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Der Panthersprung nach Agadir

Mit dem Einmarsch der eigenen Truppen in Marokko löst Frankreich am 19. April 1911 die zweite Marokko-Krise aus. Aber auch an den Großmachtsphantasien der Deutschen gibt es seitdem nichts mehr zu deuteln.

Von Konstantin Sakkas | 19.04.2011
    Als am 19. April 1911 der französische General Charles Moinier den Befehl zum Einmarsch in Marokko erhält, steht Europa am Rande eines Krieges. Sultan Abdelhafid hatte die Franzosen zur Hilfe gerufen, um einen Berberaufstand niederzuschlagen. Und schon kurz darauf besetzen die Interventionstruppen die Städte Fès und Rabat. Damit wird der lokale zu einem weltpolitischen Vorgang, denn Marokko ist als eines von wenigen afrikanischen Ländern noch nicht kolonialisiert.

    Der französische Eingriff bedroht insbesondere deutsche Wirtschaftsinteressen. Der Direktor der Hamburg-Marokko-Gesellschaft, Wilhelm Regendanz, setzt einen Hilferuf an die Admiralität in Berlin ab; der Staatssekretär des Auswärtigen, Alfred von Kiderlen-Wächter, hat zwar eigentlich kein Interesse an Marokko, will aber dennoch Stärke gegenüber Frankreich zeigen. Am 30. Juni ergeht deshalb folgende Note an die europäischen Mächte:

    "Deutsche Handelshäuser, die im Süden von Marokko, und insbesondere in Agadir, ansässig sind, fühlen sich durch die Stimmung unter den einheimischen Stämmen beunruhigt, die offenbar durch die jüngsten Ereignisse hervorgerufen worden ist. Diese Handelshäuser haben sich an die deutsche Reichsregierung mit der Bitte gewandt, ihnen den Schutz ihres Lebens und ihrer Güter zu gewährleisten. Auf diese Bitte hin hat sich die Regierung entschlossen, ein Kriegsschiff in den Hafen von Agadir zu entsenden, um ihren Untertanen und Schutzbefohlenen nötigenfalls Hilfe und Beistand zu leisten sowie die vitalen deutschen Interessen in den genannten Gebieten zu wahren."

    Bereits einen Tag später, am 1. Juli 1911, langt das deutsche Kanonenboot "Panther" vor Agadir an. Der "Panthersprung nach Agadir" löst eine internationale Krise aus. Ziel der deutschen Marokkopolitik ist es, einen Keil zwischen Frankreich und England zu treiben, die seit 1904 in der Entente miteinander verbündet sind. Doch dieses Kalkül geht nicht auf. Englands Schatzkanzler David Lloyd-George hält am 21. Juli eine Rede, die berühmt werden wird:

    "Ich würde große Opfer für den Frieden bringen. Ich weiß, dass nichts eine Störung des internationalen Friedens rechtfertigen könnte, außer einer Frage von größtem nationalem Interesse. Sollten wir aber mit einer Situation konfrontiert werden, in der wir den Frieden nur bewahren können, indem wir die großartige und wohltätige Stellung in der Welt aufgeben, die Großbritannien über Jahrhunderte durch Heroismus und Überwindung gewonnen hat, dann sage ich mit aller Deutlichkeit, dass ein Frieden um diesen Preis eine Erniedrigung wäre, die ein großes Land wie unseres niemals dulden könnte."

    Damit war klar, dass England im Zweifel Deutschlands Position in Marokko nicht unterstützen würde. Am 4. November 1911 wird in Berlin schließlich der Marokko-Kongo-Vertrag unterzeichnet: Deutschland erkennt Marokko als französisches Protektorat an und erhält dafür Gebietszuwächse in Südwestafrika.

    Die zweite Marokkokrise markiert den Höhe- und Endpunkt des "Wettlaufs um Afrika". Schon 1905 hatte Frankreich versucht, in Marokko ein Kolonialregime zu installieren und damit die erste Marokkokrise ausgelöst. Damals fand man auf der Konferenz von Algeciras einen Ausgleich, und auch 1911 waren Kaiser Wilhelm II. und seine Regierung eher Friedensbewahrer als Kriegstreiber.
    Aber die politische Rechte in Deutschland, vor allem die Alldeutschen und führende Wirtschaftskapitäne, war mit dem versöhnlichen Ausgang der Marokkokrise höchst unzufrieden; für sie war der große Entscheidungskampf zwischen Deutschland und den Entente-Mächten nur aufgeschoben, wie der Historiker Heinrich August Winkler resümiert:

    "Wie in anderen Fällen von wilhelminischer Weltpolitik hatte auch in der zweiten Marokkokrise Prestige Vorrang vor Interesse. Deutschland war wirtschaftlich sehr viel stärker als Frankreich. Es brauchte auch, anders als sein Nachbar links des Rheins, keine Kolonien und Protektorate, um das Trauma einer Niederlage und des anschließenden Verlustes von Gebieten zu bewältigen. Deutschland schickte sich an, England wirtschaftlich zu überrunden. Aber das alles reichte der politischen Rechten nicht. Deutschland sollte von der Großmacht, die es längst war, zur führenden Weltmacht aufsteigen: Daran gab es seit der Marokkokrise von 1911 nichts mehr zu deuteln."