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Der Nachbar

Die harmlosesten Menschen können sich in Monster verwandeln, wenn sie sich bedroht fühlen. Zum Beispiel die Bewohner der Bassindale Siedlung. Die Gegend macht ihrem Ruf, ein Auffangbecken für Asoziale zu sein, alle Ehre, und trotzdem versuchen die Leute dort ihr schäbiges Leben so anständig wie möglich zu leben. Als sich jedoch das Gerücht verbreitet, ein strafentlassener Pädophiler habe im Quartier ein Haus bezogen, und als zudem ein Kind verschwindet, geraten die Dinge ausser Kontrolle.

Sacha Verna | 28.08.2002
    Minette Walters schildert in ihrem neuen Roman das Umsichgreifen eines Flächenbrandes. "Der Nachbar" ist ein Buch über echte und falsch verstandene Zivilcourage, über verhängnisvolle Vorurteile, behördliche Nachlässigkeit und pervertierte Gruppendynamik. Die eigentliche Handlung konzentriert sich auf zwei heiße Tage im Juli 2001, an denen in nachbarschaftlicher Einmütigkeit eine ganze Häuserreihe abgefackelt, ein Mann abgeschlachtet und ein Junge versehentlich umgebracht wird.

    Das Protokoll eines Lynchmordes birgt an sich schon die Elemente eines Psychothrillers. Bei Minette Walters wird daraus eine auf psychologischen Thrill angelegte und ziemlich perfekte Mischung aus Puzzlespiel und Milieustudie. Als Meisterin der Mehrfachperspektive setzt die Autorin auch diesmal erfolgreich auf unterschiedliche Blickwinkel und abrupte Szenenwechsel. Eben noch haben überforderte Polizisten in ihrer Einsatzzentrale ein randalierendes Bürgerheer via Video verfolgt, schon befindet sich der Leser in der verbarrikadierten Küche des vermeintlichen Kinderschänders, wo sich ein sadistischer Alter, sein kraftloser Sohn und eine junge Ärztin gegenseitig in Schach zu halten versuchen, während draußen ein von der Menge aufgestachelter Teenager mit Benzinbomben experimentiert. Um die Zahl der Schauplätze und damit die Spannung zu erhöhen, schaltet Minette Walters außerdem gelegentlich in ein Büro, in dem ein Inspektor mit blanken Nerven und einer Engelsgeduld den wahren Kindsentführer verhört und dabei feststellt, dass es sich bei dieser Tat nur um die letzte Konsequenz eines Dramas handelt, das weniger in ein Kommissariat als in die Praxis eines Familientherapeuten gehört.

    Ein weiteres Merkmal der Walterschen Dramaturgie besteht in der Verwendung verschiedener Textsorten. Walters zitiert aus fiktiven Polizeiberichten, aus aufgezeichneten Telefongesprächen, Zeitungsartikeln und psychologischer Fachliteratur. Dadurch verleiht sie der Geschichte Authentizität und verhindert zugleich, dass man sich als Leser allzu vertrauensvoll der Führung einer einzigen Erzählerstimme überlässt. Ganz besondere Sorgfalt verwendet Walters auf die Beschreibung des sozialen Umfelds, in dem sie ihre Romane ansiedelt. In "Der Nachbar" zeichnet sie das detaillierte Bild einer Gesellschaftsschicht, die in demographischen Erhebungen gewöhnlich als "unterprivilegiert" bezeichnet wird: minderjährige Mütter, verarmte Rentner, ehemalige Gefängnisinsassen. Natürlich kommt auch Minette Walters nicht ohne das Gut-gegen-Böse-Schema aus. Doch bemüht sie sich, dem Muster aus Schwarz-Weiss Grautöne hinzuzufügen. Melanie Patterson, die ursprüngliche Inititantin der Hexenjagd, unternimmt im entscheidenden Augenblick alles, um das Schlimmste zu verhindern. Ihr Freund Jimmy James wird zwar zum gefeierten Retter in der Not, aber nicht vom Dieb zum braven Steuerzahler. Nur das gewissenlose Ungeheuer ist und bleibt das gewissenlose Ungeheuer - soviel Klarheit muss sein.

    So wie es immer mehrere Perspektiven gibt, gibt es bei Minette Walters auch immer mehrere Helden. Nicht ein schlauer Fuchs schleppt am Schluss die Lorbeeren davon, sondern ein ganzes Rudel. Die Botschaft der meisten Walters-Krimis lautet: Jeder hat eine Chance, zum Held zu werden, es gilt bloss mutig genug zu sein, die Chance auch zu nutzen. Ob es nun Polizeibeamte mit Einsamkeitsgefühlen sind oder pferdezüchtende Emanzen, Minette Walters Protagonisten ist eines gemeinsam: Sie repräsentieren die wandelnde Durchschnittlichkeit. Wohl gerade deshalb wirken Walters' Spannungsromane im Gegensatz zu vielen anderen kaum je unglaubwürdig.

    Minette Walters zählt auch insofern zu den interessantesten Krimiautorinnen, als sie sich in ihren Büchern an durchaus heikle Themen heranwagt. "Der Nachbar" erinnert fatal an die Krawalle, die in einzelnen englischen Städten ausbrachen, als Lokalzeitungen die Namen und Adressen amtlich registrierter Pädophiler publizierten.

    Was in Europa noch Empörung hervorgerufen hat, ist in den Vereinigten Staaten bereits Gesetz: Da muss die Öffentlichkeit unter bestimmten Umständen sogar über Identität und Aufenthaltsort von Sexualstraftätern informiert werden. Dass Minette Walters nicht zu den Fürsprechern derartiger Regelungen gehört, hat sie mit diesem Roman ebenso deutlich wie unterhaltsam bewiesen.