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Der Mensch als Abbild der Unentschlüsselbarkeit

In den Romanen des französischen Schriftstellers Julien Green ist die Macht des Schicksals ungebrochen. Seine Figuren sind zutiefst einsame, gottverlassene Geschöpfe. Das Gefühl, Spielball eines launenhaften Schicksals zu sein, hat auch Daniel O‘ Donovan, der jugendliche Held der Titelgeschichte des Erzählbandes "Fremdling auf Erden", der 1930 erstmals erschien und jetzt in neuer Übersetzung vorliegt.

Von Gabriele Killert | 01.01.2007
    Das Schicksal als Verursacherprinzip ist in der Literatur schon eine ganze Weile aus der Mode gekommen. In Hollywood- Produktionen oder Soap-operas mag man noch tränenreich daran festhalten, aber dem aufgeklärten Bewusstsein sagt der Begriff eigentlich nichts mehr.

    In den Romanen des französischen Schriftstellers Julien Green aber ist die Macht des Schicksals noch ungebrochen. Obwohl der Autor bereits mit 17 zum Katholizismus konvertierte und -wie man aus seinen Tagebüchern weiß- ein Leben lang den Dialog mit Klerikern suchte und pflegte, ist in seiner Literatur von den Tröstungen der Religion nichts zu spüren. Seine Figuren sind zutiefst einsame, gottverlassene Geschöpfe. Sie leben unter dem Zwang einschnürender Konventionen, aus denen sie sich nur auf dem Wege einer plötzlich über sie herein brechendenden maßlosen Leidenschaft gewaltsam befreien können. Dabei fühlen sie sich nicht für ihre Taten verantwortlich wie der Mörder Gueret im Roman Leviathan, der das Gefühl hat, er habe das Verbrechen eines anderen übernommen oder "seine Untat als Schlafwandler verübt." Von ihm heißt es:

    "Er war wie ein Narr mit verbundenen Augen, dem man wie beim Blinde kuhspiel in die Ohren schrie: "Hier! Dort! Weiter hinten!" Er aber drehte sich im Kreise, lief nach links, nach rechts, lächerlich und erschöpft, von Tag zu Tag ein älterer und tiefer enttäuschter Mann... War das Ganze ein Spiel, ein schlechter Scherz?"

    Das Gefühl, Spielball eines undurchschaubaren "launenhaften" Schicksals zu sein, hat auch Daniel O‘ Donovan, der jugendliche Held der Titelgeschichte des Erzählbandes Fremdling auf Erden, der 1930 erstmals erschien und jetzt in neuer Übersetzung vorliegt.

    Nach dem Tod des Studenten, der den Ermittlern Rätsel aufgibt, findet man seine Tagebuchaufzeichnungen bis zu dem Tag im September 1895, als er auf einem Spaziergang von einem Felsen abstürzt und ertrunken aus dem Fluss gefischt wird. Er beschreibt sich darin als einsamen und schüchternen Menschen, der zu "Anfällen von Traurigkeit" neigt und sich fremd und ungeliebt fühlt im Haus seines mürrischen Onkels, bei dem er nach dem Tod der Eltern aufwächst. Bei der erstbesten Gelegenheit ergreift er die Flucht, um in einem entfernten Provinzstädtchen zu studieren. Doch kaum hat er mit seinen geliebten Büchern ein Zimmer bezogen, suchen ihn rätselhafte Zustände und Albträume heim. Er sieht sich selbst als Doppelgänger in seinem Bett liegen und schwer atmen, von Stimmen verfolgt, sieht sich querfeldein fliehen und plötzlich vor einem brodelnden Abgrund stehen, aus dem "ferne Schreie" heraufdringen. Als seine Bücher plötzlich verschwunden sind und ihm der "andere", der ihn wie ein Schatten begleitet, gesteht, er habe sie verbrannt, verliert er gänzlich den Boden unter den Füßen.

    War der Absturz des Studenten Selbstmord, die Tat eines verwirrten Gemüts, eines Wahnsinnigen? Die Aktennotizen und Zeugenaussagen, die die Erzählung beschließen, legen diesen psychiatrischen Schluss nahe, aber der Autor verweist durch die Multiperspektivik der Erzählung auf den Schwindel aller Erklärungen. Erklärungen erklären nichts. Sie betäuben nur die Angst vor dem undurchdringlichen Schweigen, das uns umgibt.

