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Der Prototyp eines Berufspolitikers

Es gab Zeiten, da wurde der Vorsitzende der SPD "Kaiser der Arbeiter" genannt: Als August Bebel 1913 mit 73 Jahren starb, folgten Tausende seinem Sarg. Jürgen Schmidt wirft 100 Jahre später einen klugen Blick auf Leben und Wirken des sozialdemokratischen Gründervaters.

Von Ralph Gerstenberg | 12.08.2013
    Nicht erst im Wahljahr 2013, schon seit Langem mangelt es den Sozialdemokraten an einer Identifikationsfigur, einer Persönlichkeit mit Charisma und Überzeugungskraft, die glaubwürdig für soziale Gerechtigkeit, Bildung und Chancengleichheit eintritt und die Bevölkerung mit ihren Ideen und ihrer Integrität mitreißt und euphorisiert. August Bebel, einer der Gründerväter der sozialdemokratischen Bewegung, war eine solche Figur, auch wenn er es in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wesentlich leichter hatte als heutzutage Steinbrück und Co, denn er war Teil einer Bewegung, von der die Massen der Arbeiterschaft ergriffen wurden, meint der Historiker und Bebel-Biograf Jürgen Schmidt.

    "Das ist natürlich auch bedingt durch dieses ganze sozialdemokratische Milieu, das in den 1870er, -80er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges entstanden ist, das es so heute natürlich nicht mehr gibt. In einzelnen Stadtteilen haben teilweise 90 Prozent Sozialdemokratie gewählt. Und das ist ja heute, in der doch eher individualisierten Gesellschaft so nicht mehr gegeben, wo man einfach breitere Wählergruppen auch ansprechen muss. Daher hatte Bebel es im 19. und frühem 20. Jahrhundert einfacher, weil es eine klare Ausrichtung der Partei gab, das Milieu war in sich geschlossen, die konnten mit Begriffen wie 'Klasse' und 'soziale Gleichheit' etwas sehr Konkretes anfangen."

    In seiner Bebel-Biografie beschreibt Jürgen Schmidt nicht nur den Aufstieg des bildungshungrigen Drechslergesellen zu einer Lichtgestalt der Sozialdemokratie, sondern auch das gesellschaftliche Umfeld, in dem sich aus Bildungsvereinen für Arbeiter und Gewerbetreibende nach und nach politische Vereinigungen formierten. August Bebel war noch damit beschäftigt, seine Drechslerwerkstatt in Leipzig zu einem mittelständischen Unternehmen zu erweitern, als er parallel dazu seine politische Karriere startete. Er wurde Vorsitzender des Leipziger Arbeiterbildungsvereins und entwickelte sich durch die Bekanntschaft mit Wilhelm Liebknecht sowie den Einfluss der Schriften von Karl Marx und Friedrich Engels von einem liberalen zu einem linken Politiker.

    "Es gibt ja so zwei Richtungen, die eine um Ferdinand Lasalle, der früh mit dem Begriff 'Arbeiterklasse' gedacht hat, der auch soziale Ungleichheit in den Vordergrund gestellt hat. Und auf der anderen Seite eben diese liberale Arbeiterbewegung, zu der dann August Bebel gehört, die zunächst mal sehr stark darauf abgezielt hat, dass die Arbeiter sich selbst helfen müssen, durch Bildung, durch ihre eigene Arbeit Fortschritte zu machen. Bebel hat dann erst in so einem Prozess, der sich von 1861 bis 1865 hingezogen hat, so langsam – wie er auch selber sagt – den Weg nach links gefunden. Er gehört eindeutig zu diesen Gründervätern der Sozialdemokratie, der Arbeiterbewegung, kommt aber aus einer liberalen Richtung."

    Mit Liebknecht gründete Bebel 1869 die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands, die 1875 mit dem von Ferdinand Lasalle gegründeten Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zur Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands fusionierte. 1892 wurde Bebel, gemeinsam mit Paul Singer, Vorsitzender dieser Partei, die sich seit 1890 Sozialdemokratische Partei Deutschlands, kurz: SPD, nennt. Bebel war inzwischen zu einer zentralen Figur der sozialdemokratischen Bewegung geworden.

