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"Der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts ist die deutsche Verfassung"

Das deutsche Grundgesetz verpflichte Deutschland, sich auf den Weg zu Europa zu machen, erinnert Ex-Verfassungsrichter Winfried Hassemer mit Blick auf das ESM-Urteil aus Karlsruhe. Das Bundesverfassungsgericht habe jedoch eine in Europa unbekannte Machtfülle - aus seiner Sicht ein "offenes Problem" für das Zusammenwachsen der Union.

Das Gespräch führte Bettina Klein | 12.09.2012
    Bettina Klein: Das Bundesverfassungsgericht genießt im Augenblick laut Umfragen mehr Vertrauen in der Bevölkerung als irgendein anderes Verfassungsorgan. Woran liegt das eigentlich? – Der frühere Vizepräsident Hassemer warnte allerdings jüngst davor, sich allzu sicher zu sein, was das Urteil angeht, dass es nämlich wieder auf eine Art Ja-aber-Entscheidung mit Sicherheit hinauslaufen würde. Die Richter entscheiden schließlich unabhängig. Aber es gibt Indizien, wie wir heute Morgen schon gehört haben, etwa das große Interesse der Richter bei der mündlichen Verhandlung an der Frage, ob der ESM tatsächlich einen Deckel besitzt, oder ob die Haftung de facto nicht unbegrenzt ausfällt. Ist das ein Gesichtspunkt, der im heutigen Urteil zu finden sein könnte? Das wollte ich von Winfried Hassemer mit Blick auf den heutigen Vormittag wissen.

    Winfried Hassemer: Ja. Das kann man auch erklären, warum das so ist. Die Aufgabe des Gerichts ist es ja, vor allem – nicht nur, aber vor allem – doch die Instrumente der deutschen Demokratie zu schützen und zu schonen. Und je mehr Haftung die Bundesrepublik auf sich nimmt und die sie dann nicht kontrollieren kann als Haftung, je stärker das in den Vordergrund tritt, desto eher ist natürlich auch die Grenze des Grundgesetzes in Gefahr, und deshalb kann man durchaus so denken.

    Klein: Der frühere CDU-Politiker Karl Lamers – viele nennen ihn einen Vordenker der europäischen Vereinigung – hat gestern bei uns im Programm eine zu national orientierte Haltung der Bundesverfassungsrichter beklagt, die erkennbar geworden sei in den bisherigen Europa-Urteilen. Ist diese Kritik berechtigt aus Ihrer Sicht?

    Hassemer: Ich weiß nicht genau, was er mit "national" meint, aber, wenn er damit meinen sollte, zu wenig europäisch, dann, glaube ich, stimmt das nicht. Das Gericht, wenn man seine Rechtsprechung sich mal anguckt, hat sich eigentlich immer äußerst vorsichtig bewegt, wenn es mit anderen Gerichten auf europäischer Ebene zu tun hatte, und das kann man auch sagen für das Projekt Europa. Man muss auch hinzusetzen – und das vergisst man heute verständlicherweise immer ein bisschen -, man muss auch hinzusetzen, dass es nicht nur um die europäische Demokratie geht, dass es nicht nur um die deutsche Demokratie geht, sondern dass es auch um Europa geht. Das Grundgesetz verpflichtet uns alle, dass wir uns auf den Weg zu Europa aufmachen, dass wir dabei darauf achten, dass es Sozialstaat und dass es Föderalismus gibt und dass Rechtsstaatlichkeit eine Rolle spielen, und ich glaube, das Gericht hat das auch gemacht. Es tritt natürlich wie auch jetzt in der Öffentlichkeit dann eher als Bremser auf, aber auch das hat seine Gründe, die das Gericht nicht einfach verändern kann.

    Klein: "National zentriert", sagt Karl Lamers, und der Verweis auf Demokratie würde nicht sehr weit tragen, denn aus anderen Staaten Europas, die teils mehr Erfahrung mit Demokratie haben, gebe es Bedenken, wie sie von den Karlsruher Richtern formuliert worden seien, eben nicht. Was entgegnen Sie?

