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Der russische Sänger Pjotr Nalitsch
Zwischen Klassik, Klicks und Komik

Mit seinem Trash-Video "Guitar" wurde er Russlands erster Internetstar, 2010 vertrat Pjotr Nalitsch sein Land beim Eurovision Song Contest, zuletzt hat er Hits der 40er- und 50er-Jahre neu arrangiert. Dabei hat er doch eigentlich eine klassische Ausbildung. Porträt eines russischen Tausendsassas.

Von Regina Kusch | 05.01.2018
    Pjotr Nalitsch singt in ein Mikrofon auf einer Bühne
    Mit Pathos und einem Augenzwinkern: Pjotr Nalitsch (Imago)
    Diese Sendung finden Sie nach Ausstrahlung sieben Tage in unserer Mediathek.
    Pjotr Nalitsch oder - wie er sich international nennt - Peter Nalitsch ist in der russischen Musikszene schon seit zehn Jahren ein Star. In Moskau sorgt er nicht nur für ausverkaufte Rockkonzerte und Theateraufführungen, sondern auch für volle Opernhäuser. Auf ein Genre festlegen lassen will sich Pjotr Nalitsch auf gar keinen Fall. Dafür hat er zu viele Talente. Er ist klassisch ausgebildeter Tenor, aber bekannt wurde er durch lustige Popsongs. Manchmal ist er als Jazzmusiker unterwegs, dann wieder als moderner Interpret russischer Volksweisen, wie mit dem Titel: "Kazachok".
    Musik: "Kazachok" - Pjotr Nalitsch
    Der musikalische Durchbruch gelang Pjotr Andrejewitsch Nalitsch, der vor drei Jahren eine klassische Gesangsausbildung an der renommierten Moskauer Gnessin Musikakademie abgeschlossen hat, nicht als Opernsänger, sondern als Russlands erster Internetstar.
    "Es war toll, magisch, wirklich ein Start, wie man es sich gar nicht vorstellen konnte. Ich staune heute noch darüber."
    Texte, die er augenzwinkernd in gebrochenem Englisch schreibt, wurden sein Markenzeichen und sein Trash-Movie "Guitar" erhielt Millionen Klicks: Hinterm Steuer einer Schrottlimousine, im Takt der Musik wippend, lädt Pjotr Nalitsch Mädchen ein, in seinen Jaguar zu steigen. Man sieht, wieviel Spaß die fünf jungen Musiker gehabt haben müssen, als sie diesen Clip drehten. Der falsche Jaguar schaukelt durch einen gezeichneten Birkenwald, und die Band, die sich "Musikalisches Kollektiv" nennt, tanzt wie eine Boy-Group ausgelassen durch winterliche Weiten. In der Postproduktion hat Pjotr Nalitsch noch Graffiti hinzugefügt.
    Musik: "Guitar" - Pjotr Nalitsch
    International bekannt wurde Pjotr Nalitsch, nachdem er 2010 für Russland beim Eurovision Song Contest in Oslo angetreten war. Eine, so sagt er heute, ganz spontane Idee aus einer verrückten Laune heraus.
    Pjotr Nalitsch sitzt bei einer Pressekonferenz zum Eurovision Song Contest 2010 an einem Tisch und zeigt seine Startnummer zwanzig.  
    Auf Platz 20 gestartet, landete Pjotr Nalitsch auf dem 11. Platz beim Eurovision Song Contest: 2010 in Oslo (Imago)
    Mit "Lost and Forgotten", der schrägen Ode eines verlassenen Liebhabers, belegte er zwar nur den 11. Platz, aber das russische Publikum liebte ihn. Mit gut gespielter Verzweiflung schmachtete er ein abgegriffenes Foto einer langhaarigen Schönheit an und nahm der Veranstaltung mit seinem ironischen Vortrag etwas von ihrer Ernsthaftigkeit. Im Gegensatz zu den anderen Mitbewerbern traten Peter Nalitsch und seine Band nicht in glitzernder Abendgarderobe auf. In Jeans, Pullover und mit einem Wollschal um den Hals geschlungen, klagte der Tenor herzzerreißend im künstlichen Schneegestöber, und die Fans schwenkten im Takt russische Fähnchen.
