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Der lange Weg nach Westen

Zimmermann: " Jezz kummt des Lied. "Man hat nur einmal im Jahr Geburtstag" heißt es. Das wird also - des is ein Nationalschlager. Ne typisch russische Melodie. "

Von Siggi Seuß | 26.11.2005
    Die Schlussmelodie eines russischen Puppentrickfilms aus den 70-er Jahren, dessen Helden in Russland so bekannt sind wie bei uns Jim Knopf und die Wilde Dreizehn: "Krokodil Gena und seine Freunde" - eine Geschichte des beliebten russischen Kinderbuchautors Eduard Uspenski, der 2004 von seinem Land für den Hans-Christian-Andersen-Preis nominiert wurde.

    Einer von Genas Freunden hat es sogar zu höheren Ehren gebracht: das hand- und fußlose Plüschtier Tscheburaschka. Es wurde Maskottchen des russischen Olympiateams. Und international?

    Zimmermann: Man muss dazu sagen: Das Krokodil Gena ist in Japan ein Riesenerfolg. Die müssen ein paar Millionen Bücher schon verkauft hamm. Und es gibt eine ganze riesige Fernsehserie, die mit dem nix zu tun hat. Der Tscheburaschka hat Schlitzaugen.

    Bei uns kann man das Krokodil und seine Freunde seit diesem Jahr in etwas bescheideneren Verhältnissen kennenlernen: in einer Buchausgabe des leiv-Verlags, übersetzt von Hans Zimmermann, den wir gleich näher kennenlernen werden und der uns hier synchron vom Bildschirm erklärt, was Krokodil und Co. so treiben. Hans Zimmermann hat noch eine zweite, ebenfalls verfilmte, Geschichte von Eduard Uspenski übersetzt: "Väterchen Fjodor, der Kater & der Hund" - seine Lieblingsgeschichte. Auch sie erschien vor kurzem bei leiv.

    Zimmermann: " Meine lieben Eltern, ich liebe euch, aber Tiere lieb ich auch und diesen Kater auch ... deswegen fahr ich weg. ... Euer Sohn und Kater ... "

    Meine lieben Eltern, Papa und Mama! Ich liebe euch sehr. Aber Tiere liebe ich auch, besonders diesen Kater. Aber ihr erlaubt nicht, dass er bei uns wohnt. Ihr wollt ihn aus dem Haus jagen. Das ist nicht richtig. ...

    ... Mit diesem Brief an seine Eltern beginnt das abenteuerliche Leben des kleinen Fjodor ...

    ... Ich fahre aufs Land und werde dort leben. Ihr braucht euch wegen mir keine Sorgen machen. Es wird mir kein Leid geschehen. Ich kann für mich selbst sorgen und werde euch einen Brief schreiben. In die Schule gehe ich allerdings erst nächstes Jahr wieder.
    Auf Wiedersehen,
    euer Sohn - Väterchen Fjodor.


    Paxmann: " Die Nostalgie reicht ja so weit, dass ein Wladimir Kaminer auf seiner Russendisko-Tour im Hintergrund immer "Krokodil Gena" und "Väterchen Fjodor" als Zeichentrickfilm zeigt. "

    ... sagt Verlegerin Christine Paxmann vom leiv-Verlag, der sich auf osteuropäische Kinder- und Jugendliteratur spezialisiert hat. - Man könnte sentimental werden und sich fragen: "Ach ja, die russische Kinderliteratur, wohin ist sie entschwunden?" Und dann könnte man im Bücherregal kramen und fände einige wunderschöne Geschichten russischer Autoren und Illustratoren, die man damals von der Oma aus der DDR geschenkt bekam. Wie ging einem das Herz auf bei Samuil Marschaks Bildergeschichte "Das Katzenhaus"!

    Tili bom! - Denkt euch ein Haus,
    wie ein Prunkschloss sieht es aus,
    Tor und Fenstersims und Giebel
    fein geschnitzt, bemalt, nicht übel!


