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Der radikale Ästhet

Joachim Dyck ist Ehrenvorsitzender der "Gottfried-Benn-Gesellschaft" und Benn-Biograf. Sein Buch "Benn in Berlin" widmet sich der Stadt, über die der Dichter und Arzt einst sagte "Berlin ist die Stadt, die mich geprägt hat".

Von Matthias Kußmann | 13.01.2011
    "Ich - bin - ein - Berliner!"

    Gut, das ist Kennedy, doch der emphatische Satz könnte auch von Benn sein. Er ist 18, als er nach Berlin kommt, im Herbst 1904 – und bleibt dort, von Episoden abgesehn, 50 Jahre, bis zu seinem Tod.

    "Berlin ist die Stadt, die mich geprägt hat, in der ich gelernt habe und was geworden bin. Ich habe Berlin ja noch in den glanzvollen Zeiten erlebt bis 1933, als es im Begriff war, als Zentrale des geistigen Europas neben Paris zu treten. Wunderbare Jahre, eine Fülle von Talenten hier in Berlin, wo Theater, Musik, auch Literatur einzigartig waren. "

    Da ist es sinnvoll, "Benn in Berlin" ein eigenes Buch zu widmen. Es stammt von Joachim Dyck, der schon eine Benn-Biografie vorlegte, über die Jahre 1929 bis `49. Natürlich liest man manches von dem, was dort steht, hier wieder. Aber nun geht es auch um Benns frühe und späte Berliner Jahre, und für die Zeit dazwischen fand der Biograf viel neues Material. Es dürfte wenige Benn-Spezialisten geben, die genauer recherchierten. – Dyck erzählt nicht chronologisch, sondern in kurzen Kapiteln über einzelne Themen: etwa "Student in Berlin", "Arzt in Berlin", "Die Freunde" oder "Die Frauen".

    Das führt, bei aller Liebe zum Detail, leider zu Wiederholungen. Manche Zitate und Daten findet man gleich in mehreren Kapiteln: ein Fall für ein aufmerksames Lektorat, das es wohl nicht gab ... – Benn studiert Medizin, 1912 promoviert er zum Dr. med. Im selben Jahr erscheint sein provokantes lyrisches Debüt unter dem Titel "Morgue": französisch heißt das einerseits "Dünkel", andrerseits "Leichenschauhaus". Wie passend. Es sind neun harte, nihilistische Gedichte, die Benns elitäres Denken spiegeln – und zugleich seine Erfahrungen als Arzt, der hunderte Sektionen vorgenommen hatte.

    "Die Krone der Schöpfung, das Schwein, der Mensch -:
    Geht doch mit anderen Tieren um!
    Mit siebzehn Jahren Filzläuse,
    zwischen üblen Schnauzen hin und her,
    Darmkrankheiten und Alimente,
    Weiber und Infusorien,
    mit vierzig fängt die Blase an zu laufen -:
    meint ihr, um solch Geknolle wuchs die Erde
    von Sonne bis zum Mond -? "


    Benn wird mit einem Schlag bekannt. Er trifft Künstler und die literarischen Expressionisten, zu denen er anfangs selbst gezählt wird, hat eine Affäre mit Else Lasker-Schüler, und nicht nur mit ihr ... Es sind die goldenen Jahre von Berlin, bis Krieg und Inflation dem ein Ende machen.

    Im Ersten Weltkrieg ist Benn als Militärarzt in Belgien. Dann kehrt er nach Berlin zurück und eröffnet eine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten: in der Belle-Alliance-Straße 12, heute Mehringdamm 38, Kreuzberg. - Joachim Dyck:

    "Diese Praxis ging recht und schlecht, obwohl Benn ja von den Prostituierten lebte. Die Praxis lag günstig und die Prostituierten mochten ihn als Arzt. Es gibt mehrere Äußerungen, dass die Damen sagten: "Was, den Benn kennen Sie nicht? Der ist für uns der Richtige. Der ist freundlich, fragt nicht zu viel und lässt uns auch manchmal ohne Bezahlung frei ..."

    1933 kommen die Nazis an die Macht und versprechen die antibürgerliche "Revolution". Benn macht einen riesen Fehler. Er votiert für den "neuen Staat" und verkennt die Lage vollkommen. Sicher, ein Freund der Demokratie war er nie. Doch bis heute ist kaum zu fassen, warum der radikale Ästhet, der Geschichte verachtete, ausgerechnet im hysterischen Bellen Hitlers und in marschierenden Stiefeln die Zukunft sah .

    Allerdings nicht lange. Benn erkennt seinen Irrtum - genau wie die Nazis, die bald merken, dass sie es nicht mit einem Erfüllungsgehilfen, sondern im Gegenteil mit einem "entarteten" Künstler zu tun haben; sie belegen ihn mit Publikationsverbot.

