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Der Sargnagel der Sowjetunion

Vor 25 Jahren kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU. Eine Notfallübung hatte zur Kernschmelze, Explosion und einem tagelangen Brand des Reaktorblocks Nummer 4 geführt. Radioaktives Material wurde in die Atmosphäre geschleudert. Die Folgen des Unglücks sind bis heute spürbar.

Von Robert Baag | 26.04.2011
    "Ich kann mich gut an diesen Tag erinnern. Der 26. April 1986 - das war ein Wochenende. Ich bin mit meinen Kindern auf dem Rad zu meinen Eltern gefahren. Nach dem Unglück, da hat es angefangen zu regnen. Dort, wo wir gewohnt haben, wuchs Gras auf dem Hof und in den Pfützen war warmes Regenwasser. Meine Tochter und mein Sohn, die waren damals fünf und sieben Jahre alt, die haben dort gespielt. Rannten herum. Barfuß. - 'Wie schön', habe ich damals gedacht, 'schon so warm, das Gras, die Erde - wie gesund!' Ich habe nicht gewusst, dass Wasser und Gras schon verstrahlt gewesen sind und ich die Kinder besser ins Haus geholt hätte!"

    Erst ganze zwei Tage später, am 28. April, wird der Dorflehrer Adam Varanets aus dem weißrussischen Ort Ostrogljady so wie alle anderen Bürger in der ehemaligen Sowjetunion in der Fernsehsendung "Vremja", den zentralen Hauptnachrichten am Abend, mit einer knappen Nachricht konfrontiert:

    "Im Atomkraftwerk Tschernobyl kam es zu einer Havarie. Ein Atomreaktor ist beschädigt. Maßnahmen werden unternommen, um die Folgen der Havarie zu liquidieren. Die Opfer erhalten Hilfe. Eine Regierungskommission ist gebildet worden."

    Ende der Durchsage. In der ARD-Tagesschau aus Hamburg hört sich der Vorgang - am nächsten Abend - dann so an:

    Tagesschau-28.4.1986: "Guten Abend, meine Damen und Herren! In dem sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl ist es offenbar zu dem gefürchteten GAU gekommen - dem 'Größten Anzunehmenden Unfall'."

    Die Öffentlichkeit in Europa, vor allem in Deutschland, regiert erschrocken, ist schockiert, vor allem als klar wird, dass sich eine große, mit nuklearen Teilchen durchsetzte Wolke aus der Ukraine Richtung Westen treibt und damit auch für Mittel- und Westeuropa zur Gefahr wird.

    In der Sowjetunion steht seit über einem Jahr Michail Gorbatschow an der Spitze der KPdSU, der Kommunistischen Partei der Sowjetunion. "Perestrojka", "Umbau der Gesellschaft", heißt seine Parole. Er will das Land modernisieren, das sogenannte "real-sozialistische System" reformieren. "Glasnost" hat er dafür versprochen: "Transparenz", Schluss mit der Geheimniskrämerei. Doch von einer offenen Informationspolitik aus Moskau kann nicht die Rede sein. Die Nachbarländer werden lange im Ungewissen gelassen über Hergang und Ausmaß dieses Unglücks. Trotzig, ja arrogant weist Juli Kvizinskij, damals der sowjetische Botschafter in Bonn, im deutschen Fernsehen entsprechende Reporterfragen von sich:

    "Können Sie denn sagen, warum die Informationspolitik der Sowjetunion so schlecht war in den vergangenen Tagen?" - "Ich glaube nicht, dass sie schlecht war. Sie war normal."

    Normal?! - Sie war es wirklich, wenn auch in negativer Hinsicht. Ivan Vitkovskij, Arbeiter im Unglücksreaktor Nummer vier wundert sich selbst heute nicht über dieses Verhalten der damaligen politischen Führung in der UdSSR. - In den frühen Morgenstunden des 26. April 1986 habe ihn ein dumpfer Schlag aus dem Schlaf gerissen. Er wohnt wie so viele KKW-Mitarbeiter in der Kleinstadt Pripjat, nur einige Kilometer Luftlinie vom Kernkraftwerk entfernt:

    "Da habe ich noch nicht gewusst, dass das eine Explosion im Reaktor war. - Morgens bin ich raus. Ich wollte was einkaufen. Ich guck die Straße hoch. Was ist denn das? In jeder Hauseinfahrt stehen Soldaten oder Milizionäre. Immer wieder: Soldaten, Milizionäre. Wen ich auch frage, von niemandem ein Wort. Anstatt mir zu sagen: 'Trödle hier nicht rum! Pack deine Siebensachen und hau ab, wohin du kannst.' - Das haben die Japaner in Fukushima jetzt doch viel schneller und besser gemacht. Die haben die Leute rasch weggeholt. Bei uns aber ist das so: Die meisten von uns sind doch wie Wilde, sind tumb! Sie wissen nichts von Strahlung. 'In die Busse, und ab!' So hätte das laufen müssen! - Ihr, die Spezialisten! - Aber: Nichts da! Von Freitag auf Samstag passierte die Havarie - mit der Evakuierung fingen sie aber erst um 15 Uhr am Sonntag an!"

    Doch selbst als den Verantwortlichen längst klar gewesen sein muss, dass es sich um eine nukleare Katastrophe bisher ungekannten Ausmaßes handelt, wagt niemand, den Menschen die ungeschminkte Wahrheit zu sagen. Im Gegenteil: Sie werden der Gefahr bewusst weiterhin ausgesetzt. Schließlich steht ein hoher sozialistischer Feiertag bevor, der offenbar unter keinen Umständen zur Disposition stehen darf, erinnert sich der heute knapp 60-jährige Sportlehrer Vladimir Kovzelev aus dem weißrussischen Dorf Besesdj:

    "Die Partei wollte natürlich Stillschweigen bewahren, denn der erste Mai sollte gefeiert werden und zwar genauso pompös wie auch sonst immer. Ich bin da mitmarschiert, in der Sportlerkolonne, die Straßen von Gomelj entlang bis zum Zentralplatz, um unseren Parteiarbeitern dort oben auf der Tribüne meine Ehrerbietung zu erweisen. Eine Woche nach der Havarie wussten die Menschen offiziell immer noch nichts. Doch Gerüchte verbreiteten sich bereits, obwohl die Leute unsere offiziellen Medien zur Kenntnis genommen und ihnen wohl auch geglaubt haben. Andere Informationen gab's ja damals nicht. Trotzdem: Zweifel haben sich immer tiefer in die Seele gegraben. Denn: Wenn die höheren Parteifunktionäre inzwischen sogar schon ihre Familien weggebracht haben ..."

    Nach der Farce der Mai-Feierlichkeiten mit all dem von oben verordneten Optimismus schlägt die Realität in einem großen Umkreis rund um den außer Kontrolle geratenen Unglücksreaktor Nummer vier umso brutaler zu - Kovzelev:

    "Auf einmal karrte man Leute aus der sogenannten '30-Kilometer-Zone" in unser Dorf. Flüchtlinge, die man aus diesem Bereich rund um den Reaktor evakuiert hat. Gleich nach dem ersten Mai fingen sie damit an. Wir haben erst überhaupt nichts verstanden: Da rollten Militärlaster an, als ob ein Krieg ausgebrochen wäre, voller Menschen, die vor irgendeiner Front fliehen. Die Leute auf der Ladefläche weinten. Die hat man bei uns erst mal in einem Sanatorium untergebracht. Wir haben Mitleid bekommen mit diesen Menschen. Die standen unter Schock. Die hatten doch nichts mehr, nur noch das Nötigste, was man eben auf die Schnelle greifen kann. Erst jetzt ist uns klar geworden, dass wohl etwas sehr Ernstes passiert sein musste."

    Und doch sollten noch einmal zwei Wochen ins Land gehen, ehe sich Michail Gorbatschow am 14. Mai endlich an die Menschen seines Landes wendet. Seine Miene ist ernst:

    "Sie alle wissen: Vor Kurzem hat uns ein Unglück ereilt - die Havarie im Atomkraftwerk von Tschernobyl. Es hat die sowjetischen Menschen schmerzhaft getroffen, die internationale Gemeinschaft beunruhigt. Zum ersten Mal stießen wir auf die bedrohliche Kraft der Kernenergie, wenn sie außer Kontrolle gerät. Das Politbüro der Partei hat deshalb unter dem Eindruck des außerordentlichen und gefährlichen Charakters des Vorfalls in Tschernobyl die gesamte Organisation aller Arbeiten an sich gezogen, um die Havarie so schnell wie möglich zu beenden und deren Folgen zu begrenzen."
    Nein, von einem schicksalhaften Unglück könne keine Rede sein, widerspricht Ivan Vitkovskij, der jahrelang im Reaktor Nummer vier gearbeitet hat und ihn in- und auswendig kennt:

    "Explodiert ist der Reaktor nicht, weil er 'schlecht funktioniert' hat. Der würde heute noch arbeiten, wenn man ihn normal betrieben und sich vorschriftsmäßig verhalten hätte. Er war auf ein Megawatt Wärmeleistung ausgelegt - also nutz dann auch ein Megawatt! - Aber was machen die? Die berufen eine Parteiversammlung ein und irgend so ein Chef hält dort eine Rede: 'Die Partei hat gesagt, wir brauchen noch ein bisschen mehr Elektroenergie', so im Sinn von: 'Gebt dem Land mehr Kohle!' - Aber auf wessen Kosten?! Das hier ist doch ein Reaktor! Der muss erst mal langsam abkühlen und dann wieder langsam angefahren werden. Aber nein, bei uns muss das ja schnell gehen: Zack, bumm! Kaum ist er unten: Eins, zwei - wird er schon wieder hochgejagt! Ja, gehen denn normale Menschen so mit einem normalen Reaktor um?"

    Selbst heute, ein Vierteljahrhundert nach dem GAU von Tschernobyl, ist immer noch unklar, wie viele Menschen direkt und indirekt an seinen Folgen sterben oder dauerhaft erkranken. Das "Tschernobyl-Forum", zusammengesetzt aus Vertretern der Vereinten Nationen, der Regierungen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine reden von mehreren Tausend Toten. Insgesamt, so werden UN-Vertreter zitiert, sei wohl mit rund viertausend Menschen zu rechnen, die wegen der Verstrahlung aus Tschernobyl ihr Leben verlieren würden. - Die Umweltorganisation "Greenpeace" hingegen kommt zu ganz andern Zahlen: Sie schätzt allein die Zahl der durch Tschernobyl ausgelösten Krebserkrankungen auf weltweit über 93.000 Menschen. Der ukrainische "Tschernobyl-Verband", ebenfalls eine Nichtregierungsorganisation will errechnet haben, dass die Todesrate - aktueller Stand - auf beinahe 735.000 Menschen angewachsen sei. Geheimhaltung fast um jeden Preis, und solange es geht, "Glasnost" hin oder her - das ist von Anfang an das Leitmotiv in Moskau und dem zu sowjetischen Zeiten nachgeordneten Kiew:

    "Im Kraftwerk selbst ermittelte der KGB. Man suchte nach Spionen und Saboteuren, Gerüchte erklärten die Havarie zu einer geplanten Aktion westlicher Geheimdienste, um das sozialistische Lager zu schädigen. Man müsse wachsam sein", beschreibt die weißrussische Journalistin Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch "Tschernobyl - Eine Chronik der Zukunft" das reflexhafte Verhalten der sowjetischen Verantwortlichen. Ein Signal damit auch an Ost-Berlin, welche Sprachregelung für die DDR-Bevölkerung zu gelten habe, obwohl dort inzwischen die meisten über die West-Medien mindestens auf dem Informationsstand der Bundesbürger sind. Unverdrossen verteidigen jedoch in der "Aktuellen Kamera" des DDR-Fernsehens noch Ende April Professor Günter Flach vom DDR-Zentralinstitut für Kernforschung und Professor Karl Lanius vom Institut für Hochenergie-Physik die sowjetischen Kollegen und Politiker - als Ideologen, weniger als Wissenschaftler:

    "Die bisherigen Betriebsergebnisse von über fast zwölf Jahren zeigen auch, dass der Reaktortyp sicher ist - im Prinzip. Und ich insofern absolutes Unverständnis hier äußern muss dafür, wie man solch eine technische Situation, so möchte ich das einmal bezeichnen, zu einer derartigen Kampagne nutzen kann, um die UdSSR und ihre friedliche Nutzung der Kernenergie in der UdSSR zu verteufeln. Man soll bitte nicht vergessen, dass offenbar doch hier sehr starke Elemente einer Verteufelung der Sowjetunion und einer Ablenkung von diesen doch so enorm wichtigen Friedensinitiativen zu sehen ist."