    Ja, damals in der DDR, da gab es viele Kinderbücher aus Russland. Im Westen dagegen beschränkte sich das Angebot auf Märchen und schöne Bilderbuchausgaben von Geschichten russischer Klassiker, Puschkin, Tolstoi, Gogol, Tschechow. Und deshalb ist es nicht verwunderlich, dass es heute ein eklatantes Ost-West-Gefälle in der Lesersympathie für Literatur aus osteuropäischen Staaten gibt, jedenfalls bei Erwachsenen.

    Paxmann: " Wir haben ja einen schönen Spruch bei leiv: "Kinderbücher sind die Erinnerungen der Zukunft" - das ist es, was man mit den Dingen, mit denen man aufgewachsen ist, die wird man sehr, sehr lange transportieren, auch in die nächste und übernächste Generation, weil die Großmütter kaufen, die Großväter kaufen, die Mütter und die Väter kaufen ganz, ganz lange für ihre Kinder ein. Und das trägt über 40, 50 Jahre. "

    Die bei leiv wiederaufgelegten Bücher, die schon zu DDR-Zeiten Renner waren, boomen auch heute - im Osten Deutschlands. Darunter sind einige fragwürdige Heldenepen und Komsomolzendramen, wie Nikolai Ostrowskis Oktoberrevolutions-Roman "Wie der Stahl gehärtet wurde" oder Arkadi Gaidars "Timur und sein Trupp". Vor allem aber erleben Kinderbuchklassiker eine Renaissance, die über politische Zweifel erhaben sind: Die "Lustigen Geschichten" von Wladimir Sutejew, die Fantasyromane von Alexander Wolkow und nicht zu vergessen: der tschechische Maulwurf von Zdenek Miler, der bei uns zu einem Liebling der "Sendung mit der Maus" avancierte. Verleger Steffen Lehmann, der Osteuropa-Experte bei leiv:

    Lehmann: Sutejew, Sutejew und noch mal Sutejew. Die lustigen Geschichten - ist der Topseller des leiv-Verlages. Der ist mittlerweile - kann man ja sagen, ohne rot zu werden und zu lügen - bei 150.000, 170.000 Exemplaren angelangt. Und die Maulwürfe jetzt zusammenzuzählen, wäre - kommer auch in kräftige Zahlen und Wolkow sowieso.

    Und die neue russische Kinder- und Jugendliteratur? Sie spielt hierzulande kaum eine Rolle und das hat viele Ursachen. Gucken wir nur einmal auf eine noch nicht ganz so alte russische Bestsellerliste, an der sich grundsätzlich nicht so viel geändert hat. Russland als Land der Harry-Potter-Klone:

    1. Emec: Tanja Grotter und der Thron des Drevnir. 2. Rowling: Harry Potter und der Feuerkelch. 3. Zvalevskij: Porri Gatter und der steinerne Philosoph. 4. Rowling: Harry Potter und die Kammer des Schreckens. 5. Rowling: Harry Potter und der Gefangene von Askaban. 6. Emec: Tanja Grotter und der goldene Engel. 7. Emec: Tanja Grotter und der magische Kontrabass. 8. Eine Fibel für Vorschüler.

    Eine aktuelle Bestsellerliste des größten russischen Internetbuchhändlers Ozon sieht auf Platz 1 "Harry Potter und der Halbblutprinz", auf Platz 2 eineVorschulfibel, auf Platz 3 bis 6 vier weitere Potter-Bände, auf Platz 7 eine japanische Manga-Serie., auf Platz 8 ein "Zauberbuch der neuen Hexen", auf Platz 9 einen russischen Abenteuerroman und auf Platz 10 ein Buch über die Liebe von Jugendlichen in der Welt der Erwachsenen.