    Nach dem Krieg ist er literarisch isoliert – nicht nur wegen seiner politischen Vergangenheit, sondern auch wegen seines Kunstbegriffs: welch ein Gegensatz zwischen seinem amoralisch-apolitischen Ästhetizismus und dem "Kahlschlag"-Engagement der "Gruppe 47" oder dem christlichen Pathos eines Reinhold Schneider! Benn schreibt weiter, zunächst für die Schublade. Erst 1949 wagt es ein junger Verleger, seine Gedichte und Essays zu drucken. Jetzt ist die Zeit reif. Mit ihrer Musikalität und der Mischung aus Geist, Schnoddrigkeit und Trauer prägen sie eine Generation junger Lyriker, 1955 erhält er den Büchner-Preis. – Hier ein Gedicht, von Benn gelesen:

    "Durch soviel Formen geschritten, durch Ich und Wir und Du, doch alles blieb erlitten durch die ewige Frage: wozu? Das ist eine Kinderfrage. Dir wurde erst spät bewusst, es gibt nur eines: Ertrage – ob Sinn, ob Sucht, ob Sage – dein fernbestimmtes: Du musst.
    Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere, was alles erblühte, verblich, es gibt nur zwei Dinge: die Leere und das gezeichnete Ich."

    Obwohl er das in Sektoren geteilte Berlin nicht mag, bleibt er in der hungernden Stadt. Für einen Umzug sei er "zu müde und zu alt". Schon 1937 hatte er Wohnung und Praxis nach Schöneberg verlegt, in die Bozener Straße 20. Dort lebt er bis zu seinem Tod im Sommer 1956 mit seiner dritten Ehefrau, der Zahnärztin Ilse Benn.

    "Da sagt sein letzter Arzt: (…) Er hätte nie eine so trostlose Umgebung (…) gesehen, vom Kasten Bier unter dem Stuhl ganz abgesehen. Die Wohnung war nicht sehr hell, sie hatte ein Zimmer nach hinten in einen kleinen Garten. Darüber spricht Benn öfters, dass er aus diesem Zimmer in den Garten schaut und dort "zeitgemäß", wie er sagt, verschiedene Dinge wahrnimmt, in diesem Fall den leeren Kaninchenstall und ein gackerndes Huhn (…). Benn hat diese Hinterhofsituation geliebt. Er war immer empfindlich gegen direkte Sonneneinstrahlung und hatte es gern, wenn die Wohnung nicht zu hell war, sondern etwas abgedämpft."

    In seinen letzten Jahren zieht sich Benn zunehmend von der Außenwelt zurück und lebt ein "Doppelleben", wie er es nennt. Tags ist er Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten, ein bürgerlicher, wortkarger Herr; abends sitzt er in Kneipen und arbeitet an Texten, seiner poetischen "Ausdruckswelt", die sich um Konventionen nicht schert.

    "Ich bin kein Menschenfeind. Aber wenn Sie mich besuchen wollen, bitte kommen Sie pünktlich und bleiben Sie nicht zu lange. Aber das ist nicht weltanschaulich gemeint, nicht misogyn. Ich sitze abends lieber allein in meinem Lokal, trinke, die Wände sind abgerückt. Es ist mehr Kulisse da als in meiner Wohnung, das Radio spielt, erweitert noch die Szene. Ich sehe die Dinge vor mir, lockerer, schattenvertiefter. Manches verschlingt sich miteinander, meine Notizen rücken sich näher. Auf was soll ich mich da noch beziehen? Publikum, Öffentlichkeit, Ruhm, Nation, alles ist irrelevant. In diesem Moment bin ich unsterblich."

    Joachim Dycks Buch ist unterhaltsam geschrieben und präsentiert eine Menge neuer Fakten, auch nette Details wie Benns hartnäckige Weigerung, eine kleine Mieterhöhung zu zahlen. Die Sache endet vor Gericht, der Arzt und Autor verliert. Doch am Schluss bleibt die Frage, wie es diesem unauffälligen Dr. Benn in seinem Hinterhofkabuff gelang, Weltliteratur zu schreiben. In einem äußerlich langweiligen Leben, kaum von Reisen oder Besuch unterbrochen - zwischen Schlagerschnulzen aus dem Radio, die er liebte, Rezepten gegen Ekzeme und zwei drei Bieren, abends, in der Kneipe.

    "Einsamer nie als im August: Erfüllungsstunde -, im Gelände die roten und die goldenen Brände, doch wo ist deiner Gärten Lust? Die Seen hell, die Himmel weich, die Äcker rein und glänzen leise, doch wo sind Sieg und Siegsbeweise aus dem von dir vertretenen Reich? Wo alles sich durch Glück beweist und tauscht den Blick und tauscht die Ringe im Weingeruch, im Rausch der Dinge: Dienst du dem Gegenglück, dem Geist."

    Joachim Dyck: "Benn in Berlin", Transit Verlag, Berlin 2010, 152 Seiten, 16,80 Euro.