    Musik: "Lost and forgotten" - Pjotr Nalitsch
    "Mit sechs ging ich auf die Musikschule. Ich war nicht wirklich wild auf Musik, aber es war auch nicht sehr kompliziert. Und es war okay. Meine Mutter hatte mir gesagt, ich solle das machen, und ich hab es getan. Dort habe ich dann Klavier, Gesang und Musikgeschichte studiert. Im Chor hatte ich zwar keine so herausragende Stimme wie Robertino Loreti, der Kinderstar, aber ich war immer ein guter Sänger und wir sind auf vielen Moskauer Bühnen aufgetreten. Ich mochte das und auch das Klavierspielen. Mit 14 hab ich dann an der Musikschule den Abschluss gemacht.
    Pjotr Nalitsch kommt aus einer Familie, in der Kunst nie als brotlos galt. Sein Großvater stammte aus Bosnien und war vor dem 2. Weltkrieg als Sänger an der Oper in Zagreb engagiert. Im Krieg schloss er sich dem kommunistischen Widerstand an, um für sein von deutschen und italienischen Faschisten besetztes Land zu kämpfen, und wurde in ein Konzentrationslager verschleppt.
    "Glücklicherweise wurde er gegen einen deutschen Soldaten ausgetauscht. Später ging er in die Sowjetunion, arbeitete da aber nur noch als Radiosprecher, weil ihm die Nazis den Kehlkopf gebrochen hatten, so dass er nicht mehr singen konnte. So erging es dem Vater meines Vaters. Auch mein Vater konnte gut gesungen. Zwar nicht professionell - er ist Architekt und Bildhauer - aber ich habe viele russische Volkslieder und italienische Arien von ihm gelernt. Immer wenn wir Gäste hatten, haben wir sie gemeinsam vorgetragen. Das war eine prägende Erfahrung."
    Dennoch blieb die Musik für Pjotr Nalitsch lange nur eines von vielen Hobbys.
    "Ich hab nie wirklich davon geträumt, Sänger oder Komponist zu werden"
    "Als Jugendlicher hab ich mich für Paläontologie und Geografie interessiert, ich habe Bücher über Reisen gelesen. Aber nach Abschluss der Musikschule fing ich an Gitarre zu spielen, und die ersten kleinen Stücke für Klavier und Gitarre zu komponieren. Und als ich später Architektur studiert habe, begann ich Lieder zu schreiben. Danach habe ich angefangen Operngesang zu studieren bei einem großartigen Coach, bei Iryna Muchina. Aber ich hab nie wirklich davon geträumt, Sänger oder Komponist zu werden."
    Pjotr Nalitsch wollte sich vor allem künstlerisch austoben. Das sechzig Kilometer von Moskau entfernte Landhaus seiner Familie wurde zum kreativen Spielplatz. Zu dieser Zeit gründete er mit Freunden sein musikalisches Kollektiv. Die fünf Musiker produzierten Lieder wie "Dacha" oder "Sugar lies". Dafür mischten sie respektlos alte russische Melodien mit tanzbaren Elektrobeats oder kombinierten Balalaika-Klänge mit Reggae. Dazu drehten sie humorige Videoclips mit vielen Zeichentrickeinlagen, die im Netz jede Menge Freunde fanden.
    Musik: "Sugar lies" - Pjotr Nalitsch
    "Sugar lies ist einfach ein lustiges Lied ohne großen Tiefgang. Es ist ein Symbol für meine vergangene Jugend, um es pathetisch auszudrücken. Es ist der letzte Song aus dieser Lebensphase, es ist ein bisschen, als ob man eine Türe schließt. Wenn ich mir die Stücke jetzt acht Jahre später anhöre, finde ich die immer noch genial, aber wenn ich heute "Guitar" singen sollte, dann müsste ich auch die Gefühle eines 25-Jährigen ausdrücken: Du bist jung, sorglos, man zieht mit Mädchen rum, trinkt Champagner und Portwein, du spielst Gitarre und singst einfache, lustige Liedchen, das ist super, das ist Jugend. Aber man kann doch nicht das ganze Leben lang so sein."
    Pjotr Nalitsch mit seiner Band auf einer Konzertbühne
 
    Gesellschaftskritik ohne politische Protesthaltung: Pjotr Nalitsch mit seiner Band (Imago)
    Mit 36 möchte Peter Nalitsch nicht den ewig Jugendlichen geben. Sein Architekturstudium schloss er bereits 2004 ab, ohne allerdings in dem Beruf arbeiten zu wollen. Mit seinen CDs und Internetauftritten verdient er, so wie viele andere Musiker, kein Geld und lebt vor allem von Konzertauftritten.
