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Der Meister des Absurden

Eine Mischung aus charmanten Plaudereien, Lyrik, Verrücktheiten und Dada - der Grafiker und Schriftsteller Horst Hussel schafft mit "Aprillenwetter" ein gänzlich aus der Zeit gefallenes Belegstück literarischer Hochkomik - ganz noch dem Motto: "Die Kunst liegt darin, ohne alle Ursache unsinnig zu werden."

Von Florian Felix Weyh | 23.07.2009
    Am liebsten möchte Franz sofort wieder einschlafen. Jede Silbe gleichmäßig betonend, artikuliert sein Mund: A-del-heid. Sofort ist ihm besser! Acht Buchstaben reichen ihm, um weitere Damenschönheiten zu zitieren: Heidelde Hand in Hand mit Haldeide, Lehdeida und Deihalde umringelreigen ihn in seinem Bett. Deihaldes Bemerkung, "Dem ist wohl das Kolophonium unter den Kasten gerollt", will Franz überhört haben. Weiter geht es mit "Ade-laide", ... "Eile dada", gefolgt von "Adolphine". Ob er sein Register von "Adelaide" bis "Zaire" bis zur Abendstunde schaffen wird? Nur bis "Constanze" ist er gekommen, weiter nicht.

    Keine Bange, Franz schafft es noch, die Frauenwelt von A bis Z zu charmieren, indem er gekonnt sprachliche Pfauenräder schlägt. Franz, das ist der Held - will sagen: rote Faden - in Horst Hussels "Aprillenwetter", einem gänzlich aus der Zeit gefallenen Belegstück literarischer Hochkomik.

    "Eile Dada" gibt die Richtung vor. Freilich nur eine von vielen, Verwandtschaftslinien lassen sich zu unterschiedlichsten Ahnen ziehen. 75 Jahre alt ist der Doyen der ostdeutschen Buchgrafik, der vom Wort in optischer Gestalt zum Wort als Klang gefunden hat, am 28. April geworden - genau an jenem Tag, an dem 60 Jahre zuvor Sprachzuchtmeister Karl Kraus geboren wurde. Wer wie Horst Hussel überall Zusammenhänge wittert, Analogien sieht, Sprachdoppeldeutigkeiten schürft, kann einem solchen numerischen Zufall kaum gleichgültig gegenüberstehen. Ist also die Geburtstagsdoublette Verpflichtung oder Bürde?

    "Es ist bestimmt keine Bürde. Es kommt noch etwas hinzu, Karl Kraus war ein Siebenmonatskind. Er hat irgendwo über Siebenmonatskinder geschrieben. Ich glaub, Neunmonatskind war für ihn ein Schimpfwort."

    Fein aus der Affäre gezogen! Dem Neunmonatskind - und damit echtem Aprilgeborenen - Hussel liegt zwar wie Karl Kraus die Sprache innig am Herzen, doch nähert er sich ihr nicht mit dem Seziermesser, sondern lauschend, staunend, den Möglichkeiten jedweder schrägen Kombinatorik auf der Spur. So tauchen die seltsamsten Frauennamen bei ihm auf, weil sie musikalisch schweben wie ein Flötenton im Wind.

    "Es geht um Klangschönheiten, es geht ja um Franz, und um den versammeln sich nicht nur zwei, drei Damenschönheiten, sondern es sind unzählige. Er buchstabiert das Alphabet durch, das ist sein Fluch."

    Und unser Glück. Denn eben jenes Alphabet hält sehr viel mehr Worte bereit, als sich üblicherweise zwischen zwei Buchdeckeln finden. Bei Hussel sind sie versammelt. Die oberdeutsche "Saaltochter" etwa ist selbst im Ursprungsland Schweiz zur Sprachrarität geworden, so wie "Crayon" als Synonym für Bleistift oder der "Pfingstmaien" als Geruchsbezeichnung eines Birkenharzes. "Viel hält die Natur für den bereit, der zu schauen vermag", sentenzt es einmal altmodisch

    Viel bietet der Dichter jenen, die wachsam bleiben bei jedem Wort. En passant wird zum Beispiel der "Voynich-Codex" gestreift, schon öffnet sich ein Paralleluniversum. Wilfried Michael Voynich war ein Antiquar ...

    "… und fand ein Buch in einer Geheimschrift geschrieben, mit sehr vielen Zeichnungen, und man datiert das ins Mittelalter etwa. Man wollte das dechiffrieren, diese Texte. Und Fachleute beschäftigen sich seit Jahrzehnten damit, dieses Text zu entschlüsseln. Und inzwischen haben auch Militärs aus dem Pentagon, also Computerspezialisten, versucht mit Hilfe modernster Technik, diesen Text zu entschlüsseln. Es ist bis jetzt nicht gelungen. Und es gibt zwei Theorien. Die eine besagt: Das Buch ist gar nicht verschlüsselt, eine Spielerei mit Hintergrund, möglicherweise hat das leicht pathologische Züge, man weiß es nicht. Die andere Theorie geht dahin, dass der Antiquarius das Buch selbst angefertigt hat."