    Ganz andere Sorgen haben zu diesem Zeitpunkt all jene, die unter Einsatz des eigenen Lebens versuchen die Katastrophe am Reaktor vier in den Griff zu bekommen, die anderen Reaktoren abzuschirmen - die sogenannten "Liquidatoren". Einer von ihnen, der Energetiker Volodymyr Usatenko etwa, schüttelt heute noch den Kopf, wenn er sich an seinen Einsatz vor 25 Jahren erinnert:

    "Schrecklich! Ich hätte mir nie vorstellen können, dass es in einem Atomkraftwerk ein so nachlässiges Verhältnis zur Arbeit geben kann. Eine riesige, überhaupt nicht steuerbare Masse von Menschen hatte sich dort zusammengeklumpt. Die einen tun dies, die anderen ändern das anschließend, die Dritten machen dann damit wieder was Neues. - Jetzt schleppten sie Eisenbahnschwellen heran. Die aber sind zu lang. Sie müssen zersägt werden. Also sucht man ... Findet endlich zwei stumpfe Bandsägen, beginnt zu sägen. Vor der Reaktorruine stehen inzwischen ganze Bataillone. Die Menschen dienen dort buchstäblich als Schutzschirme, als Wischlappen, um die Strahlung in sich aufzusaugen."

    Alexej Shashkov, ein heute in Russland lebender Hubschrauberpilot, hat im Frühling 1986 den Unglücksort mehrfach anfliegen müssen. Er kennt ihn aus der Vogelperspektive, zeigt auf Filmsequenzen von Fernsehreportagen aus der damaligen Zeit:

    "Wir sind an die Bruchkanten des Dachs herangeflogen und haben versucht, nach unten in den zerstörten Reaktor hineinzugucken. Ein ganz furchtbares Bild war das - eine echte Atomexplosion muss das gewesen sein. Dort, ganz nah dran, haben die sogenannten 'Partisanen' gearbeitet: Einberufene Reservisten waren das. Und Soldaten. Junge Wehrpflichtige. Was kann man über die schon noch sagen?! Klar, man hat sie dort buchstäblich verbrannt. Viele von ihnen haben die Gefahr, der man sie ausgesetzt hat, nicht einmal entfernt begriffen. Über die Strahlendosis, die sie abbekommen haben, wussten sie genauso wenig Bescheid. Von uns allen, die dort im Einsatz waren, haben bis auf den heutigen Tag nur zwei überlebt, ein Kamerad und ich."

    "Manche meinen, das Verhalten der Feuerwehrleute und der Liquidatoren erinnere an Selbstmord. Kollektiven Selbstmord", schreibt die Tschernobyl-Chronistin Svetlana Alexijewitsch und ruft dann in Erinnerung:

    "Die Liquidatoren arbeiteten häufig ohne spezielle Schutzkleidung, gingen widerspruchslos dorthin, wo die 'Roboter' 'verreckten'. man verschwieg ihnen die Wahrheit (...) und sie fanden sich damit ab, freuten sich anschließend noch über die von der Regierung verliehenen Urkunden und Medaillen, die man ihnen vor ihrem Tod überreichte. Viele bekamen sie auch nicht mehr ausgehändigt."

    Nicht wenige Zeithistoriker und Politologen sind sich inzwischen im Rückblick einig: Die Tschernobyl-Katastrophe vom April 1986 sowie das endgültige Scheitern der sowjetischen Invasion in Afghanistan nur wenige Monate danach markieren jene beiden symbolischen Wegmarken, von denen aus der Zerfallsprozess der UdSSR an Fahrtempo zugenommen hat - bis zu deren endgültigem Untergang nur gut fünf Jahre später.

    Die heute noch lebenden "Liquidatoren" aber verteilen sich inzwischen über alle Nachfolgestaaten der untergegangenen Sowjetunion. Und sie kämpfen erbittert und verzweifelt um die letzten bescheidenen Sonderprivilegien, die ihnen der Staat vor 25 Jahren für ihre ruinierte Gesundheit vom Staat zugestanden hatte. Oft lehnen es die Ärzte ab, ihre heutigen Krankheitssymptome als "Tschernobyl-Folge" anzuerkennen. Bei dem heute im weißrussischen Narovlja lebenden Invaliden Ivan Vitkovskij, einem der Liquidatoren der ersten Stunden, schlägt die Strahlenkrankheit erst vor gut anderthalb Jahrzehnten so richtig zu, als er gerade einmal 36, 37 Jahre alt ist:

    "Der Organismus hat angefangen, sich zu wehren. Alle Haare fielen mir aus. Die paar Büschel, die auf dem Kopf noch übrig waren, hab ich mir schließlich abrasiert. Das sah sonst einfach zu hässlich aus. Wenn ich im Bus saß, haben mich die Schulkinder ausgelacht: 'Da, schaut mal, da fährt ein Globus.' Mein scheckiger Kopf als eine Weltkugel. - Na ja, was soll's? Die Kinder haben das doch nicht besser gewusst. Aber unangenehm war's schon. Dann sind mir die Zähne buchstäblich zerbröselt. Unheilbar! Da helfen keine Plomben mehr. Die Knochen werden brüchig. Mit der Wirbelsäule habe ich Probleme bekommen. Vorfristige Alterung. Wie bei einem Greis. Ich kann mich kaum mehr bücken. Die Haut reagierte beim kleinsten Kratzer sofort mit eitrigen Geschwüren, fing an zu faulen. Und schließlich hab ich immer öfter ganz plötzlich das Bewusstsein verloren, bin hingefallen, habe mich verletzt. - Einmal wollte ich mir ein Glas Wasser holen, halte es so in Hand. Danach kann ich mich an nichts mehr erinnern."

    Aber, so Vitkovskij:

    "Solche Symptome als "Strahlenkrankheit" zu bezeichnen - das ist ein Tabu", stößt er bitter hervor.

    "Mit meinem weißrussischen Liquidatoren-Ausweis fahre ich wenigstens in der Kiewer U-Bahn umsonst, kann auch mal im russischen Sotschi am Schwarzen Meer bezahlten Erholungsurlaub machen. Hier in meiner Stadt Narovlja berechtigt mich dieser Ausweis nicht einmal mehr zu einer kostenlosen Busfahrt von meiner Wohnung in die Poliklinik, wenn ich mich dort behandeln lassen muss. Dieses Recht hat man mir weggenommen."

    Immer weniger Geld für immer weniger "Liquidatoren" von Tschernobyl. Hofft man höheren Orts insgeheim und zynisch auf eine rasche "biologische Lösung"? - Der eine oder andere Veteran erinnert daran, dass doch schon unter Stalin gegolten habe: "Njet tscheloveka - njet problemy." - "Gibt es den Menschen nicht mehr, verschwindet mit ihm auch das Problem." In der ukrainischen Hauptstadt Kiew werden inzwischen längst Touristenausflüge in die Sperrzone rund um Tschernobyl angeboten. Der Schriftsteller Andrej Kurkov kennt das Standardprogramm:

    "Ja, das kostet, glaube ich, 130 oder 150 Dollar pro Tag. Sie kommen zum Sarkophag, dann besuchen sie Pripjat, Tschernobyl, Mittagessen in Tschernobyl. Dann gibt's ein bisschen selbst gebrannten Wodka mit Rückkehrern in den Dörfern. Die erzählen, wie sie dort wohnen. Du weißt (aber) nicht, was dort passiert und wie gefährlich es ist und wo es gefährlich ist. - Ich selber denke, dass es keine Idee ist. Für 'Extrem-Tourismus' - ja!"

    Die Kiewer Biochemikerin und außerparlamentarische grüne Oppositionspolitikerin Natalja Preobrazhenskaja lehnt nicht nur diese Art von Gruseltourismus ab. Auch die Pläne, den alten "Sarkophag", die inzwischen längst bröckelnde Betonschutzhülle über dem havarierten Reaktor, mit einer neuen Schutzhülle zu überziehen sieht sie skeptisch. Über eine halbe Milliarde Euro haben Staaten der Weltgemeinschaft - Anfang vergangener Woche in Kiew - dafür zugesagt. Unabhängig von der aktuellen Katastrophe im japanischen Fukushima werde Tschernobyl noch sehr lange ein ungelöstes Problem bleiben, meint Preobrazhenskaja:

    "Dort haben wir doch einen riesigen sogenannten 'Elefantenfuß', also all die geschmolzene strahlende Lavamasse im Reaktor. Wie will man die beseitigen? Wie will man sie desaktivieren? Ich weiß das nicht. Und wahrscheinlich wissen das viele nicht. Wir haben keine Ahnung, was dort unter der Erdoberfläche abläuft. Wie viele Radionukleide sind in die Hydrosphäre, ins Grundwasser gelangt? Wie viel davon ist in den natürlichen Kreislauf der Natur gelangt? Wir leben nicht in der Ära nach der Tschernobyl-Katastrophe, denn sie dauert an. Und: Sie geht weiter."

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