    (Davon handelt in etwas zu schlüssiger Symbolik die kurze Erzählung ebenfalls mit dem Titel Leviathan. Darin wird der leutselige Kapitän des Frachters Bonne- Esperance durch den einzigen Passagier, den er für die Überfahrt nach Amerika an Bord genommen hat, um sich Unterhaltung zu verschaffen, auf die Folter gespannt. Der Fremde hüllt sich die ganze lange Fahrt über in dumpfes Schweigen. Erst am Ende gesteht er dem Kapitän ein Verbrechen, worauf ihn der Kapitän auslacht, das sei doch "gar kein richtiges Verbrechen". Der Leser erfährt nicht, worum es sich handelt, und so geht die Ungeduld des Kapitäns, der das Schweigen nicht aushält, auf ihn selbst über. Diese Technik der Auslassung hat Green von seinem bewunderten Vorbild Nathaniel Hawthorne übernommen. Was er über dessen Erzählung The ambitious quest einmal geschrieben hat, gilt auch für seine eigenen Texte.

    " Was zählt, ist die Resonanz die die Erzählung im Denken des Lesers hinterläßt. Alles was nicht gesagt wird, ist bewundernswert, damit meine ich die Wahl dessen, was nicht gesagt wird. Man braucht das Geheimnis der Verzauberung nicht anderswo zu suchen."

    Die Welt ist ein großer verschlüsselter Text und der Mensch nicht ihr Dechiffrierer, sondern selbst Abbild der Unentschlüsselbarkeit. Der brodelnde Abgrund, über den sich der Student Donovan im Traum beugt und in den er schließlich stürzt, ist der Mensch selbst. Er ist nicht Herr im Hause, sondern nur das Gehäuse, der stürmisch bewegte Austragungsort uralter Kämpfe und Familienneurosen, die wie schwere Hypotheken weitervererbt werden. So wird der halbwüchsige Protagonist in der Erzählung Die Schlüssel des Todes um ein Haar zum Mörder aus edlen Motiven. Der Gedanke, den Fremden, der sich im Haus eingenistet hat und die hilflose Mutter mit einer alten Familienschande erpresst, umzubringen, steigert sich bis zum Wahn, dessen innere Logik und Logistik Green minutiös beschreibt in immer feinkörnigerer Auflösung und damit immer irrealer und unbegreiflicher erscheinen lässt.

    " Wenn ich diesen Wahnsinn nicht in meine Bücher legte,"

    -so Green in einer Tagebuchnotiz-

    " wer weiß, ob er sich nicht in meinem Leben einnistete. Meine Bücher haben mir vielleicht erlaubt, einen Anschein von Gleichgewicht zu wahren."

    Literatur als eine Art Gegenzauber, magische Gefahrenabwehr. Da uns an einem hoch geschätzten Autor alles, jede Faser und Phase seines Schreibens interessiert, sind wir dankbar für diese von Elisabeth Edl einfühlsam übersetzten frühen Erzählungen, in denen Green die Krisen seiner Adoleszenz, seine frühe Einsamkeit und Melancholie und das explosive Affektgemisch aus Verzweiflung und Sinnlichkeit- in dramatisch zugespitzter Extrapolation verarbeitet hat.

    Der Romancier, der beinah das ganze finstere 20. Jahrhundert schreibend, das heißt mit visionär geschärften Sinnen erlebt hat (er starb 1998 98-jährig), wurde von Lesern immer wieder gefragt, warum er so finstere Bücher schreibe. Es ist wahr, Green steht in der Tradition der großen Desillusionisten von Hugo über den späten Maupassant bis Celine und Beckett. Seine Weltsicht ist durchaus tragisch. Das bedeutet aber auch, dass er seinen Figuren, indem er sie von Schuld entlastet, die Würde des Unglücks belässt. Diese noble melancholische Warte des Mitleidens firnisst sein ganzes Schreiben und darin mag man das "Katholische" an ihm sehen. Momente der Erlösung, des Glücks und eines "wunderbaren Vertrauens auf das Leben" vermitteln uns, so Green, nur die Kunst, das Erlebnis des Schönen, und die Liebe. Sie sind der einzige Trost und Halt in einer von undurchdringlichem Dunkel umgebenen Existenz. Wenn die Seele, so würde Green sagen, dieses höhere Glück nicht begehrt, wenn sich der von seinen Begierden getriebene Mensch nicht (im klassischen Sinn von "Bildung") an edleren Maßstäben ausrichtet, so ist er verloren. Dieser -wenn man so will- älteste Bildungsauftrag der Zivilisation ist die stille, eindringliche Botschaft seiner Romane, mit denen sich dieser große Erzähler in die Tradition der großen Moralisten einreiht.