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"Der Nichtwähler ist ja gerade kein radikaler Wähler"

Gabor Steingart, Korrespondent des "Spiegel" in Washington, konstatiert in seinem Buch "Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers", dass unsere Demokratie "nicht prima" sei. Das Parteiensystem zerfalle. Das Grundgesetz habe gerade die Option der Nichtwahl ermöglicht, so Steingart, und schlägt eine Umstellung unserer Demokratie vor.

Gabor Steingart im Gespräch mit Bettina Klein | 13.03.2009
    Bettina Klein: US-Präsident Barack Obama in seiner ersten Rede vor dem Kongress. Eine Begeisterung, die man in deutschen Parlamenten freilich vergeblich sucht. Seit dem Wahlkampf des vergangenen Jahres in den USA bewundern viele hierzulande die Lebendigkeit und Aufbruchstimmung in der amerikanischen Demokratie. Andere halten dagegen, dies sei in Deutschland nicht denkbar und nicht machbar, die Emotionalität hier nicht erwünscht und die starke Personalisierung schon mal gar nicht mit unserem Demokratieprinzip in Einklang. – Gabor Steingart war früher Hauptstadtkorrespondent des "Spiegel" in Deutschland, heute ist er Korrespondent in Washington und er hat die deutschen Verhältnisse in einem Buch aufs Korn genommen, das dieser Tage erscheint und das den sehnsuchtsvollen Blick auf die amerikanische Demokratie anno 2009 nicht unterdrückt. "Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers" heißt es und mit dem Autor haben wir vor der Sendung gesprochen und ich habe Gabor Steingart zunächst gefragt, nicht wählen gehen, ob das im Ernst jetzt seine Empfehlung ist?

    Gabor Steingart: Also erstens tun es immer mehr Menschen, ob wir das wollen oder nicht. Es gab bei der letzten Bundestagswahl mehr Nichtwähler als Angela-Merkel-Wähler. Und ich glaube, Nichtwählen ist eine sehr politische Reaktion, die auch vorgesehen ist von unseren Grundgesetzvätern, für den einen Fall nämlich, dass einem das Angebot insgesamt nicht passt, dass einem vor allem die Spielregeln nicht passen, und ich bin bekennender Nichtwähler, weil ich glaube, nur so können wir die derzeit knappste Ware in unserem politischen Betrieb erzeugen, nämlich Nachdenklichkeit über die Spielregeln. Unsere Spielregeln erlauben keine wirklich direkte Demokratie.

    Klein: Wir alle haben aber doch gelernt, es gibt nichts undemokratischeres als nicht wählen gehen. Das stärkt die Ränder, und je schwächer die großen Parteien, desto wahrscheinlicher ist eine neue Große Koalition. Wo im Grundgesetz steht der Aufruf zum Nichtwählen?

    Steingart: Die Grundgesetzväter haben bei ihrer Konferenz in Herrenchiemsee diskutiert, ob wir einen Wahlzwang haben sollen. Die DDR hat den dann ja später auch eingeführt. Sie kamen zu dem Ergebnis: Nein. Das Nichtwählen ist eine Wahlenthaltung. Ich muss die Möglichkeit haben, nicht zu sagen Ja oder Nein, ich muss die Möglichkeit haben, mich insgesamt zu enthalten einem Angebot, das als unzureichend empfunden wird. Ich kann nicht das bestätigen, was ich nicht will. Deswegen ist ja auch die Wahlenthaltung auch in jedem Parlament denkbar und die Leute machen davon regen Gebrauch. Wir müssen dieses rege Gebrauch machen und diesen Impuls der Nichtwähler nur richtig verstehen. Es ist ein Signal an unser System, dass diese Menschen enttäuscht sind, und ich sage zu Recht enttäuscht sind, und ich glaube, wer in sich reinhorcht, ist selber enttäuscht, dass wir die Euphorie, die demokratische Leidenschaft der 70er-Jahre, heute nicht mehr haben.

    Klein: Einige der Konsequenzen, die Nichtwählen im Gesamtmaßstab bedeuten, habe ich gerade genannt. Viele gehen nicht wählen, das sagen Sie selber. Das Ergebnis ist, was ich gerade gesagt habe: Die Ränder werden eher gestärkt, wir bekommen eine Große Koalition. Weshalb verknüpfen Sie damit wirklich Hoffnungen an Überwindung dieses Systems?

