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"Der Quoten-Fetischismus aus Paris geht mir auf die Nerven"

Die vergleichsweise schlechte Lesekompetenz deutscher Schüler habe auch mit "Sünden der Schulpädagogik" zu tun, räumt Josef Kraus ein. Die Bedeutung des Elternhauses für die Lesekompetenz könne jedoch nicht hoch genug eingeschätzt werden, sagt der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes.

Josef Kraus im Gespräch mit Jürgen Liminski | 08.12.2010
    Jürgen Liminski: Mittelmaß in der Schule und Hartz IV-Trostpflaster in Form kleiner Sozialpakete. Ob die gestern veröffentlichte PISA-Studie, oder die am Montag im Bundestag beschlossene Änderung des Regelbedarfs für Hartz IV-Empfänger, Kinder sorgen auch derzeit wieder für Negativschlagzeilen, wie fast immer unverschuldet. Da lässt eine Studie aufmerken, die heute in Berlin von der UN-Kinderhilfsorganisation UNICEF und einer Kinderzeitschrift vorgestellt wird und sicher für durchweg positive Schlagzeilen sorgen wird. Im August und September wurden insgesamt 1.500 Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren zu ihren Wertvorstellungen und Einstellungen befragt, auch nach Ängsten oder dem Interesse an sozialem Engagement und der Zeit, die die Eltern für sie aufbringen können.

    Die zentrale Botschaft der diesjährigen PISA-Studie lautet nach den Worten der OECD, in Naturwissenschaften und Mathematik gehört Deutschland nun zum ersten Drittel der 65 teilnehmenden Staaten, bei der Lesekompetenz aber müssen sich die Schüler und das Land noch mit einem Platz im Mittelfeld begnügen. Die meisten Probleme haben deutsche Schüler beim Reflektieren und Bewerten der Lektüre. Sind das Probleme mit der Sprache insgesamt? Woran liegt das, an Herkunft, Elternhaus, Umgang? – Am Telefon begrüße ich Josef Kraus, er ist Gymnasialdirektor in Bayern und jetzt um 6:50 Uhr schon in der Schule. Guten Morgen, Herr Kraus.

    Josef Kraus: Guten Morgen, Herr Liminski.

    Liminski: Herr Kraus, Sie sind nicht nur Lehrer, sondern auch Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Der deutsche Koordinator der PISA-Studie, Andreas Schleicher, ein Physiker, meinte gestern bei der Vorstellung der Studie, Deutschland brauche bessere Lehrer. Fühlen Sie sich auf den Schlips getreten?

    Kraus: Also bei manchen Dingen, die aus Paris kommen, kriege ich das Schmunzeln, früher habe ich einen dicken Hals gekriegt, aber da liegt man schon manchmal daneben. Der Quoten-Fetischismus aus Paris geht mir auf die Nerven, und das ist jetzt eine dümmliche Lehrerbeschimpfung. Das Problem, das wir in Deutschland haben, ist, dass wir in vielen Fachbereichen zu wenig Lehrer bekommen, und durch solche Sprüche werden junge Leute, junge engagierte Leute, die Lehrer werden wollten, vielleicht eher sogar noch abgeschreckt.

    Liminski: Bei aller Kritik an den Methoden der PISA-Studie und der Begrifflichkeit, eines scheint aber doch eine Tatsache zu sein: Die Schüler in Deutschland lesen vergleichsweise schlecht und begreifen nicht so recht, was sie lesen. Sind die Schulen, in diesem Fall die Grundschulen so schlecht?

    Kraus: Da gibt es viele Gründe. Das hat mit den medialen Einflüssen zu tun, das hat – vielleicht kommen wir noch darauf – auch mit einer gewissen Zurückhaltung der Elternhäuser, was sprachliche Prägung betrifft, zu tun. Das hat aber schon auch mit hausgemachten Sünden der Schulpädagogik zu tun, wenn ich mir vorstelle, dass gerade auch im Bereich der Sprachschulung immer mehr die Erleichterungspädagogik Einzug gehalten hat, der Grundwortschatz in den Grundschulen wurde reduziert, das Lesen von Ganzschriften wurde zurückgefahren, das Schreiben von Texten wurde zurückgefahren und es geht nur noch um das Zustöpseln von Lückentexten, es geht nicht mehr um das Schreiben von nachvollziehbaren Gedankengängen, sondern um eine Multiple Choice Ankreuzmethode. Also da müssen wir auch in der Schulpädagogik ein bisschen zurückschrauben wieder. Das gilt für alle Schulformen, das gilt für die Grundschule wie auch für die weiterführenden Schulen.

    Liminski: Da ist also Reformbedarf in den Schulen. Aber welche Bedeutung hat das Elternhaus für die Lesekompetenz?

