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Atomkraft in der Kostenfalle, Teil 1
Die Folgekosten des Super-GAUs

Am 11. März 2011 zerstörte ein Tsunami vor der japanischen Küste 500 Kilometer Küste und tötete geschätzte 18.000 Menschen. Im Atomkraftwerk Fukushima fiel der Strom aus. Es kam zu Kernschmelzen – die menschlichen, radioaktiven und wirtschaftlichen Folgen sind bis heute spürbar.

Von Dagmar Röhrlich | 07.03.2014
    Jule Reimer: Welche wirtschaftlichen Folgen hatte die Atomkatastrophe von Fukushima Daiichi?
    Dagmar Röhrlich: Um einen Eindruck zu vermitteln, was ein Super-Gau für eine Volkswirtschaft bedeutet, hier zunächst einfach eine längst nicht vollständige Aufzählung: Das Geld für Sicherung und Rückbau der havarierten Reaktoren muss aufgebracht werden und für Ausgleichszahlungen an die mehr als 160.000 Evakuierten. Dazu kommen die Kosten für Dekontaminierung und das gesundheitliche Überwachungsprogramm von zwei Millionen Betroffenen, plus die Kosten für die Lebensmittelüberwachung.
    Japan hatte zwar Glück, weil der größte Teil der Radioaktivität auf das Meer hinaus getrieben worden ist. Aber trotzdem war und ist die landwirtschaftliche Produktion schwer in Mitleidenschaft gezogen, ebenso die Fischerei. Mehr als 100.000 Menschen verloren ihre Arbeit, weil Firmen aufgrund des Reaktorunfalls schließen mussten. Diese Schließungen wirkten sich rund um die Welt aus, denn es waren auch große Chip-Hersteller betroffen. Es kam zu Engpässen, weil beispielsweise ein Unternehmen ausfiel, das für 40 Prozent aller Autofabriken weltweit Mikrochips liefert. Auch ein Hersteller von Zahnspangen konnte nicht weiter produzieren, was auch Verbraucher in Europa traf, denn diese Zahnspangen waren wegen ihrer Qualität sehr geschätzt.
    Japans Lebensmittelexporte gingen zurück, der Tourismus brach ein. Außerdem hing die Stromversorgung des Landes plötzlich von immensen Öl-, Kohle- und Gasimporten ab, da alle 50 Kernkraftwerke abgeschaltet wurden.
    Jule Reimer: Um welche Dimensionen handelt es sich da?
    Dagmar Röhrlich: Die Kohle-, Öl- und Gasimporte sorgten 2011 zusammen mit dem Rückgang der Exporte durch die großen Katastrophen für das erste Handelsbilanzdefizit Japans seit 32 Jahren - und zwar für ein Minus von 24 Milliarden Euro. 2013 schlugen die Kosten für die Kohle-, Gas- und Öl-Importe mit einem Handelsbilanzdefizit von 82 Milliarden Euro zu Buche. Das ist das größte Defizit seit Beginn der Aufzeichnungen. Gleichzeitig schwächen die hohen Energiepreise die Wettbewerbsfähigkeit des Landes: Die Internationale Energieagentur erklärt, dass Japan fünfmal so viel für Gas zahlt wie die USA. Außerdem sind die Strompreise für Unternehmen stark gestiegen.
    Jule Reimer: Was dürfte denn der Rückbau kosten?
    Dagmar Röhrlich: Das Japanische Zentrum für Wirtschaftsforschung in Tokio geht davon aus, dass für Rückbau und Kompensationszahlungen 144 Milliarden Euro gezahlt werden müssen. Aber es lassen sich alle möglichen Zahlen dazu finden.
    Allein für die Arbeiten in Fukushima Daiichi werdeZahlen zwischen 14, 20, 75 oder 82 Milliarden Euro genannt, je nachdem, wen man fragt. Tepco tendiert zu den niedrigeren Zahlen, manche Politiker und die ausländischen Experten zu den höheren.
    Aber eigentlich lässt sich derzeit über die Kosten nur philosophieren. So ist noch völlig unklar, wie in zehn Jahren die Kernschmelzen aus den Reaktoren herausgeholt werden sollen. Die Pläne sehen vor, die Sicherheitsbehälter zu fluten, denn Wasser schirmt die Strahlung ab, und Tepco hofft so sicher arbeiten zu können. Nur wird das nach Meinung vieler Experten nicht gehen, denn die Sicherheitsbehälter haben durch Kernschmelzen und den Explosionen Leckagen, und außerdem laufen so viele Leitungen und Rohre durch sie hindurch zum Reaktordruckbehälter, dass sie wohl auch nicht dicht zu bekommen sind. Alternative Methoden müssen erst noch erforscht werden. Und weil wegen der hohen Strahlung wahrscheinlich die Demontage ohnehin fernbedient erfolgen muss, kommen auch die Kosten für die Entwicklung von "geländegängigen" und strahlenresistenten Robotern dazu. Es wird also beliebig teuer.