    Steingart: Zu den Rändern noch mal. Die Rechtsparteien beispielsweise sind weit davon entfernt, in den Bundestag einzuziehen, trotz Nichtwählern. Die Ränder, was den rechten Rand angeht, sind nicht gestärkt worden. Die waren interessanterweise da am lebhaftesten, als die Wahlbeteiligung hoch war, Ende der 60er-Jahre nämlich, und seit dem haben wir keine Rechtsparteien im Bundestag, nicht mal in Sichtweite. Wir erleben im Gegenteil den Niedergang von Republikanern, NPD und all diesen undemokratischen Parteien. Der Nichtwähler ist ja gerade kein radikaler Wähler, sondern jemand, der seiner Enttäuschung Ausdruck verleiht und die Hoffnung hat, dass die Parteien diese Enttäuschung richtig deuten und sich reformieren und unser System öffnen, wie es im Übrigen ja in Bayern passiert mit den Freien Wählern. Das System hat sich geöffnet, und eine solche Öffnung des demokratischen Systems, nicht nur eine Erneuerung der Parteien, das ist, glaube ich, gewollt, dass unabhängige Kandidaten Oberbürgermeister werden können, dass unabhängige Menschen Bundespräsident werden können. Warum muss ein Bundespräsident Herrn Westerwelle gefallen? Warum darf über den nicht abgestimmt werden? Warum sind im Bundestag zur Hälfte Abgeordnete, die ihren Wahlkreis direkt verloren haben und über eine Parteienliste einziehen? Das sind alles Konstruktionen aus einer Zeit, die Nachkriegszeit war und die schützen sollte vor einem Volk, das damals nicht demokratisch war, sondern aus dem Faschismus kam. Das ist 60 Jahre her und die Grundgesetzväter waren so klug, eine provisorische Klausel reinzunehmen, dass dieses Grundgesetz eben auch nicht eine Verfassung ist, sondern Grundgesetz. Wir haben das immer wieder aufgeschoben und ich rufe in meinem Buch danach, diese Forderung jetzt aufzunehmen, die auch von den Bürgerrechtlern der DDR vor 20 Jahren noch mal erhoben wurde, nämlich einen Verfassungskonvent zu machen und unsere Demokratie umzustellen, zeitgemäß zu machen, mit Bürgerbegehr, Direktwahl des Bundespräsidenten, Abschaffung dieser Listenkandidaten und ein Stück ähnlicher zu werden dem, was wir in Frankreich und auf so herrliche Weise jetzt in Amerika erleben: eine direkte, schöne Demokratie.

    Klein: Wenn es derzeit ein politisches Projekt in Deutschland gibt, dann ist es nicht die Erneuerung des Parteienstaates, sondern seine Überwindung. Das schreiben Sie ganz deutlich so. Noch mal konkret: Was kommt nach dem Parteienstaat?

    Steingart: Ich verstehe die Frage und ich verstehe auch die Ungeduld. Ich glaube allerdings, es gibt ein Gesetz in der Politik und das heißt, erst die Sehnsucht und dann... Wir müssen erst ein Problem verstehen. Wir haben doch damals – und ich war Mitbegründer in der Kommunalpolitik der Grünen -, wir haben damals erst ein Umweltproblem identifiziert und kannten noch nicht die Technologien, die das Kraftwerk Buschhaus schwefelfrei gemacht haben. Wie sollten wir die auch kennen? – Als in Amerika Martin Luther King gegen die Rassendiskriminierung sprach, gab es noch keinen Obama. Zwischen dem Erkennen eines Problems und einer späteren Lösung liegen manchmal Jahrzehnte. Und heute zu erkennen, dass unser Parteienstaat erstarrt ist, keinen jungen Menschen mehr anspricht, die Demographie dieser Parteien aussieht, als wenn ein Krieg stattgefunden hätte, keine jungen, keine Männer zwischen 25 und 45 engagieren sich, das als Problem zu erkennen, ist der erste Schritt und daraus ergibt sich eine Diskussion - und dazu will ich anregen –, über Erneuerung.

    Klein: Sie haben interessanterweise gerade die DDR-Bürgerrechtler angesprochen. Die wollten ja in ihrer Mehrzahl vor 20 Jahren keine Vereinigung mit der Bundesrepublik, auch mit dem Argument des ihnen erstarrt erschienenen Parteienapparates mit den Hierarchien und Hackordnungen, wie sie das empfunden haben.

    Steingart: Genau!

    Klein: Sie schreiben, Herr Steingart, wir erleben den Zerfall eines Herrschaftssystems, auch wenn der in Zeitlupe abläuft. Wir haben so was vor 20 Jahren im Osten Deutschlands erlebt. Erwarten Sie im Ernst eine ähnliche Entwicklung hier?