    Hassemer: So weit würde ich nicht gehen. Ich kann das im Ansatz verstehen, was er gesagt hat, und der Grund, warum ich das verstehen kann, ist auch einsichtig. Der Grund heißt nämlich, das deutsche Bundesverfassungsgericht, die deutsche Verfassungsinstanz, hat eine Machtfülle, wie sie in Europa ansonsten unbekannt ist, und das könnte man in einem gewissen Sinne als national oder als nationale Besonderheit bezeichnen. Das heißt, die Player in dem großen Spiel Europa, die Exekutive, die internationale Exekutive, die Parlamente, die verschiedenen Gerichte, dieses Ensemble von Playern, kann man sagen, ist in Deutschland durch das Bundesverfassungsgericht auf eine besondere Weise definiert. Ich weiß das auch von anderen Verfassungsgerichten in Europa: Die gucken schon auch manchmal kritisch auf uns, obwohl sie in der Regel schon der Meinung sind, wie es in der Bundesrepublik gehandhabt wird ist gut für die Sicherung einer Verfassung.

    Klein: Und sollte diese Macht dann eventuell doch beschnitten werden, wenn sie so groß ist im Vergleich zu anderen Staaten? Wie könnte das geschehen?

    Hassemer: Das kann einfach dadurch geschehen, dass es einen guten Grundrechtsschutz und Institutionenschutz in Europa gibt. Den gibt es in diesem Umfang noch nicht, wie wir ihn in der Bundesrepublik kennen. Wenn dieser Schutz sich ausbreitet – und ich rechne eigentlich damit – und wenn im Grunde, wenn man so will, die Aufgaben, die das Bundesverfassungsgericht bis jetzt erfüllt hat, von anderen erfüllt werden, dann, meine ich, wäre das ja doch nur gut, wenn wir Europa wollen. Freilich, wenn ich das noch dazu sagen darf, man muss darauf achten: Der Maßstab des Bundesverfassungsgerichts ist die deutsche Verfassung. Das ist natürlich dann noch ein offenes Problem. Aber wenn Europa zusammenwächst, meine ich, werden auch Verfassungen zusammenwachsen.

    Klein: Und dann sind wir schon bei der Debatte, die wir auch seit einigen Monaten im Grunde genommen latent, aber dann auch immer wieder auf offener Bühne ja führen. Das ist die Frage nach dem Artikel 146 und der Verweis der Verfassungsrichter beim Lissabon-Urteil, ich formuliere mal frei auf den Punkt gebracht: Wenn ihr nicht mehr zurande kommt mit diesem Grundgesetz in der Europapolitik, dann erinnert euch daran, ihr könnt dieses Grundgesetz auch verändern, euch eine neue Verfassung geben, dazu gibt es diesen Artikel 146. Bisher hieß es in der politischen Debatte, so weit sind wir noch nicht und Vorsicht dabei, das Grundgesetz allzu schnell in Frage zu stellen. Rechnen Sie damit, dass das eigentlich nur eine Frage der Zeit ist und wir schneller, vielleicht in den kommenden zwei, drei Jahren schon genau dazu kommen werden?

    Hassemer: Das ist schwer zu sagen. Wir haben zurzeit ein Problem, das, glaube ich, niemand bestreitet. Dieses Problem heißt Zeitnot. Wir sind in Zeitnot. Ich frage mich so als Mensch und Christ, warum man ausgerechnet unter einem solchen Stern den 146 des Grundgesetzes mobilisiert, das heißt eine Norm, die natürlich zuerst einmal in eine noch viel größere Zeitnot führen würde. Zum anderen ist es trivial richtig: Wenn der Bereich meiner Instrumente nicht mehr dazu reicht, bestimmte Ziele zu erreichen, wenn ich diese Ziele aber unbedingt erreichen will, dann muss gewissermaßen das Instrumentarium erweitert werden, und das ist dann auch möglicherweise der Weg des 146. Das heißt, wir brauchen dann eine Verfassung, welche diese, von uns unbedingt gewollten Ziele erlaubt. Und zum dritten: Ich meine, der 146 ist natürlich auch, wenn man so will, eine befreiende Norm. Er ist eine Norm, die uns wieder auf das Volk zurückführt, eine freundliche Norm, auch eine mutige Norm. Ich liebe diese Vorschrift, aber ich glaube, zurzeit ist es eher ein Ausweichen.