    Beides Vermutungen, die Horst Hussel entzücken, denn als "Spielerei mit Hintergrund" mag man sein Oevre auch titulieren - freilich nicht pathologischer Natur, Gott bewahre, sondern wie Friedrich Dieckmann einst schrieb, als Zeugnis der "Schönheit des Zweckentbundenen". Dass jemand sich die Mühe machen sollte, einen ganzen Folianten in Geheimschrift zu verfassen, nur um die Mit- und Fachwelt zu foppen - Theorie Nummer zwei -, passt ebenfalls trefflich ins komödiantische Universum des vorpommerschen Schelms Horst Hussel. Er selbst hat ja vor Jahr und Tag mit Albrecht Kasimir Bölckow einen norddeutschen Avantgarde-Komponisten des 19. Jahrhunderts erfunden, dessen vielfältige fiktive Zeugnisse einen durchaus zweifeln lassen, ob Bölkow nicht vielleicht doch existierte?

    ""Ich find es wunderbar, diesen Voinich-Codex, der ersetzt eigentlich alle Bücher!","

    ... schmunzelt Hussel, denn solange man die Hieroglyphen nicht entschlüsselt hat, kann jeder seine ganz private Erfüllung dahinter vermuten. Unweit dieser Position siedelt auch die Husselsche Poetik: Erst ein doppelter Boden macht Literatur wirklich wertvoll. So besteht "Aprillenwetter" aus zwei Dutzend frühlingshafter Prosaminiaturen um Damenfreund Franz, die neben sprachlicher Erlesenheit und einer verschrobenen Weltbetrachtung stets auch mit auszulotendem Tiefsinn aufwarten. Ebenso wie die angefügten Dramolette um die Figuren:

    Alkol und Bilior. Kann sich jeder seins bei denken! Oder abgekürzt: A und B.

    Kann sich jeder seins bei denken - muss er manchmal sogar auch! Denn bei allem Kalauer-Geflirre - "Steckt nicht in jedem 'aber' ein Rabe?" - fordert die Husselsche Sprachgymnastik den Leser manchmal ganz schön heraus; etwa bei der philosophischen Fingerübung über das Besondere:

    Wenn das Besondere heute nicht will, beschließt Franz, will auch er nicht. Doch die Abwesenheit des Besonderen sei kein Beweis für dessen Nichtexistenz, es wird sich auch dann nicht ereignen, wenn Franz nicht will.

    Der Satz ist keineswegs verkehrt, nur so vertrackt gebaut, dass man verlockt ist, Horst Hussel seinerseits einer dadaistischen Buchstabenoperation zu unterziehen: Schieben wir das "r" aus dem Vornamen ein paar Stellen weiter in den Nachnamen, dann heißt der gute Mann "Host Husserl". Zweisprachig dechiffriert: Hausherr beim Vater der Phänomenologie, dessen Motto bekanntlich lautete: "Zu den Sachen selbst!" Eben dies ist auch die Stoßrichtung von "Aprillenwetter", Zitat: "Denkst du, was dein Kopf denkt oder was denkst du über dein Denken?" Zu allererst denkt man, sagt Sprachforscher Hussel:

    Woorden. Menselijke woorden von Mensch zu Mensch, hjumän uörds.
    B Worte aus der linken Hälfte des Kopfes, Worte die alles verändern.
    A Hammer- und Sichelworte, ... Schlag- auf Schlagworte, ... Faustrollworte!
    B Worte des Adlers, der Schlange, ... Worte für Nachtgedanken, Bet- und Bittworte, Wortschlacken, ... Wörter wie Blütenträume, ... Traumworte, ...
    A Scheißwörter!: merde!
    B Streichel-Schmeichelwörter, ... Wortgeflüster: pssst! ... Wörter auf Stelzen.
    A Rätselworte: pssst! ... Wortschrei! ... heilende Worte: t-t-t-t, ...p-p-p-p ...
    B Wortschwund, ... Wortblasen: pfff, ... pfff, ... pfff, ...
    A Kanzelworte: pfff, ...
    B Gruß- und Dankesworte, ... Worte des Gärtners, Worte der Magd, ... Wortbrei.
    A Glitzer-Funkelworte, ... Worte des Matrosen Fridolin, Worte der Seejungfrau, ... Worte wie Stahl, ...
    B Kuwitterworte!
    A Worte des Trinkers, ... Wortschwall. Wörter des Frisörs, gesungen.
    B Wörter des Bettlers, des Schamanen, ... Wörter in allen Farben, ...
    A Wund- und Wehworte, ... Wörter für den alsbaldigen Gebrauch bestimmt, ... Wortlaub.


    Horst Hussel: Aprillenwetter
    Friedenauer Presse, 120 Seiten, 18,00 Euro