    Steingart: Das Parteiensystem zerfällt, und zwar die Menschen entziehen ihm die Legitimation. Das ist doch ganz klar. Angela Merkel hat noch von der Absolutheit der Wähler 25 Prozent gehabt bei der letzten Wahl. Der Rest hat andere Parteien gewählt oder nicht gewählt. Klaus Wowereit, ein sehr krasses Beispiel, ist als Regierender Bürgermeister vereidigt worden, obwohl die SPD nur 18 Prozent der Stimmen aller Wahlberechtigten bekommen hat. Vergleich: Willy Brandt – und da war er noch nicht mal Oberbürgermeister in Berlin –, hat knapp 50 Prozent aller Wahlberechtigten und weit über 50 Prozent der Wähler damals bekommen. Wir haben Legitimationsverluste im System, das ist ein stiller Abschied, ja, das ist ein stiller Abschied aus einem System, das von den Leuten nicht mehr als ihres akzeptiert wird. Eine letzte Zahl noch: 70 Prozent haben in Frankfurt nicht gewählt, trotz einer beliebten Oberbürgermeisterin, weil sie dieses System nicht für sich als sinnvoll mehr erachten, und wir müssen das zur Kenntnis nehmen. Es nützt nichts, wenn wir in den Medien und die politisch Interessierten, die sich artikulieren, immer sagen, unsere Demokratie ist prima. Sie ist nicht prima. Es gibt Missstände, die bleiben auch dann Missstände, wenn sie innerhalb der Demokratie stattfinden. Ich will dem eine Stimme geben und will die Nichtwähler ermuntern, ihr Schweigen zu brechen, sich zu beteiligen an unserer Diskussion, ihre Unzufriedenheit und ihre Erwartungen zu artikulieren in dieser Debatte.

    Klein: Meine Erinnerung an Ihre "Spiegel-Online"-Kolumnen im vergangenen Jahr war auch, dass Sie ein bisschen gegen gehalten haben, was die Obamania anging. Sie waren, erschien mir, im Wahlkampf 2008 nicht ganz so begeistert. Was hat Sie jetzt umgestimmt?

    Steingart: Das sind zwei Dinge, die man auseinanderhalten muss. Ich war sehr skeptisch, was ihn und seine Erfahrung angeht, und habe in meinen Kommentaren, also da wo Meinung gewünscht und erlaubt ist, für Hillary Clinton plädiert, weil ich glaube, dass sie eine starke Politikerin ist. Ich kenne sie persönlich, ich habe mir einen Eindruck verschaffen können, sie war in Berlin, wir waren Abends essen, wir haben uns hier getroffen während des Wahlkampfes. Sie ist eine sehr erfahrene Kandidatin gewesen und ich hielt sie für die bessere Kandidatin.
    Ich schwärme heute weniger für Obama als für das demokratische Feuer, das er ausgelöst hat, für das System, das es möglich macht, dass ein junger Mann in diesem Alter – so jung nun auch wieder nicht, aber für einen Politiker jung –, am Küchentisch beschließen kann, ich werde Präsidentschaftskandidat, ich trete an. Er hebt die Hand und er macht seine Kampagne. Das ist bei uns nicht denkbar und ich streite ja nur dafür, das möglich zu machen. Deswegen muss man nicht alle Schritte, die Herr Obama jetzt tut, bejubeln. Das tue ich nicht, das tut der "Spiegel" nicht und bei vielem ist Skepsis angebracht. Aber diese Art, Demokratie so direkt zu machen und mit dem Volk so direkt zu sprechen, die ist beeindruckend.

    Klein: Und der Funke der Begeisterung kann sehr wohl überspringen nach Deutschland?

    Steingart: Ich glaube, wir haben es mit Zeitverzögerung mit einem Vorgang zu tun, der in seiner historischen Dimension durchaus vergleichbar ist den Vietnam-Protesten, und später auch Woodstock, oder noch später auch dem dritten Weg von Bill Clinton. Von hieraus gehen Schwingungen aus, politische Schwingungen, auch nach Europa, die sich nicht Eins zu Eins übersetzen, aber in diesen Schwingungswellen liegt ein Stück demokratisches Erwachen, würde ich es nennen, und das wird sich übertragen, überall nach Europa, und es wird die Sehnsucht nach einem direkten Mitwirken von Menschen geben und nach einer direkten Kommunikation, über Internet und Veranstaltungsforen, wie wir das hier jetzt sehen, und da wird ein Stück Amerika nach Europa kommen. Da bin ich sicher. Wir sehen ein Stück unserer eigenen Zukunft, wenn wir derzeit nach Washington gucken.

    Klein: Ein Gespräch mit dem "Spiegel"-Autor Gabor Steingart über sein neues Buch "Die Machtfrage. Ansichten eines Nichtwählers".