    Paxmann: " Fantasy ist sehr, sehr stark ausgeprägt. Da gehts nach amerikanischem Modell, ziemlich. Das Potter-Plagiat Tanja Krotter ist ja praktisch das beste Beispiel. Um diese Harry-Potter-Euphorie herum haben sich eine Reihe von Autoren und Sujets herausgebildet. Die Potter-Plagiate im russischen Reich sind schon gewaltiger Natur. "

    Da es junge russische Kinderbuch-Autoren und Illustratoren abseits der breiten Wege von Fantasy- und Abenteuer-Literatur nach wie vor schwer haben im eigenen Land (und damit natürlich auch international), erblickt man auf dem deutschen Büchermarkt ein seltsames Bild der russischen Kinder- und Jugendliteratur.

    Wie gesagt: die Wiederauflagen der modernen Klassiker werden gut verkauft - im Osten Deutschlands. Aber es gibt ganz wenige Veröffentlichungen russischer Gegenwartsautoren von Kinder- und Jugendbüchern: die Mehrzahl erscheint bei leiv, in der Regel eine Geschichte pro Buchsaison: "Väterchen Fjodor" im Herbst 2004, anschließend kamen das "Krokodil Gena" und als jüngstes Beispiel ein Roman von Gennadi Maschkin: "Weißes Schiff und blaues Meer". Außerdem veröffentlichte Hanser ein Bändchen mit Kurzgeschichten der großen alten Dame der russischen Literatur, Ljudmila Ulitzkaja. "Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten" geben Einblicke in das Alltagsleben russischer Kinder im Jahr 1949. Und schließlich gibt es bei Bajazzo noch eine spannende Erzählung von Martin Baltscheit mit Tuschbildern von Aljoscha Blau, "Die Belagerung". Daran ist allerdings eigentlich nur das Thema russisch - der Hungerwinter 1927, als Wölfe ein sibirisches Dorf belagern. Der in Leningrad geborene Illustrator Aljoscha Blau lebt schon lange in Berlin.

    Die Zurückhaltung bei Hanser erklärt man dort mit dem "nicht so recht übersetzbaren Alltag" und mit einer Vielzahl von Angeboten "schlechtester Konfektion" (bei Kinderkrimiserien scheinen Drogenkuriere im Moskauer Mafiamilieu augenblicklich sehr gefragt). Wahrscheinlich bräuchte es im deutschen Verlagsgewerbe weit mehr landes- und sprachkundige Scouts, Spurensucher, die vor Ort recherchieren und gute Geschichten entdecken. In den Buchhandlungen und vor allem auf den zahlreichen Basaren in den Großstädten. Aber um sie zum Marktfaktor für Kinderbücher zu machen, ist die russische Welt noch viel zu weit von uns entfernt. - Einer dieser Scouts ist Steffen Lehmann vom leiv-Verlag. Er ist mit russischer Literatur groß geworden, kennt Sprache, Land und Leute.

    Lehmann: " Man hat öfters - übrigens besonders bei russischen Autoren und Illustratoren immer wieder das Problem nach wirklicher Rechtssicherheit. Das hat man heute auch noch. Deshalb auch meine strikte Praxis mit Autoren direkt zu arbeiten und mit Illustratoren ... und nicht erst über verschiedene Verlage oder Agenturen dazwischen. Da gibt es eine gewisse Grauzone, die sich immer wieder auftut. ... Uspenski ist sehr stark zur Zeit. Wenn Sie aber fragen nach neuen Autoren, denk ich schon, ist es schwierig in Zeiten - auch grade in jetzt - in Zeiten in Russland, gerade spielerische Dinge zu suchen. Also, ich halte das momentan für junge Handschriften und junge Autoren schon eine ziemlich schwierige Zeit. ... Fakt ist eins, dass ich ganz bewusst, wenn ich dort bin, natürlich nicht nach Titeln schaue, die allzu sehr mit den russischen Umständen behaftet sind, sondern eher, dass sie sich hier auch ... d.h. die Geschichten müssen auch schon hier, im deutschen Sprachraum ankommen können. ... Insofern schau ich eher nach den doch schon traditionellen Dingen und Dingen, die hierher übertragbar sind. "

