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Der neue Wilde aus Frankreich

Olivier Dubois' Arrangement charismatischer Tänzerinnen ist ein faszinierendes Experiment. Es hat wenig von der klassischen Inszenierung: Tänzerinnen in schwarzen Miniröcken schreiten im Uhrzeigersinn nach Taktschlag um ihre Stange herum. Alles in einer Revolution, alles hängt davon ab, wie viele Kraft, Mut, Intelligenz wir zu investieren vermögen.

Von Wiebke Hüster | 11.06.2012
    Ein männlicher Choreograf, vierzig Jahre alt, engagiert zwölf sehr unterschiedliche Tänzerinnen und stellt sie an die aus Nachtklubs wie dem Badaboum bekannten Poles - senkrechte, in Boden und Decke befestigte Stangen. Er nimmt dazu Maurice Ravels bekannteste Musik, die vielleicht nervenzerreißendste Komposition des 20. Jahrhunderts, den "Boléro", und vervielfältigt ihre Bestandteile dergestalt, dass die Musik zwei Stunden und fünfzehn Minuten braucht bis zum erlösenden finalen Insichzusammenfallen. Dann nennt er das Stück auch noch "Revolution" - aber: ein Provokateur sei er nicht, sagt der 1972 geborene französische Tänzer und Choreograf Olivier Dubois. Das sei ja auch eine dämliche Strategie, denn sicher könne man darauf setzen, das Publikum von heute zu provozieren und vielleicht würde das funktionieren, aber schon morgen könne, was heute schockiere, nur noch ein Gähnen hervorrufen.

    Im Amsterdamer Bellevue-Theater fühlen sich an diesem Abend dennoch ein gutes Dutzend Zuschauer nicht willens und in der Lage, Dubois' Arrangement charismatischer Tänzerinnen zwei Stunden zu folgen. Dabei ist, wozu er einlädt, ein faszinierendes Experiment. In der ersten halben Stunde schreiten die Tänzerinnen in Einklang mit den Zählzeiten des Bolero-Schlagwerks nur im Uhrzeigersinn um ihre Stangen herum, wobei ihre Körper räumlich exakt gleich ausgerichtet sind. Minimale Variationen ergeben sich, wenn einige der gleichmäßig über Bühnenraum verteilten Frauen das Schritttempo - sechs Schritte sind ein voller Kreis - halbieren. Olivier Dubois:

    "Das ist nicht die ewige Rückkehr zum Nullpunkt, da findet eine Aufladung statt. Mit jeder Umdrehung lädt sich das stärker auf, es ist nie eine Wiederholung, es schreitet voran auch musikalisch. Ich habe den Tänzerinnen während der Arbeit immer wieder gesagt, ihr lauft nicht im Kreis, ihr schreitet voran."

    Immer schwacher wird der Widerstand des Publikums gegen den Sog dieser meditativen Übung. Je länger man umsonst auf den Einsatz der Melodie wartet, desto williger überlässt man sich dem rhythmischen Treiben und vertieft sich in die Betrachtung der einzelnen Frauen. Was man entdeckt? Eine überraschende Befreiung des Empfindens, eine die Neugier befriedigende Möglichkeit, feinste Unterschiede zu beobachten, Favoritinnen auszumachen, zu ergründen, was ihr Ausdruck, ihr stolzer Gang, ihre unerschütterliche Energie, ihr durch keinen Schwindel irritierter Wille bedeuten. Olivier Dubois:

    "Das Modell ist die kopernikanische Revolution - das heißt, die Planeten drehen sich um sich selbst und ziehen doch auf ihrer Bahn voran. Man ist nie am selben Punkt, es ist immer schon etwas passiert. Und plötzlich kommt ein anderer Schritt - und noch einer. Und musikalisch wird das Geschehen auf der Bühne zusätzlich informiert, auch durch das Licht, die Musik, das Licht, meine Augen meine Ohren sagen mir, dass ich voranschreite. Es ist ein Marsch nach vorne, eine Transversale, ich möchte beinahe sagen, ein transhistorischer Marsch."

    Man schaut zu, man schweift ab, man glaubt, man hält das nicht durch, man fühlt sich verpflichtet gegenüber den fantastischen Tänzerinnen, nicht nur durchzuhalten, sondern jeden Moment in sich aufzunehmen, zu begreifen, was da mit einem passiert, während man sich geduldet, sich dem Sog ergibt, von Gedanken wieder herausgerissen wird aus dem Jetzt, dem Moment unabgelenkten Sehens, Hörens und Fühlens.

    Natürlich denkt man an Maurice Béjarts klassische Version des Boléros als Table Dance mit Zuschauern, natürlich erinnern die schwarzen Miniröcke und selbstbewussten Mienen der Tänzerinnen an Anne Teresa de Keersmaekers bahnbrechenden Minimalismus der achtziger Jahre. Olivier Dubois' Arbeit zielt aber noch auf anderes ab als darauf, den Rausch der Postmoderne als eine erkaltete Ekstase vorzuführen. Er zeigt, wie Geduld als Übung, Persistieren als Existenzform die Körper mit einer unglaublichen Präsenz erfüllt, so sehr, dass man ihnen jegliche Macht zur Veränderung der Verhältnisse zutraut. Das zeigt Olivier dann auch, wenn in der letzten halben Stunde alle Bewegung vielfältiger, leidenschaftlicher, komplexer wird. Alles in einer Revolution, das zeigt das Stück brillant, hängt davon ab, wie viele von uns wie viel Kraft, wie viel Mut, wie viel Intelligenz wie lange zu investieren vermögen.