    Klein: Der Konstanzer Rechtsprofessor Christoph Schönberger bezieht sich auf das Maastricht-Urteil, in dem Karlsruhe jedem Bürger die Möglichkeit eingeräumt hat, gegen weitere Vertiefungsschritte durch weitere Verträge zu klagen, und es hat sich damit, so äußert er sich, zu einem Ort für die europaskeptischen Bedenkenträger gemacht, die im Bundestag vielleicht weniger Ausdruck finden, als das in der Gesamtbevölkerung der Fall ist. Hat sich damit das Verfassungsgericht in eine Rolle begeben, die ihm eigentlich nicht zusteht, oder ist es legitim, dass diese Art der Gefühle, Bedürfnisse, Einschätzungen, die in der Politik vielleicht nicht so sehr eine Rolle spielen, dort einen Ort finden?

    Hassemer: Ich halte das für legitim, und zwar habe ich dafür einen Grund. Das Bundesverfassungsgericht muss gewährleisten, dass die Bürger bei uns alle, Bürgerinnen und Bürger, alle die Chance haben, wenn sie schon in ihren von der Verfassung zugeteilten Rechten verletzt sind, auch den Weg zum Gericht finden. Das ist ein wichtiger Baustein unseres Grundgesetzes und auch der Ausstattung des Bundesverfassungsgerichts. Wir denken auch in Individualklagen, wir denken auch in der Möglichkeit der Bürger zu sagen, was mein Nachbar macht, ist mir jetzt wirklich egal, ich versuche das. "Ich gehe nach Karlsruhe" ist ein Schlachtruf, den finden Sie in Frankreich nicht, den finden Sie in Italien nicht und den finden Sie in sonstigen Verfassungsordnungen in Europa auch nicht, und dem muss man Rechnung tragen und das ist auch wichtig.

    Klein: Die Deutschen haben die Demokratie nicht erfunden, soweit ich weiß, und manchmal gibt es ja den Verdacht, eigentlich könnten wir mit der Staatsform im Grunde nicht so viel anfangen und im Grunde sehnen wir uns nach einem Organ, das so ein wenig über dieser Demokratie zu schweben scheint, das wird seinerseits dann nicht mehr kontrolliert und kann auch parlamentarische Beschlüsse kippen, und dass das auch der Grund dafür sei, dass die Bundesdeutschen, wie jüngste Umfragen ergeben haben, dem Bundesverfassungsgericht mehr vertrauen als jedem anderen Verfassungsorgan. Ist da etwas dran an diesem vagen Eindruck?

    Hassemer: Das ist ein bisschen bösartig formuliert, aber im Kern ist es richtig. Es ist nicht diese etwas nebulöse Art von einem Gericht, was nun besonders mächtig ist, sondern es ist eine historische Erfahrung. Bei uns gilt das Mehrheitsprinzip nicht immer. Bei uns gilt immer das Prinzip der Verfassung, des Grundgesetzes und der Grundrechte. Und es ist möglich – und das ist die Macht des Gerichts und das ist vorgekommen -, dass das Gericht einen einstimmigen Beschluss des Parlaments kassiert. Acht Leute in Karlsruhe tun das. Aber das hat einen bestimmten Grund, und der Grund heißt: gesetzliches Unrecht, gesetzliches Unrecht. Das ist die Erfahrung, die wir gemacht haben und vor allem wir in der Zeit der Nazis, die Erfahrung nämlich, es kann Mehrheiten geben und die Mehrheiten sind formal vollständig in Ordnung zustande gekommen, aber es ist am Schluss Unrecht herausgekommen, und das darf man nicht vergessen und das ist der Witz dieser Stellung des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb meine ich, ist es in Rechtskulturen mit einer anderen Tradition als nun gerade unserer natürlich sinnvoll, dass deren Gerichte anders aussehen.

    Klein: Der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichtes, Winfried Hassemer, heute Morgen im Deutschlandfunk.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.