    Kraus: Eine Bedeutung, die man gar nicht hoch genug einschätzen kann, denn das wissen wir seit Jahrzehnten aus der Pädagogik und aus der Psychologie, dazu brauchten wir gar keine moderne Gehirnforschung, dass eben die entscheidenden, auch die entscheidenden kognitiven Prägungen halt im Vorschulalter stattfinden. Und wenn hier nicht die entsprechende Neugier geweckt wird, wenn hier kein umfassender Wortschatz vermittelt wird, wenn hier nicht Dialogfähigkeit in der Familie praktiziert wird, vorbildlich praktiziert wird, wenn die Eltern keine Vorbilder beim Lesen von Büchern, von Zeitschriften sind, dann werden sie natürlich auch kaum Kinder haben, die lesen. Verkürzt gesagt, so hat es mal ein kluger Mann ausgedrückt: Das Erzählen und das Vorlesen zu Hause im Vorschulalter, das sind die klugen Mütter und Tanten des Lesens.

    Liminski: Aus Ihrer eigenen Erfahrung, aus Gesprächen mit Kollegen in der Schule oder im Verband, Herr Kraus, nehmen sich die Eltern hier zu wenig Zeit, um mit ihren Kindern zu lesen?

    Kraus: Sie nehmen sich immer weniger Zeit. Natürlich haben wir hier auch ein Schichtgefälle, das ist ganz klar, aber auch nicht in allen sogenannten bürgerlichen und bildungsnahen Häusern wird das noch vernünftig praktiziert. Der Fernseher wird zum Teil als Baby-Sitter benutzt und die Kinder bekommen sehr früh ins eigene Kinderzimmer einen Fernseher. Der Trend geht leider, was die Kinderzimmer betrifft, nicht unbedingt zum Zweit- und zum Drittbuch. Also hier muss man umdenken. Hier reicht es nicht aus, dass man nur in der Schule sich mehr anstrengt, da gibt es sehr kreative Leseförderprojekte, sondern das muss im Vorschulalter an Prägung stattfinden.

    Liminski: Was empfehlen Sie den Eltern, wenn Sie bei einem Schüler deutliche Mängel bei der Lesekompetenz feststellen?

    Kraus: Am besten, zunächst mal sich mit dem Deutschlehrer, mit dem Klassenleiter unterhalten, mit den Kindern in eine Bibliothek gehen, sich beraten lassen, was es an attraktiver Jugendliteratur gibt, bei Buben, bei Jungen vielleicht auch im Bereich Sachbuch – das wissen wir, da haben wir ein gewisses Problem, was die Nähe der männlichen Jugend zu Literatur, zu fiktionaler Literatur betrifft -, und ansonsten Vorbild sein, Vorbild sein, Vorbild sein, den Kindern was vorlesen, gemeinsam was lesen, darüber diskutieren, sodass die Kinder merken, ach das ist interessant und da kann ich mit meinen Eltern diskutieren, möglicherweise sogar diskutierend streiten.

    Liminski: Vor allem die Jungen sind leseunlustig, wie wir jetzt gelernt haben. Überrascht Sie das?

    Kraus: Nein, das überrascht mich nicht. Da kann man noch so viel Gender-Ideologie verbreiten, es bleiben halt Unterschiede da, woher auch immer. Das hat natürlich mit der Prägung im Elternhaus durch Vater beziehungsweise Mutter zu tun, das hat natürlich auch damit zu tun, dass halt die Buben eher Interesse finden an Basteleien, an technischen Dingen, an medialen Dingen, die Mädchen lesen viel eifriger und der Erfolg gibt ihnen recht. Sie sind unter den Durchfallern weniger stark repräsentiert, sie haben die besseren Abitur- und Schulabschlussnoten und sie sind weitaus seltener unter Schulversagern.

    Liminski: Kann die Lesekompetenz auch verloren gehen durch ein sprachlich mangelhaftes soziales Umfeld, also konkret durch die sogenannte Peer Group und indem man schlicht nicht mehr liest?

    Kraus: Nicht nur durch die Peer Group, sondern auch durch die mediale Beeinflussung. Man kennt ja seit Jahrzehnten den Begriff des sekundären Analphabetismus. Das sind junge Leute, die sagen wir mal mit vergleichsweise ausgeprägten Lese- und Schreibfertigkeiten aus der Schule herausgehen, die das aber wieder verlieren, weil sie es nicht mehr praktizieren, in einem Beruf zum Beispiel nicht mehr praktizieren müssen, oder halt aus Bequemlichkeit sich lieber der medialen Rundum-Berieselung aussetzen.

    Liminski: Wie die Lesekompetenz zu verbessern ist, das sagt uns hier im Deutschlandfunk Josef Kraus, der Präsident des Deutschen Lehrerverbands. Besten Dank für das Gespräch, Herr Kraus.

    Kraus: Danke auch, Herr Liminski.