    Und hier kommt Hans Zimmermann ins Spiel. Er ist 55 Jahre alt, wohnt in einem kleinen Ort in der Oberpfalz und lebt - zumindest finanziell - nicht vom Übersetzen. Aber er ist ebenfalls ein Spurensucher, ein ganz ungewöhnlicher Scout, der nicht nur "Väterchen Fjodor" und das "Krokodil Gena" wiederentdeckt und übersetzt hat, sondern einige wunderschöne Geschichten mehr, die noch der Veröffentlichung harren.

    Paxmann: " Eigentlich wollen wir auch schon ein bisschen unseren Zufall auch begrüßen, dass uns auch mal ein Herr Zimmermann begegnet ist, der einfach mal mit einem schönen Brief kam und sagte: "Guten Tag, mein Name ist Zimmermann. Ich fahre sehr oft nach Russland. ... Ich hab die Sprache gelernt, weil ich die Kinderbücher gelesen hab. Und Sie glauben ja gar nicht, was da für tolle Kinderbücher gibt! Ich hab die Übersetzungen da." - "

    Zimmermann: " Ja, ja ... war die Paxmann am Telefon. Ich bin dann gleich in Grundstellung gstandn, natürlich (lacht) und hab an und für sich - das ist also wirklich ein guter Kontakt mit denen. "

    Paxmann: " Hab ich gesagt: "Ja, schicken Sie's mir doch mal." Und dann kamen wunderbare Geschichten ins Haus. Das ist einfach Zufall, Glück und eine tolle Geschichte noch dazu. "

    Zimmermann: " Des is so: Mei bester Freund, der hat ne Ukrainerin geheiratet. Des war 1994 - sagt er eines Tages zu mir: "Hans, weiß du wo Kiew ist?" Na sag ich: "Ja, in der Ukraine." Noch während der Wende war das noch, dort drüben. Ich habs halt von Dynamo Kiew, vom Fußball her gekannt. Na sagt er: "Du, wir müssn da rüberfliegn. Ich hab da a Frau kennaglernt, die will mich heiraten. ... Und dann sammer 94 im Dezember sammer rübergflogn, hamm die untern Arm gnomma und san nach Deutschland. "

    Und seither fährt Hans Zimmermann regelmäßig zu Freunden und Bekannten nach Kiew, lernte die Sprache und entdeckte irgendwann die Kinderbücher.

    Zimmermann: " Das war dann doch ziemlich spät. Weil das hat dann doch eine Zeit lang gedauert, bis man die überhaupt lesen kann. Am Anfang, da kann man zwar ein paar Sätze sagen, aber - ein Buch lesen, da muss dann die Sprache dann doch schon einigermaßen können. Das is mir spontan komma. Ich war dann hier zuhause und dann war mir oft langweilig und dann hammer die Bücher so gfalln und dann hab ich mir gedacht: "Mensch, das wär doch was zum Übersetzen. Ich hab dann eigentlich nicht an einen Verlag gedacht. Das war mir eigentlich egal. Ich hab das für mich selber gemacht. Und dann sann die Manuskripte dagelegen und da kenn ich eine Kinderbuchautorin aus Amberg, die macht aber scho lang nix mehr. Und die hab ich die Manuskripte lesen lassen. Die war voll begeistert: "Du musst die an Verlage schicken." Dann hab ichs an alle großen Verlage hab ichs gschickt und überall is ne Absage gekommen. Und dann hat der leiv-Verlag eines Tages, rufen an und hamm gsagt: "O.K., wir machen des!" "

    Und es wurde gut.