    "Manchmal gibt es Rufe aus dem Publikum, sing diesen Song oder den Song. Manchmal spiel ich zwei oder drei alte Lieder, aber ich möchte, dass die Leute meine neue Musik hören. Manchmal ist das eher unbequem für mich, weil viele Fans lieber die alten Lieder wollen. Aber wenn ich nur singe, was sie wollen, ist das wie Prostitution für mich. Inzwischen gibt es teilweise ein ganz neues Publikum, das auch unbekannte Melodien und Rhythmen hören will. Und das freut mich wirklich."
    In seinen jüngeren Kompositionen mischt Pjotr Nalitsch Klänge und Instrumente noch viel waghalsiger als vor einigen Jahren. Eine schrille Blockflöte trifft auf Kalimba-Rhythmen, kombiniert mit Gitarren-Riffs und Glockenspielklängen. Auf einem Benefizkonzert für kranke Kinder überraschte er seine Zuhörer, als er zusammen mit seiner achtjährigen Tochter Barbara ein Lied vortrug, das sie gemeinsam und eher zufällig komponiert hatten.
    "Wir haben beide auf dem Klavier gespielt und verrückte Wörter aneinandergereiht. Kinder lieben Monster und sie und ihr Bruder baten mich, auf der Stelle ein Lied über Monster zu schreiben. Ich hab angefangen, ganz gruselige Bassnoten zu spielen für die Chudovi - das heißt schreckliche Monster. Und dann singen sie: Wir sind schreckliche Monster und wir sind immer bei dir – mit Liebe. Denn ihre Monster sind nicht böse, sondern nett. Ich habe es dann vervollständigt und es wurde ein vielseitiges Ethno-Jazz-Stück, das man gar nicht mehr Lied nennen sollte, sondern Komposition.
    Musik: "Chudovi" - Pjotr Nalitsch
    Musik: "Black Oak" - Pjotr Nalitsch
    Der Titel "Black Oak" erzählt von uralten Mythen aus Zeiten vor der menschlichen Zivilisation; aus Zeiten, in denen es noch keine Umweltzerstörung durch Menschenhand gab.
    Gesellschaftskritik ja, aber kein poltischer Protest
    Die Texte von Pjotr Nalitsch beschäftigen sich oft mit Alltagsproblemen, mit denen Menschen, die in Russland leben, zu kämpfen haben: Luftverschmutzung, hässliche Neubauten und zu viele Autos in der Moskauer Innenstadt. Alle diese Themen reißt Pjotr Nalitsch in seinen Liedern an. Doch er singt keine Protestsongs und würde sich nie als politischen Liedermacher bezeichnen.
    "Auf gar keinen Fall. Natürlich habe ich eine politische Einstellung, aber die kann ich nur sehr sachlich und trocken ausdrücken auf irgendwelchen Facebook-Posts und nicht in Form eines Liedes. Ich bin politisch nicht sehr aktiv. Manchmal gehe ich mit Freunden zu Veranstaltungen. 2014 etwa gingen wir mit tausenden von Demonstranten gegen die Politik Putins auf die Straße. Unser Land ist gespalten. Ein Teil der Bevölkerung ist für Putin und der andere gegen ihn und seine Politik. Das ist eine ziemlich heftige Situation und das spiegelt sich natürlich auch in der Dichtung wider.
    Es gebe einige gute und talentierte politische Liedermacher in Russland, findet Pjotr Nalitsch. Junge Rapper, die über die politische Situation ihres Landes singen oder den prominenten Putin-Kritiker Jury Schewtschuk aus St. Petersburg. Mehrere Konzerte des populären Rocksängers wurden abgesagt, weil er lautstark die Freiheit Andersdenkender in Russland gefordert hatte.
    "Pussy Riot", die feministische Moskauer Punkband, wurde international bekannt, nachdem drei Mitglieder wegen Blasphemie und Störung der öffentlichen Ordnung zu Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. Aber statt auf Protestveranstaltungen aufzutreten, bevorzugt Pjotr Nalitsch die leiseren Töne. Regelmäßig arbeitet er im Moskauer Akademischen Jugend-Theater.
    Pjotr Nalitch mit Zylinder und rotem Umhang singt
    Auch auf der Theaterbühne zuhause: Der russische Sänger Pjotr Nalitsch (Imago)
    "Northern Odyssey" heißt eine dramatische Novelle in Anlehnung an Jack Londons Abenteuerroman über die Goldsucher am Klon Dike-River, inszeniert von den Filmregisseuren Peter Lutsyk und Alexei Samoryadov. Pjotr Nalitsch hat zusammen mit jungen Musikern den Soundtrack erarbeitet, der bei jeder Vorstellung live eingespielt wird. Die Handlung dieses Bühnen-Road-Movies erzählt die Geschichte junger Abenteurer, die während der ersten Perestroika-Jahre hofften, Glück und Reichtum auf einer Expedition ins Ungewisse zu finden.
