das ist Wiktors Chance. Er ist jetzt nicht mehr der dumme Schutzmann, sondern der Vertreter, der Repräsentant, ja die Inkarnation dieser Ordnung. In der Krise machen seine Befugnisse nicht einmal vor den heiligen Standesgrenzen halt. Wiktor darf verhaften, wen er will, er darf die Verhafteten anbrüllen und prügeln. Er veranstaltet im Haus des Bankdirektors Tiktin, das er unter normalen Umständen niemals betreten hätte, eine Durchsuchung. Besonders auf das Zimmer Nadjas hat er es abgesehen.

    Wawitsch wollte die ganze Jungmädchenordnung des Zimmers schnellstens durcheinander werfen, damit schnellstens ein Niemandschaos entstünde, und so riss er ohne Notwendigkeit die Überzüge von den Kissen, lüpfte die Bilder und ließ sie danach schief hängen. Er zerrte Bücher aus dem Regal, schüttelte die Seiten aus und stapelte alles unordentlich auf dem Boden. Er sah sich flüchtig in dem alten Trumeau und war zufrieden: eine tätige, befehlsgewohnte Gestalt. Und Wiktor strengte sich an, den Anblick zu rechtfertigen, er riss die Schubladen ganz aus dem Schreibtisch.

    Der Blick in den Spiegel ist symptomatisch und symbolisch: Wiktor konstituiert sich nur durch das, was andere in ihm sehen, sehen könnten, sehen sollen. Der Spiegel ist Stellvertreter der Außenwelt. Nur der kontrollierende Blick erlaubt ihm, sich seiner Rolle gemäß zu verhalten. Zu dem Wawitsch, der seine Umgebung schurigeln kann, macht ihn jener Moment, als er zum ersten Mal die Uniform anzieht - natürlich vor einem Spiegel, und wie Schitkow das inszeniert, als eine wirkliche Verwandlung, ist schlichtweg
    großartig:

    Einen Tag vor dem Termin war die Uniform fertig. In Papier, in Zeitungen eingeschlagen, brachte Wiktor sie zu sich aufs Zimmer; es war schon nach Mitternacht. Er war voller Hast, mürrisch, und seine Beine zappelten vor Erregung, als er sie in die neuen Hosen steckte. Er knöpfte die Beerdigungs-Achselklappen an, die Silbertressen längsseits des schwarzen
    Felds; der Casaquin sass angenehm in der Taille, das munterte auf. Aber es graute Wiktor, in den blinden Spiegel an der Schranktür zu blicken. Aus den Augenwinkeln hatte er schon bemerkt, dass sich jemand Fremdes im Spiegel tummelte. Mit dem Rücken zum Spiegel führte er, um nicht hineinzuschauen, das Säbelkoppel unter der Achselklappe durch. Fremd pochten die Schritte in den neuen Kanonenstiefeln. Aus der Schachtel nahm Wiktor die neue Mütze mit der Beamtenkokarde und dem Silberplättchen, dem Wappen der Stadt. Jetzt war er bereit. Es war nächtlich still. Die dünne Kerze gab wenig Licht. Wiktor beschloss, sich erst den Schatten anzuschauen - er spürte, wie dessen riesiger Fleck sich hinter seinem Rücken über die schmutzige Tapete bewegte. Er wandte sich entschlossen um und schaute. Ein fremder Schatten, nicht sein eigener, lag auf der Wand, als wäre jemand Fremdes, Unbekanntes im Zimmer. Wiktor graute es, aber dann schritt er auf den Schatten zu, um ihn zu verkleinern, um klarer zu sehen. Unbekannte Schritte knarrten über den Boden, und im Gehen sah Wiktor, wie durch den Spiegel im Schrank ein Revieraufseher schritt - er war es, der da mit den Stiefeln knarrte.


    Wiktor riss sich vom Spiegel los, lief rasch zum Bett zurück, zog hastig alles aus, und in Unterwäsche, die Kerze in der Hand, trat er zum Schrank. Er schaute lange in sein bleiches Gesicht, das schwarze Schnurrbärtchen zuckte leicht. "Witja... Witja", sagte Wiktor zu seinem Spiegelbild. Im Flur schlug eine Tür, jemand schlurfte in Stiefeln das Flurende entlang. Wiktor machte ein ernstes Gesicht und betrachtete eingehend einen Pickel am Kinn. "Herr Wawitsch", sagte Wawitsch mit fester Stimme.