    Wenn Uspenskis witzig-lakonischer Ton, mit dem er, fast nebenbei, von kindlichen Realitäten in seinem Land erzählt, ein Beleg für die Wiederbelebung der russischen Kinderliteratur ist, dann, bitte: Vorhang auf für die jungen Helden aus dem Osten! Sie pfeifen auf Ehrenzeichen des Komsomol. Naja, einen Orden "Held der Arbeit" hätte sich Tscheburaschka schon verdient. Das mutige Plüschwesen ist ein der Wissenschaft unbekanntes Tier, das - angeblich - im Urwald lebte, bevor es in der russischen Provinz strandete. Höchst ehrenwert, dass niemand seiner Freunde dem Gerücht Bedeutung beimisst, der hand- und fußlose Tscheburaschka sei das Ausschussprodukt einer Spielzeugfabrik.

    Natürlich treten im Lauf der Geschichte allerlei illustre Gesellen aus der Tier- und Menschenwelt auf. Schließlich sind die Helden aus den Kindertagen des Autors damit beschäftigt, trotz bürokratischer Hürden ein "Haus der Freundschaft" zu bauen, fünf Schritte lang, fünf Schritte breit, eine Etage hoch. Der übereifrige Lokaljournalist schreibt dazu hymnisch:

    In unserer Stadt wird ein bemerkenswertes Haus gebaut, ein Haus der Freundschaft. Es wird zehn Etagen hoch, fünfzig Schritte lang und fünfzig Schritte breit. Auf der Baustelle arbeiten zehn Krokodile, zehn Giraffen, zehn Affen und zehn rundliche Einser-Schülerinnen. Der Haus der Freundschaft wird fristgerecht fertig.

    Typische Übertreibung eines Hofberichterstatters! So war es halt im Staatssozialismus und so ist es wahrscheinlich auch heute noch. Dass sich unsere Helden des Alltags trotzdem mit Herz, Witz und Verstand durchs Leben bewegen und dabei das Festgefügte mit nahezu schwejkscher Gelassenheit untergraben, das macht sie zu würdigen Seelenverwandten unserer Freunde aus Holleschitz, von Josef Ladas Kater Mikesch und seinen Freunden. Dass man beim Lesen diese Parallele zieht, hat sehr viel mit der Übersetzungskunst Hans Zimmermanns zu tun.

    Zimmermann: " Ich bin sowieso der Meinung, man sollt bei einer solchen Übersetzung, vor allem bei einem solchen Kinderbuch, das nicht sklavisch übersetzen, sondern man sollte die Charaktere, die Atmosphäre in der Geschichte ins Deutsche rüberbringen. Das is viel wichtiger als wörtlich und genau zu übersetzen. ... Und vor allem, der Uspenski, der liebt ja auch so Wortspielereien und Wortklaubereien und die geben ja dann im Deutschen keinen Sinn. Da muss man also was völlig Neues machen, dann. Zum Beispiel beim Krokodil Gena: ... Zuletzt, wenn der Tscheburaschka sei Rede hält. Des is im Russischen natürlich ganz anders. "

    Liebe Kunstpfuscherinnen, Postknutscher und Frostduscher! Es ist mir eine große Lust und ein großer Frust, dass ihr zur Eröffnung unserer Obstrutsche und unseres Frostbusches mit dem Buskuss so zahlreich hergerutscht seid. Hurra!

    Lehmann: " Es sind sicherlich Übersetzungen vorhanden zu traditionellen Titeln, die man mit dieser Sprache - die kann man heute nicht mehr verwenden. ... Diese Übersetzungen sind heute einfach nicht mehr zeitgemäß. ... Da schauen wir nach jungen Leuten, die auch mit der russischen Sprache umgehen können. Das ist sicher nicht so einfach, da immer wieder frische neue Handschriften auch bei Übersetzern zu finden. Andererseits gibt es traditionelle Werke der russischen Kinderliteratur in der Originalsprache, deren Übersetzungen völlig in Ordnung sind. ... "

    Die Übersetzung von Gennadi Maschkins Roman "Weißes Schiff und blaues Meer" wurde von leiv überarbeitet. Sie reflektiert die Welt des 13-jährigen Ich-Erzählers glaubwürdig, ohne aufgeblasene Satzkonstruktionen, ohne jeden erhabenen, patriotischen oder moralischen Unterton. - Gennadi Maschkin, Jahrgang 1936, kam nach 1945 nach Sachalin. Seine Erlebnisse auf der von den Russen besetzten japanischen Insel bilden die Grundlage des Romans. Heute lebt der Schriftsteller in Irkutsk.

