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Der Ruhm des Reformators

In seinem Roman "Das ewige Haus" lädt Autor Thorsten Becker den Leser ein, einen Lebensabschnitt Martin Luthers kennen zu lernen, der bisher wenig ausgeleuchtet ist: die Geschichte seiner Hochzeit.

Von Cornelia Staudacherk | 14.09.2009
    "Das kommt ja wie der vorausgegangene Roman "Fritz" aus einer Verfolgung der Projekte Thomas Manns, die er nicht mehr durchführen konnte, und wie wir alle wissen, war sein aller-allerletztes Projekt Luthers Hochzeit. Da hat er Material gesammelt und wer sich gut auskennt, wird das eine oder andere auch wieder erkennen in meinem Roman. Er hat daran gedacht, ein Lustspiel zu machen, aber er fand keine Konzeption dafür, aber er war instinktiv der Ansicht, dass es über die Frauen am besten geht, oder über die Frau, über die Katharina von Bora. Die Hochzeit selber, die Gästeliste und so weiter, das habe ich alles aus der Recherche von Thomas Mann übernommen."

    Die Hochzeitsfeierlichkeiten am Schluss bilden einen der Höhepunkte in Beckers insgesamt fulminantem Roman. Waghalsige Verknüpfungen, epische Opulenz, das Spiel mit Intertextualitäten zeichnen alle Romane Beckers aus.

    Hier sind es drei historische Handlungsstränge, die zueinander in Beziehung gesetzt, ineinander gespiegelt und neu facettiert werden: Die Zeit von Reformation und Bauernkriegen, in deren Mittelpunkt Martin Luther steht, die 30er-Jahre in Berlin, die durch Gisbert Gutsche repräsentiert werden, und die letzten Kriegsmonate im kasachischen Alma Ata, dem Zufluchts- und Verbannungsort vieler Sowjetdeutscher und deutscher Kommunisten. Dorthin treibt es den Schauspieler und desertierten Luftwaffenpiloten Baron von Wolzogen, der zufällig in den Besitz des Lutherromans von Gisbert Gutsche gekommen ist und als Sachwalter, Moderator und gewissermaßen Regisseur des ganzen Projekts fungiert. Denn bei ihm und durch ihn laufen alle Handlungsfäden zusammen.

    Er stellt die gedanklichen Brücken her zwischen den Niederlagen der Bauern in der Schlacht von Frankenstein und dem Untergang der deutschen Soldaten vor Stalingrad, zwischen Luthers wachsenden antisemitischen Ressentiments und dem Rassenwahn der Nazizeit, deren Opfer Gutsche und seine jüdische Frau Eva geworden waren, wie auch zwischen Eva Gutsche und Luthers Frau Katharina von Bora.

    "Dieser Stereoeffekt, der jetzt ein bisschen ausgebaut worden ist, war auch schon vorhanden bei "Der Untertan steigt auf den Zauberberg", und in "Die Besänftigung", da war ja auch schon zusammengeschnitten eine Gegenwartsgeschichte mit einer tief aus dem Fundus geholten Rekonstruktion. Und was jetzt die allerletzten Bücher angeht, den "Fritz" und den "Luther" sieht man, dass ich das jetzt mehr und mehr versuche bewusst einzusetzen, dass ich nämlich zwei historische Romane gegeneinander setze. Die Ebenen erklären sich gegenseitig, aber befragen sich natürlich auch gegenseitig, das ist das, was die Kritik mit Recht als antiillusionistisch an diesem Vorgehen bezeichnet. Der Leser nimmt teil an der Konstruktion von Geschichte und verlässt die Lektüre hoffentlich mit der Erkenntnis, dass es eine Geschichte an sich nicht gibt, sondern nur noch eine Geschichte für uns."

    Besonders aufschlussreich ist die Verklammerung zwischen Luther und der Lebens- und Leidensgeschichte des Verfassers des Romans im Roman, Gisbert Gutsche, hinter dem sich das Alter Ego des protestantischen Dichters Jochen Klepper verbirgt, der sich gemeinsam mit seiner jüdischen Frau und einer seiner beiden Töchter im Dezember 1942 in Berlin-Wannsee das Leben nahm - eine in von Wolzogens Augen zwar verständ-liche, dennoch frevelhafte Tat, über die er sich in imaginierten Dialogen mit Gutsche auseinandersetzt.

    "Auch der Mann, der das historische Vorbild für meinen Gutsche ist, Jochen Klepper, der war ja auch eine ganz seltsame Mischung aus Mut und Feigheit, wie es bei Luther auch der Fall war, wie es vielleicht bei den allermeisten Menschen der Fall ist. So weit geht zumindest das Lutherreferat als psychologisches Referat: Dieser Mut, den hat man nicht unbedingt in sich, den findet man auch aus der historischen Situation. Luther war sehr mutig, so lange er die deutschen Fürsten vertreten hat, aber der Mut verließ ihn in dem Moment, als die Bauern seine Parolen aufgriffen."