    "‚Fire‘ heißt ein Stück aus der ‚Northern Odyssey‘. Ein Lied über einen Mann, der sein Leben reflektiert und an die interessantesten Momente zurück denkt. Er erinnert sich an eine Liebe, die er verloren hat, weil ihm die richtigen Worte fehlten, und er verzweifelt daran. Am Ende kann er sich nicht mal mehr erinnern, wie es war jung zu sein. Und das ist das Schlimmste, was einem passieren kann. Wenn wir mal siebzig, achtzig oder neunzig sein werden, wollen wir uns noch an das Feuer unserer Jugend erinnern. Ich fürchte mich davor, wenn ich alt bin, ein Mensch ohne Gefühle und Erinnerungen zu sein. Darum geht es in dem Lied.
    Musik: "Fire" - Pjotr Nalitsch
    Ein Russe ohne Wodka - so sagt man ja - sei kein richtiger Russe. Ein reines Vorurteil, widerspricht Pjotr Nalitsch und schlägt als Alternative Malt Whiskey vor.
    Musik: Solodo Whiskey" - Pjotr Nalitsch
    Wenn er komponiert, bezieht er gerne auch traditionelles Liedgut mit ein, wie zum Beispiel "Belarybytsa". Das Lied vom weißen Fisch stammt noch aus dem Fundus der russischen Volkslieder, die Pjotr Nalitsch als Kind mit seinem Vater gesungen hat. Er erzählte die Geschichte den Jugendlichen aus dem Theater-Ensemble und die haben es gleich in das Stück "Northern Odyssey" eingebaut.
    " 'Belarybytsa'ist eine Stilisierung des alten Volksliedes, und ich finde am interessantesten, dass der erste Teil des Liedes eine ganz simple und normale Situation beschreibt: Das Mädchen sitzt am Flussufer und der Fisch plätschert im Wasser und nichts passiert. Aber ab der zweiten Strophe geht es um eine schreckliche, blutige Tragödie, wo der eine den anderen verlassen hat, wo jemand einen anderen getötet hat und am Ende alle gestorben sind und verzweifelt. Das ist typisch für russische Volkslieder, dass sie nie ein Happy End haben.
    Musik: "Belarybtsa" - Pjotr Nalitsch
    "Russland ist ein seltsamer Teil der Welt"
    "Melancholie wird dem russischen Charakter immer nachgesagt. Russland ist ein seltsamer Teil der Welt. Allein, wenn ich über die Größe meines Landes nachdenke, macht mich das ganz verrückt. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, ganz hindurch zu reisen, es zu erforschen. Ich war noch nie im fernen Osten meines eigenen Landes. Der europäische Teil Russlands ist ziemlich bevölkert, aber im Osten, in Sibirien, da gibt es nur ein paar Städte, und man hat das Gefühl, der Kosmos beginnt in Russland.
    Musik: "Airplane" - Pjotr Nalitsch
    Das Stück "Airplane" von Pjotr Nalitsch und seiner Band wurde gerade erst abgemischt für sein neues Album, das im späten Frühjahr 2018 erscheinen soll. Es ist seine dritte CD, die er mit einem Crowdfunding-Projekt finanzieren kann. Fans haben genügend Geld gesammelt, so dass er das Album in diesem Winter ohne Eile fertig stellen will. "Reflections in Puddles" wird es heißen - also "Spiegelbilder in Pfützen" - und Pjotr Nalitsch nutzt die Gelegenheit, seine vielseitigen Interessen musikalisch auszutoben.
    "Dieses Album wird ein Gemisch aus verschiedenen Musik-Stilen, von russischer Marschmusik bis zu Latinorhythmen, die uns in andere Teile der Welt mitnehmen sollen. Nach Kolumbien mit den Geschichten von Gabriel García Márquez oder in die brasilianischen Regenwälder. Ich habe versucht, Menschen aus völlig verschiedenen Erdteilen musikalisch miteinander zu verbinden. Es wird stilistisch überhaupt nicht festgelegt sein."
    Musik: "Mud in the Puddle" - Pjotr Nalitsch