    Chabárowsk, Ostsibirien 1945. Ein schweres Los steht Gera bevor: Gerade eben ist der Krieg zu Ende. Voller jugendlichem Heldenwahn und Hass will der Junge den von den Japanern getöteten Großvater rächen. Die Familie zieht auf die Insel Sachalin, wo sich Geras Vater - für den Sohn vor kurzem noch ein sowjetischer Kriegsheld - alles andere als heldenhaft benimmt und dem Suff verfällt. Als Gera dem japanischen Mädchen Sumiko und seinem Bruder begegnet, verändert sich, zuerst ganz zögerlich, das Weltbild des Jungen fundamental.

    Dieses Buch hielt ich eines Tages auch in der Hand. Ich entsinne mich ganz genau ...

    ... erzählt der in der DDR aufgewachsene Schriftsteller Uwe Kant im Vorwort ...

    ... Aber ich stellte es damals zurück ins Regal aus einem ziemlich doofen Grund: Es hieß seinerzeit "Weiße Orangeade" und trug den Namen eines Getränks, das ich meinen Lebtag verabscheut habe. So entging mir für viele Jahre ein schönes Buch. Ich hatte selber Schuld. Anders die Kinder damals. Denen entging es auch, weil meine merkwürdige Regierung in meinem merkwürdigen Land es lieber ein bisschen vor ihnen versteckte. Die fürsorgliche Regierung hatte Angst, die Kinder könnten das Buch nicht richtig verstehen. Vielleicht, weil die Sieger darin, unsere armen Sieger waren und so sehr Verlierern glichen.

    Lehmann: " Der Sowjetheld kann natürlich nicht zum Säufer mutieren, das geht nicht. Er muss da weiterhin der Held bleiben. Und das hat dieser Autor ziemlich hart beschrieben und das fiel immer dann hier der Zensur zum Opfer. ... Und das war auch ein Motiv, dass wir gesagt haben ... jetzt verlegen wir mal was, was zu DDR-Zeiten der Zensur anheim gefallen ist. "

    Als die Sonne den schwarzen körnigen Schnee geschmolzen hatte, das schmutzige Schmelzwasser die im Winter angesammelten Abfälle menschlichen Hausens hochspülte - Lumpen, Knochen, zerbrochenes Glas - und eine Unmenge Gerüche in der Luft lagen, wobei der feuchte, süße Geruch nach Frühjahrserde alle anderen überlagerte, kam Genja Pirapletschikow hinaus auf den Hof.

    Damit sind wir bei der besten und vor allem eindringlichsten russischen Erzählerin, bei Ljudmila Ulitzkaja, der großen alten Dame der russischen Gegenwartsliteratur, deren beachtenswerter Roman "Ergebenst, euer Schurik" inzwischen auf deutsch vorliegt. Im Frühjahr 2005 veröffentlichte Hanser ein Büchlein mit dem Titel "Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten". Die von Ganna-Maria Braungardt einfühlsam übersetzten Geschichten führen uns ins Russland des Jahres 1949 ("Kindheit 1949" heißt die Sammlung im Originaltitel). Ulitzkaja gewährt in diesen kurzen Erzählungen Einblicke in den Mikrokosmos der Hinterhöfe, der für die jungen Menschen, die im Mittelpunkt der Geschichten stehen, die Welt bedeutet.

