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Der Mensch als Sandkorn

Die Sahara sei der Garten Allahs, sagen die Marokkaner. Und auch wenn in der Sommerzeit hier Temperaturen von bis zu 50 Grad im Schatten herrschen, findet der Wanderer beim genauen Hinsehen Pflanzen, unterschiedliche Landschaften und Gesteinsformationen in dem scheinbar unendlichen Sandmeer: Eine Reise vom Örtchen Mhamid im Süden Marokkos in die Weiten der Sahara.

Von Henning Mielke | 16.11.2008
    Die Karawane ist fertig zum Abmarsch. Die Stelzenbeine zusammengeklappt, liegen 20 Dromedare im warmen Sand und käuen genüsslich wieder. Um sie herum wirbeln die Chameliers, unsere Wüstenführer und Dromedartreiber, deren Führung wir uns in den nächsten fünf Tagen anvertrauen. Ihre Gesichter sind sonnengegerbt. Zum Schutz vor Sonne, Wind und Staub tragen sie den Chech, einen Turban aus schwarzem oder weißem Baumwollstoff. Auch die meisten Teilnehmer unserer Wandergruppe haben Basecap und Sonnenhut gegen den Chech ausgetauscht, dessen äußeres Ende - vor Nase und Mund gelegt - einen perfekten Staubfilter für die Atemluft abgibt.

    Die Männer haben alle Hände voll zu tun: Zelte, Decken, Matratzen, Gepäck - alles wandert in große Transportkörbe aus Palmfasern. Jeder Handgriff sitzt: Paarweise werden die übervollen Körbe auf dem Rücken der Dromedare festgezurrt - nicht immer zu deren Begeisterung.

    In Mhamid hört die Zivilisation auf. Asphaltstraße, Strom- und Telefonleitung enden in dem öden Dorf am Wüstenrand. Der Sand rückt jährlich näher und näher an die flachen Häuser heran, und eines Tages wird der Ort von der Wüste verschluckt sein. Auf einem Schild am Ortseingang von Mhamid steht zu lesen: 52 Tage bis Timbuktu. Über 1400 Kilometer Wüste liegen zwischen Mhamid und dem legendären Zielpunkt der Handelskarawanen in Mali. Ganz so lang wird unsere Wüstentour nicht sein. Fünf Tage wird unsere 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmer starke Gruppe in der Sahara wandern. Vor dem Abmarsch stellt Salim Azizi, der Chef unserer Führer, uns seine Equipe vor:

    "Ich stelle Euch Mubarak vor. Mubarak ist der König des Tees. Rahmun ist unser Komödiant und zugleich Koch. Ibrahim ist Chamelier."

    Salim ist unübersehbar der Chef: Sein schneeweißer, tadellos gewickelter Chech und die azurblaue Gandurah, ein weites Gewand mit Goldstickerei, betonen seine eindrucksvolle Erscheinung. Unsere Begleitmannschaft zählt 14 Männer. Sie werden dafür sorgen, dass es uns in der Wüste an nichts fehlen wird.

    Die Zivilisation lassen wir schnell hinter uns zurück. Nur wenige Dünen gilt es zu überwinden, und die Gebäude von Mhamid sind aus den Augen. Vor uns nur Sand, Sand, Sand. Der ist erstaunlich dunkel, von einem kräftigen, rötlichen Farbton und fein wie Mehl. Binnen kurzem ist er überall: in den Schuhen, in den Hosenbeinen, in den Haaren. Wir werden uns an seine Allgegenwart gewöhnen. In der Wüste ist vieles anders als erwartet. Wer geglaubt hatte, hier wüchse nichts, staunt über die Bäume, Büsche und Gräser, die im heißen Wüstensand gedeihen. Viele der Gewächse sind giftig und werden für Heilzwecke verwendet, wie uns Salim anhand der Coloquinte erläutert: Sie wächst flach auf dem Sandboden und hat faustgroße Früchte, die wie kleine Melonen aussehen.

    "Die erste Medizin, für die diese Pflanze verwendet wird, ist für den Bauch, wenn man Durchfall hat. Die zweite Medizin ist gegen Hämorrhoiden. Wie benutzt man sie nun? Die Medizin für den Bauch gewinnt man, wenn die Früchte gelb sind. Man öffnet sie und lässt sie zwei Tage in der Sonne trocknen. Dann schält man die Kerne heraus und kocht sie. Sie sind sehr bitter."

    Im Vorbeigehen lernen wir eine Menge über Wüstenpharmazie: die Früchte der Akazie, die gegen Asthma helfen und die süße Rindenabsonderung der Tamariske. Von ihr heißt es, dass sie das himmlische Manna gewesen sein soll, das das Volk Israel bei seiner Wanderung durch die Wüste vor dem Verhungern bewahrte. Dass wir nicht verhungern, dafür sorgen unsere Wüstenführer. Ein Teil unserer Begleitmannschaft ist mit den Dromedaren ein ganzes Stück vorangegangen und wartet am Lagerplatz für die Mittagspause auf uns. Als wir dort eintreffen, ist das Küchenzelt bereits aufgebaut. Darin bereiten Rahmun und Ahmad das Mittagessen vor.