    Er hatte wegen Hochverrats und Majestätsbeleidigung im Gefängnis gesessen, vor mehr als 5000 begeisterten Menschen in Leipzig gesprochen und 1879 sein Buch "Die Frau und der Sozialismus" publiziert, das mit 140.000 verkauften Exemplaren zu einem Bestseller avancierte. Darin formulierte er utopische Vorstellungen über die sozialistische Gesellschaft und forderte die Gleichberechtigung der Frau, wobei er wohl auch seine eigene Frau Julie im Blick hatte, die ihre gemeinsame Tochter aufzog, das Familienleben, teilweise auch die Firmengeschäfte managte und ihren Mann bei seiner politischen Arbeit nach allen Kräften unterstützte.

    "Es gibt durchaus einige Absätze, wo deutlich wird, dass Bebel eindeutig für diese Gleichstellung der Frau ist. Aber es gibt eben auch einige Stellen in dem Buch, wo deutlich wird, dass die Frau schon auch das Verständnis für die politischen Aktivitäten von ihrem Mann aufbringen soll. Auch das wird von Bebel schon durchaus als Emanzipation gesehen, dass die Frau in Politikerhaushalten ihren Mann unterstützt. Sozusagen indirekt auch davon profitiert, von dem, was ihr Mann macht, aber man kann das durchaus ambivalent interpretieren. Wenn man ein bisschen tiefer in die Analyse einsteigt, kann man noch so die eine oder andere Schattierung rauslesen."

    Der Hinweis auf solche "Schattierungen" unterscheidet Jürgen Schmidts Buch über August Bebel von vorangegangenen Biografien - beispielsweise von der von Brigitte Seebacher-Brandt. Schmidt sieht in Bebel den Prototyp eines Berufspolitikers, der jedoch stets darauf bedacht war, von der Partei finanziell unabhängig zu sein. Als Unternehmer und Buchautor hatte er es zu erheblichem Wohlstand gebracht. So residierte der Arbeiterführer in einer Villa am Zürichsee. Erstaunlicherweise schadete dieser Reichtum nicht seiner Glaubwürdigkeit.

    "Das lag daran, dass Bebel als Beispiel für jemanden stand, der es geschafft hat und auch eine Form von Vorbild für die Arbeiterbewegung war und in der Arbeiterbewegung auch so ein Bewusstsein vorhanden gewesen ist: Bebel hat es geschafft, er hat das aber vor allem mit uns und in dieser Bewegung geschafft."

    Immer wieder relativiert Jürgen Schmidt, zweifelt Zahlen und Selbstaussagen Bebels an, tut alles, um eine Heldenverehrung zu vermeidet. Dennoch widmet er sich dem Leben des großen Sozialdemokraten mit deutlichem Respekt. Am Ende vergleicht Schmidt Bebel mit dem mythologischen Sisyphos, den Albert Camus als "glücklichen Menschen" betrachtete. Immer wieder rollte der sozialdemokratische Sisyphos den Stein den Berg hinauf, schöpfte aus seinem politischen Handeln Sinn und stand nach seinen Siegen oft vor denselben Problemen wie zuvor.

    Der Geist des Revisionismus ließ sich nicht mit Reden und Schriften zum Schweigen bringen, mit dem System, das es zu bekämpfen galt, musste er sich arrangieren, um soziale Missstände so schnell wie möglich zu beseitigen. Durch seinen unermüdlichen Einsatz für die Sache der Arbeiter gewann er Bedeutung und Anerkennung. Nachdem August Bebel am 13. August 1913 im Alter von 73 Jahren gestorben war, folgten bei der Beerdigung Tausende seinem Sarg. Jürgen Schmidt wirft hundert Jahre später einen klug akzentuierten Blick auf dieses folgenreiche Leben und eine Zeit, in der Politik zum Beruf wurde.


    Jürgen Schmidt: "August Bebel. Kaiser der Arbeiter"
    Rotpunktverlag, 285 Seiten, 27 Euro
    ISBN: 978-3-858-69538-3