    Und um die Verwandlung zu besiegeln, steigt Wiktor am nächsten Morgen in seiner neuen Polizeiuniform die Treppe seiner Pension herab und macht den Portier, der ihn bisher herablassend behandelt hat, zur Schnecke.
    Die Zeit der Unruhe und Auflösung ist ein Paradies für Untertanen und Emporkömmlinge wie Wiktor. Aber er ist zu dumm, zu ungeschickt und zu unsicher, um dauerhaften Vorteil daraus zu ziehen. Er tritt in zu viele Fettnäpfchen, verdirbt es sich mit zu vielen wichtigen Leuten und gerät, als er Sanka Tiktin verhaftet, den Bankdirektorssohn und Beteiligten an einem "revolutionären" Eisenbahnüberfall, schließlich zwischen einander bekämpfende Fraktionen der Sicherheitsbehörden.

    In Stalins Reich, in dem der Autor schrieb, würde Wawitsch in irgendeinem Folterkeller weiter Verwendung finden - oder sein Ende: Das war diesem System völlig gleich. In der zaristischen Endzeit, die Schitkow schildert, verliert Wawitsch auf dramatische Weise sein Leben. Sanka Tiktin dagegen, an dessen Schicksal am Schluss des Romans fast alle Hauptpersonen mitziehen, kommt noch einmal davon. Dieser Schluss ist ein dramatisches Crescenco, da bündelt der Autor seine Kräfte noch einmal zu einem packenden Finale. Vorher sind diese Kräfte über Hunderte von Seiten hin- und hergewogt, wie die demonstrierenden Arbeiter, die von berittenen Kosaken mit nagelbesetzten Peitschen vor sich hergetrieben werden; wie die vor dem Feuer und dem Pöbel fliehenden Juden, die Opfer eines schrecklichen Pogroms werden, wie die zusammengeknüppelten Passanten, wie die über die Strassen flutenden Studenten, Arbeiter, Kaufleute, Kleinbürger.

    Schitkow ist ein souveräner Erzähler, ein Meister der poetischen Beschreibung, dem die Metaphern und Vergleiche nur so zufliegen:

    Wie auf Zehenspitzen schlich die Zeit

    und der nicht nur die Menschen, sondern auch die Dinge zum Leben
    erweckt:

    Magisch glänzte der polierte Flügel in der Ecke, und der Tisch stemmte stolz und hochmütig jede seiner vier verzierten Pfoten gegen den Boden.

    Boris Schitkow, der in Rosemarie Tietze eine sorgfältige und inspirierte Übersetzerin gefunden hat, ist auch ein Meister der knappen Skizze und des treffenden Details. Er beherrscht die Kunst, seine Personen wie seine Leser in ständiger Unruhe zu halten. Unentwegt wird geklingelt, treten Besucher auf und wieder ab, werden Nachrichten verbreitet, dementiert und überholt, Streitereien und hysterische Aus- und Zusammenbrüche sind an der Tagesordnung.

    Schließlich löst sich hier eine Gesellschaft auf. In diesem Roman verbinden sich die epische Temperatur des 19. mit dem Tempo, der Nervosität, auch der Härte des 20. Jahrhunderts. Der belesene Mitteleuropäer wird bei vielen sich in nichts auflösenden Dialogen an Tschechow, bei den Herzensergiessungen und Selbstquälereien an Dostojewski denken, nur versetzt in das grelle Licht des 20. Jahrhunderts. Ganz zu diesem Jahrhundert gehört eine der bemerkenswertesten Gestalten des Romans: der Aussenseiter Baschkin, der in die Fänge der Geheimpolizei gerät, nach grausamen Misshandlungen zu Spitzeldiensten gepresst wird, moralisch daran zerbricht und das, was er noch gar nicht angerichtet hat, mit einem kühnen Selbstmordattentat sühnt.

    In den langen Kapiteln seiner Einzelhaft, der Verhöre, der ihm zugefügten körperlichen und seelischen Qualen, erscheint er als eine emblematische Figur des totalitären Zeitalters, das ja keineswegs endgültig überwundne ist: der politische Häftling. Mit dieser Figur, mit diesem Strang seiner Geschichte ist Boris Schitkow ganz in seiner eigenen Gegenwart angekommen. Er zieht am Anfang dieses grauenvollen Jahrhunderts einen Vorhang hoch und zeigt, was da kommen würde. Der stalinistische Zensor begriff sofort: Das durfte niemand lesen. Zum Glück können wir alle, die es wollen, es jetzt lesen.