    Den Lagerplatz haben Salims Leute unter zwei Schatten spendenden Bäumen inmitten von Sanddünen hergerichtet. Wir lassen uns auf die ausgelegten Teppiche sinken und werden sogleich mit heißem Pfefferminztee und gesalzenen Nüssen bewirtet. Es ist ein Genuss, von unserem schattigen Platz aus den Blick über die sanft geschwungenen Dünen der Umgebung schweifen zu lassen und dabei aus kleinen Gläschen den würzigen, pappsüßen Tee zu schlürfen. Bald erscheinen Mubarak und Rahmun mit großen Servierplatten, auf denen knackiger Salat, Couscous und gegarter Fisch appetitlich angerichtet sind.

    Die Sorge unserer Begleiter für uns hat etwas fast Mütterliches. Unausgesprochen schwingt darin das Wissen mit, dass wir - wären wir auf uns allein gestellt - in dieser Landschaft leicht umkommen könnten. Salim Azizi bietet seit mehr als zehn Jahren Wüstentouren an. Ihm ist es wichtig, dass die Besucher aus Europa die Wüste intensiv erleben und nicht nur einen oberflächlichen Blick auf die Landschaft werfen.

    "Das Leben in der Wüste ist ein einfaches Leben. Wir machen hier einen sanften Tourismus. Die Leute, die hierherkommen, wollen nicht in einem Fünf-Sterne-Hotel übernachten, sondern wollen wandern und Begegnungen mit den Nomaden haben. Wir zeigen ihnen unsere Kultur. Wir teilen alles mit ihnen. Sechs Prozent des Geldes, das wir mit den Wüstentouren einnehmen, stecken wir in Projekte, die den Nomaden hier draußen helfen. Wir bauen davon Brunnen, versorgen die Nomaden mit Medikamenten, bringen den Nomadenkindern Bücher, Stifte und Kleidung."

    Nach dem Mittagsschläfchen ist die Zeit der größten Hitze vorüber. Das Lager wird abgebrochen, und wir sammeln uns zum Abmarsch. Wem nach der Vormittagsetappe die Füße schmerzen, kann auf einem der Dromedare reiten. Für alle Anderen hat Salim noch einen Hinweis für die vor uns liegende Strecke.

    "In der Ebene, die wir gleich durchqueren werden, kann man Fossilien finden."

    Das ist nicht zu viel versprochen. Schon bald weichen die Dünen, und die Landschaft wandelt sich zu einer Steinwüste. Hier sieht es aus wie auf dem Mars: roter Sand und Steine über Steine. Flüchtig betrachtet sehen sie einer wie der andere aus. Bei genauerem Hinsehen offenbart sich eine große Vielfalt an Formen und Farben. Und tatsächlich finden sich auf der Oberfläche vieler Steine Donnerkeile. Diese länglichen, spitz zulaufenden Versteinerungen sind Skelettreste von Belemniten - Urahnen der heutigen Kalmare. Mindestens 65 Millionen Jahre sind sie alt und erinnern uns daran, dass wir gerade auf einem urzeitlichen Meeresboden wandern. Die Wüste ist für Überraschungen gut. Die meisten der Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Wanderung haben mehr und anderes entdeckt, als sie erwartet haben.

    "Wüste, da hatte ich ein Bild von Sanddünen. Völlig falsch. Wüste ist für mich so ein Ort der Vielfalt an Landschaftsbildern: des Sandes, der Steine - das hat mich überwältigt."

    "Wenn ich die Augen zumache, sehe ich Bilder, wie ich über eine unendliche Weite der Steinwüste gehe, mit Sonnenbrille und Turban und Wasserflasche und mich so was von selbst wahrnehme und mich wohlfühle in dieser Weite."

    "Dass ich in der Wüste die Erfahrung machen kann, mich so zu fühlen wie ein Sandkorn - ein Sandkorn zu sein von den vielen - diese Gleichförmigkeit finde ich anziehend."

    Kurz vor Sonnenuntergang erreichen wir unseren Lagerplatz für die Nacht, der jenseits der steinigen Ebene liegt. Hier beherrschen wieder Sanddünen die Landschaft. Die untergehende Sonne taucht sie in rote Glut - ein faszinierendes Spiel von Licht und Schatten.
    Schnell ist die Dunkelheit hereingebrochen. Salim und seine Leute haben aus dürren Ästen ein Feuer gemacht. Während im Küchenzelt das warme Abendessen gekocht wird, sitzen wir im Kreis um das Feuer.

    Bald haben die Flammen das Holz in glühende Asche verwandelt. Einmal gründlich durchgeharkt und mit Sand bestreut, ist der Wüstenbackofen bereit. Direkt auf den heißen Sand wird ein großer, runder Teigfladen gelegt. Damit das Brot auch Oberhitze bekommt, wird ein Metalldeckel über das Ganze gestülpt. Wir sind müde, hungrig und erfüllt von den Eindrücken des Tages. Am Himmel über der Wüste gehen Millionen von Sternen auf. Im Minutentakt verglühen Sternschnuppen mit Feuerschweif. Während wir auf das Brot warten, haben Salim und unsere Führer beschlossen, die Zeit mit etwas Musik zu vertreiben. Eine alte, rostige Tonne wir zur Trommel umfunktioniert, und schon kann der Spaß losgehen. Es braucht nicht viel, um in der Sahara glücklich zu sein.