    Eva Gutsche, die das Projekt ihres Mannes, einen Roman über Martin Luther zu schreiben, mit wachsender Skepsis verfolgt, weil sie befürchtet, Luther könne darin zu positiv geraten, schreibt schließlich selbst einige Kapitel, vornehmlich solche, in denen Luther in seinem Verhältnis zu seiner zukünftigen Frau Katharina, einer ehemaligen Nonne, focussiert wird.

    So amüsant Luther im burlesk tändelnden Spiel mit Käthe erscheint, und in seinen, in ihrer prallen Frivolität erheiternden Auslassungen über Ehestand und Fleischeslust, so unbeugsam gibt er sich als gestrenger Kirchenmann in den Gesprächen mit seinen Freunden und Mitstreitern. Als Fürstenknecht stellt er sich bedingungslos auf die Seite des Landesfürsten und wettert gegen die um Thomas Münzer versammelten Bauern. In nächtlichen Diskursen mit Melanchthon, in seinen Hasstiraden gegen Thomas Müntzer und in den im Alter zunehmenden antisemitischen Äußerungen gerät Luther mehr und mehr in eine Schieflage und wird zum Antihelden.

    Und was soll man zu dem abgeschlagen Kopf Thomas Müntzers sagen, den Anna Bodenstein, die Frau eines anderen Bauernführers, mit dem Luther in Fehde lebt, auf dem Gabentisch für das Brautpaar deponiert und dessen Hirnschale ihm, Luther, nach sorgfältiger Präparation durch einen einheimischen Schlächter in Zukunft als Tintenfass dienen soll?

    "Man kennt interessanterweise diese Schwierigkeiten gar nicht, weil die ganze Lutherforschung wird ja nun mal zu 95 Prozent von der evangelischen Kirche in Deutschland betrieben, und die legen da den Finger nun ganz bestimmt nicht gern hin, wie auch jetzt auf dieses Buch schon aus der Ecke sehr harsche Reaktionen gekommen sind, obwohl mein Werk von diesen immer sehr wohlwollend behandelt worden ist, bis jetzt. Also da scheine ich einige Leute geärgert zu haben, das war gar nicht meine Absicht. Es ist mir ja auch passiert, dass es mehr ein Anti-Lutherbuch geworden ist, es sollte ein Pro-Lutherbuch werden.
    Wie gesagt, ich bin dann über meinen Luther doch sehr erschrocken, mir gefiel der überhaupt nicht. Was will der Stinker eigentlich?"

    Um Schwierigkeiten des Schreibens eines historischen Romans unter diktatorischen, faschistischen wie stalinistischen Verhältnissen im Besonderen und die Bedingungen des Schreibens im Allgemeinen geht es in den imaginierten Gesprächen des Baron von Wolzogen mit dem verstorbenen Gisbert Gutsche. Sie geben Aufschluss über das poetologische Verfahren, mit dem sich Becker dieser gewaltigen Figur der deutschen Geschichte näherte und über die Schwierigkeiten, auf die er dabei stieß.

    "Mit der Zeit verlässt man sich dann stark auf sich selbst, das ist doch klar, wenn man an sone Sache rangeht wie einen Lutherroman, der Oderbruch ist ja eine Pfütze dagegen, das hat ja Tiefen, die kann doch keiner voraus berechnen. Wenn Thomas Mann von dem biblischen Josef schreibt, dann macht er das natürlich autobiografisch, das heißt, wenn man sich das vornimmt, einen Lutherroman zu schreiben, nimmt man von sich selbst an, dass man biografisch die Möglichkeit besitzt, bis dahin, bis in diese 400 Jahre entfernte Riesenseele oder –Figur, Seele eigentlich, - insofern kann ja auch der historische Roman nur als autobiografischer funktionieren. So testet man sich eben aus, wie weit man da eindringen kann."

    Gesprächs- und Reflexionspassagen über religiöse und philosophische Fragen auf hohem intellektuellen Niveau stehen in "Das ewige Haus" gleichrangig neben plastischen Szenen aus dem bäuerlichen Leben oder subalterner Kriegsscharmützel. Dank geschickter Überleitungen von einem Kapitel zum nächsten verliert der Leser trotz der durch Schnitte und Zeitüberlagerungen gewagten Konstruktion des Romans nie den roten Faden. Becker passt den Erzählduktus den jeweiligen Epochen und in ihnen handelnden Personen adäquat an. Seine überbordende Fabulier- und Assoziationslust und hohe stilistische Brillanz machen den Roman zu einer unterhaltsamen, gleichzeitig lehrreichen wie vergnüglich zu lesenden, weil intelligenten Lektüre.

    Seinem Ziel, mit seinen Romanen zur Genese eines gesamtdeutschen und identitätsstiftenden Deutschlandbildes beizutragen, ist Becker, der an jedes neue Romankonzept mit einem hohen Anspruch und großen Ambitionen herangeht, mit "Das ewige Haus" durchaus ein kleines Stückchen näher gerückt. Und auch, so sei mit allem zu Gebote stehenden Respekt vor dem Heros der deutschen Literatur gesagt, seinem großen Vorbild Thomas Mann.

    Thorsten Becker: Das ewige Haus, Rowohlt Verlag, Reinbek 2009, 510 Seiten, 24,90 Euro