    Die Luft, die Erde - alles war lebensprall und strotzte vor Kraft, besonders die kahlen Bäume, aus denen jeden Moment freudig kleine Blätter sprießen würden. Genja stand mitten auf dem Hof und lauschte überwältigt dem himmlischen Lärm; eine dicke Katze setzte zaghaft die Pfoten auf die nasse Erde und überquerte schräg den Hof.

    Ljudmila Ulitzkaja erzählt die Geschichten von Genja, dem hinkenden Jungen, der fantastische Papierfiguren falten kann, von Valka und dem alten Lumpensammler Rodion, den die Kinder umringen, als sei er ein Weiser aus dem Morgenland. Sie erzählt von dem schüchternen Serjosha, der den Sommer bei seinem Urgroßvater auf dem Land verbringt, von der herzensguter Chalíma, von ihren Kindern und der bösartigen Kljukwina und ihrem Enkel Kolja und von den beiden Waisenkindern Olga und Dussja, die von der Tante in die Stadt geschickt werden, um einen Kohlkopf zu kaufen.

    Es sind kleine Geschichten aus dem Alltag, so brilliant, so detailgetreu geschrieben, dass man das Milieu mit allen Sinnen zu spüren glaubt. Das Buch wurde 2003 erstmals in Russland veröffentlicht und es zeigt uns, dass es - jenseits der konturlosen Massenware - eine Kinderliteratur in Russland gibt, die es wert ist auch bei uns entdeckt und gefördert zu werden, gerade weil hierzulande in der Vorstellung vieler Menschen die wirkliche Welt immer noch irgendwo hinter Warschau endet. Und deshalb sind Spurensucher wie Hans Zimmermann oder Steffen Lehmann so wichtig, genauso wichtig wie Verleger, die aufgeschlossen sind für Grenzüberschreitungen. Noch zögern die meisten, weil sie glauben, die russischen Gegenwartsgeschichten seien hier nicht vermittelbar, sprich: nicht verkaufbar. Oder es gäbe zu viele vom Westen geklonte Stoffe, gerade im Fantasybereich. Trotzdem, das was Schriftsteller wie die Ulitzkaja, wie Viktor Pelewin, Jewgenij Popow oder der Ukrainer Andrej Kurkow über den Alltag erzählen, stößt hierzulande auf Interesse der Leser. Warum sollte es in diesem riesigen Land nicht Autoren geben, die im Schatten des Mainstreams gute Geschichten schreiben, die über alle Ländergrenzen hinaus junge Menschen neugierig machen auf das Leben in der Nachbarschaft?
    Schließlich fahren das Krokodil Gena und seine Freunde, während sie dieses Lied singen, auf dem Dach des letzten Wagens eines Zuges Richtung Sonnenuntergang. Westwärts.

    Literaturliste:

    Eduard Uspenski: Väterchen Fjodor, der Kater & der Hund. Aus dem Russischen übersetzt von Hans Zimmermann. Illustrationen von Jara Capek. leiv, Leipziger Kinderbuchverlag, Leipzig 2004, 112 Seiten, 10,90 Euro

    Eduard Uspenski: Krokodil Gena und seine Freunde. Aus dem Russischen übersetzt von Hans Zimmermann. Illustrationen von Jara Capek. leiv, Leipziger Kinderbuchverlag, Leipzig 2005, 80 Seiten, 10,90 Euro

    Gennadi Maschkin: Weißes Schiff und blaues Meer. Überarbeite Fassung der Übersetzung von Aljona und Klaus Möckel. Illustrationen von Simone Waßermann. leiv, Leipziger Kinderbuchverlag, Leipzig 2005, 128 Seiten, 11,90 Euro

    Martin Baltscheit/Aljoscha Blau: Die Belagerung. Bajazzo Verlag, Zürich 2005, 80 Seiten, 9,90 Euro

    Ljudmila Ulitzkaja: Ein glücklicher Zufall und andere Kindergeschichten. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Mit Illustrationen von Wolf Erlbruch. Carl Hanser Verlag, München 2005, 79 Seiten, ...... Euro