    Jule Reimer: Und die Kompensationszahlungen für die Evakuierten?
    Dagmar Röhrlich: Da erwartet der inzwischen unter staatlicher Kontrolle stehende Betreiber Tepco laut einer Pressemitteilung aus dem Januar Kosten von 29 Milliarden Euro. Die US-Organisation "Ärzte für soziale Verantwortung" erklärt, dass anscheinend viele Evakuierte nur kleine Zahlungen erhielten und sogar die Raten für ihre Häuser zahlen müssten, zu denen sie wohl nie zurückkehren können. Aber das sage ihnen niemand. Derzeit erhalten die Evakuierten Kompensationszahlungen für den Verlust ihres Eigentums, ihres Jobs und rund 700 Euro für den emotionalen Stress. Letztere sollen wegfallen, sobald sie in ihre Häuser zurückkehren. Das wünschen sich die Regierung und Tepco sehr. Ab dem 1. April sollen beispielsweise die ersten der 30.000 Einwohner der Kleinstadt Tamura - die liegt in der 20-Kilometer-Sperrzone - wieder "nach Hause". Dort sei es sicher, denn der Grenzwert von 20 Millisievert pro Jahr werde unterschritten. Die Hoffnung ist, dass mit der Zeit so viele Menschen zurückkommen, dass sich in den weniger belasteten Gebieten neues wirtschaftliches Leben entfalten kann. Derzeit gibt es dort gar nichts.
    Dagmar Röhrlich: Wo liegen die Schätzungen für die Kosten der Dekontaminierung?
    Auch bei diesem Thema lässt sich über die Endabrechnung nur philosophieren. Von 20 Milliarden Euro ist die Rede, andere halten mehr als 40 Milliarden Euro für möglich. Derzeit stehen jedoch noch nicht einmal die Methoden fest, nach denen gearbeitet werden soll. Bislang sind nur einzelne Plätze dekontaminiert worden: Mit Hochdruckreinigern werden in den Gemeinden Gebäude, und die obere Schicht des Gartenbodens wird abgetragen. Weil es für die Lagerung der Abfälle kein Konzept gibt, werden sie derzeit - in Plastiksäcken verpackt - einfach irgendwo verbuddelt.
    Jule Reimer: Und bei den landwirtschaftlichen Nutzflächen?
    Dagmar Röhrlich: Da gibt es zwar Reinigungsversuche, mehr jedoch nicht. Die Dekontaminierung ist aber auch wirklich sehr schwierig. Ein Grund ist die Topographie. im flachen Gebiet um Tschernobyl wurde einfach in den weniger belasteten Gebieten der oberste Meter Erde tiefgründig umgepflügt und die Belastung so verdünnt. In Fukushima ist die Landschaft gebirgig, und die Hänge sind bewaldet. Diese Wälder sind kontaminiert, und damit auch das Grundwasser, das dort entsteht und ins Tal zu den Feldern fließt, ebenso der abfließende Regen oder die Schneeschmelze. Es gibt Ideen, alle Wälder abzuholzen, aber das würde eine neue ökologische Katastrophe bedeuten und die Hänge instabil machen. Experten wie die der Internationalen Strahlenschutzorganisation UNSCEAR raten deshalb der Regierung, gezielte Methoden zu entwickeln, die auf den jeweiligen Standort, die Bodenbeschaffenheit und auch die Pflanzen abgestimmt sind.
    Jule Reimer: Wer zahlt das alles?
    Dagmar Röhrlich: Tepco wird das nicht tragen können. Die Regierung fürchtet jetzt schon die Insolvenz. Ein Teil wird deshalb wohl bei den Steuerzahlern und Verbrauchern hängen bleiben. So hat Tepco im Sommer 2012 eine Finanzspritze von der Regierung erhalten: Neun Milliarden Euro - und dafür erhielt die Regierung einen Mehrheitsanteil, kann über die Besetzung der Chefposten bestimmen.
    Außerdem überlegt die japanische Regierung, ob nicht alle Atomreaktoren Japans von einer einzigen Gesellschaft betrieben werden könnten. Anteilseigner sollen unter anderem die großen japanischen Energiekonzerne sein - und ein Teil der Gewinne könnte dann dazu verwendet werden, die Kosten für die Aufräumarbeiten in Fukushima Daiichi zu bezahlen.
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