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Der Philosoph und der Fussball

"Alles was ich im Leben über Moral oder Verpflichtungen des Menschen gelernt habe, verdanke ich dem Fußball." Das sagte einmal Literaturnobelpreisträger Albert Camus. Der Franzose, Philosoph und begeisterter Torhüter, wäre am 7. November 100 Jahre alt geworden.

Von Hans Woller | 10.11.2013
    Ein einzigartiges Dokument aus französischen Fernsehenarchiven zeigt ein Erstligaspiel vom 23. Oktober 1957 im Prinzenpark zwischen Racing Paris und AS Monaco. Unter den 35.000 Zuschauern steht Albert Camus, genau eine Woche nachdem er von der königlichen Akademie in Stockholm zum Literaturnobelpreisträger erklärt worden war. Der Fan des Hauptstadtclubs – die obligatorische Zigarette im Mundwinkel, mit Trenchcoat, Krawatte und dem Flair eines Humphrey Bogart – kommentiert als ehemaliger Torwart der Jugendmannschaft von Universitätsclub Racing Algier einen Fehler des Pariser Torwarts:
    "Man darf ihm keinen Vorwurf machen. Erst wenn man selbst mitten im Wald steht, merkt man, wie schwer es ist. Ich war selbst Torhüter bei RUA in Algier. Die hatten übrigens dieselben Farben wie Racing Paris."

    In den Jahren 1929 und 1930 stand Camus als Jugendlicher bei Racing Universitaire Algeruios (RUA) zwischen den Pfosten. Bei dem Halbwaisen aus ärmlichsten Verhältnissen mit einer Mutter, die weder schreiben noch lesen konnte, wurde Tuberkulose diagnostiziert. Doch die wenigen Jahre in zwei Fussballmannschaften Algiers, die teils auf dem Truppenübungsplatz der Stadt spielten, sollten in Camus' Augen stets eine Schule fürs Leben bleiben. Sie begann damit, dass er Torwart wurde, weil er so sein einziges Paar Schuhe am wenigstens abnutzte und den Ochsenziemer der strengen Grossmutter weniger zu fürchten hatte.

    1953 hatte der fussballverrückte Camus, der sich über seinen geliebten Sport nie theoretisch geäussert hat, sondern stets nur seine Fussballeidenschaft ausleben wollte, für die Vereinszeitung seines ehemaligen Clubs RUA einige Erinnerungen aufgeschrieben:

    "Jeden Sonntag fieberte ich dem Donnerstag entgegen, wenn wir Training hatten und an jeden Donnerstag dem Sonntag, an dem gespielt wurde. Das Spielfeld hatte mehr Schrammen, als das Schienbein eines Mittelfeldspielers der gegnerischen Mannschaft. Ich begriff sofort, dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben, vor allem für das Leben in der Hauptstadt, wo die Menschen nicht ehrlich und gerade heraus sind. Mir war nicht klar, dass ich mit diesem Verein eine Bindung einging, die Jahre lang halten sollte und nie zu Ende ging. Ich ahnte nicht, dass mich noch 20 Jahre später in den Straßen von Paris oder von Buenos Aires – das ist mir tatsächlich passiert – das dämlichste Herzklopfen überkommen würde, wenn ein Freund oder Bekannter das Wort des Clubs RUA aussprach."

    In seinen Pariser Zeiten, als er schon weltberühmt war, blieb das Fussballstadion für Camus ein Ort, den er gerne mit dem Theater verglich und wohin er, wie auch an jenem Oktobertag 1957, dem linksintellektuellen Milieu von Saint Germain des Pres und den Pariser Salons entfliehen konnte. Das hinderte ihn nicht daran, von der Stadiontribüne aus sehr selbstbewusst seinen Nobelpreis zu kommentieren:

    "Es gab sicher zwei, drei Schriftsteller hierzulande, die hätten vor mir ausgezeichnet werden müssen. Da die Akademie nun aber offensichtlich einen französischen Schriftsteller auszeichnen wollte, hat sie vielleicht die Gelegenheit genutzt zu zeigen, dass Frankreich manchmal auch ein jüngeres Gesicht haben kann, als man allgemein annimmt"

    In seinem letzten Prosawerk – "Der Fall" von 1956 – lässt Camus seinen Protagonisten sagen: "Nur im Fußballstadion und im Theater kann ich mich noch völlig unschuldig fühlen."

    Für den Nobelpreisträger – das bestätigten viele seiner Freunde – stand Fussball auf derselben Ebene wie Journalismus oder Theater. Ein Rahmen, ein Milieu, in dem Camus seine Freude ausleben konnte, in einem Kollektiv zu arbeiten, wo er so etwas wie menschliche Wärme und Brüderlichkeit vorfand. Er schrieb dazu:

    "Unser Verein spielte klassisch, nach dem Lehrbuch, wie man so sagt, und verlor selbst die Spiele, die er nun wirklich hätte gewinnen müssen. Dies soll sich nun ändern, aber ich hoffe nicht zu sehr. Denn genau dafür habe ich schließlich meine Mannschaft so geliebt. Nicht nur wegen des Siegestaumels, der um so herrlicher ist, wenn man die Erschöpfung nach der ganzen Anstrengung spürt, sondern auch wegen dieser Abende nach einer Niederlage, wenn einem zum Heulen zumute war."

    1940, im Alter von 27, dürfte Camus ein letztes Mal auf einem Fussballfeld gestanden haben.
    "Als ich noch einmal meine Stollenschuhe anzog, merkte ich, dass ich nicht erst gestern das letzte Mal gespielt hatte. Noch vor Ende der ersten Halbzeit hechelte ich wie ein Hund aus der Kabylei, der um zwei Uhr Nachmittags in der Augustsonne durch Tizi Ouzou getrottet ist."

    Camus' Tochter, Catherine, unterstreicht heute noch die Bedeutung, die der Fussball im Leben ihres Vaters hatte und etwa die Metapher vom Pass im Fussball, der Pass, der für Solidarität stehe und einem klar mache, dass man ohne den anderen gar nichts sei. Und sie erinnert sich daran, wie Camus in den letzten drei Jahren vor seinem Unfalltod 1960, nachdem er mit dem Geld des Nobelpreises ein Anwesen im südfranzösischen Lourmarin erworben hatte, ein begeisterter Anhänger des örtlichen Fussballvereins wurde, dem er auch schon mal die Trikots bezahlte:

    "Er war oft im Fussballstadion, hat die Jugendmannschaft von Lourmarin unterstützt. Es war ein Stadion mit einfachen Zementtribünen. Immer, wenn er hier war, ging er zu den Spielen und stritt mit den anderen Fans. Er hatte einen ganz besonderen Feind, den Fischhändler aus dem Nachbardorf Bonnieux, das muss ziemlich beeindruckend gewesen sein, sie haben sich richtig beschimpft. Er liebte den Fußball wirklich sehr."

    Ob Albert Camus auch heute noch den Millionärsfußball unter seinen kommerziellen Auswüchsen lieben würde, darf bezweifelt werden. Vielleicht wäre er aber trotzdem stolz, seitens seiner Mutter spanischer Abstammung, damit amtierender Fussballwelt- und Europameister zu sein. Und wirklich spannend wäre es zu wissen, was der Algerienfranzose Albert Camus wohl zum legendären Kopfstoss des Kabylen Zinedine Zidane im WM-Finale von 2006 gesagt hätte.