Donnerstag, 28. März 2024

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"Der Schatten"

"Peter Schlemihl" verkauft bekanntlich seinen Schatten, seine Identität, gegen ein "Glückssäckel". Die suggestive Geschichte Adelbert von Chamissos, im deutschen Vormärz eine der populärsten phantastischen Erzählungen, ist mehr als ein Märchen, sie ist aufgeladen mit sozialpsychologischem Stoff, ebenso wie die Geschichten des Dänen Hans Christian Andersen. Der Sohn eines Flickschusters und einer Trinkerin kam als Märchenerzähler zu plötzlicher Bekanntheit, wo er doch lieber ein großer Dramatiker oder Romancier geworden wäre. Andersen kannte aus eigener Erfahrung das Los des Außenseiters, die "schattenlose", mittellose, d.h. geächtete, gefährdete Existenz; er wusste um die Fragilität des Ruhmes. Kein Zufall also, dass er das Motiv des verlorenen Schattens zu einem Märchen verarbeitete. Da macht sich der Schatten – erst einmal verloren – selbständig, dergestalt dass er schließlich zum Herrn und Meister seines einstigen Besitzers sich aufschwingt. Ein Alptraum, der mit der geradezu kafkaschen Hinrichtung dessen endet, dem der Schatten abhanden kam. Ein beunruhigend-lakonisches, ein aufrührerisches, ein "schräges" Märchen! Und Günter Grass hat genau diese späte Erzählung nicht nur an den Anfang seines Andersen-Buches gestellt, er hat dem - ganz in Schwarz-Weiß gehaltenen - Märchen-Bilderbuch sogar den programmatischen Titel "Der Schatten" gegeben. Warum?

Von Rainer B. Schossig | 23.12.2004
    Ein sehr biografisches Märchen; und es gab mir die Möglichkeit, die andere Fähigkeit Andersens mit hineinzubringen, er ist ja nebenbei auch der Mann der Scherenschnitte gewesen, hat sein Leben lang mit der Schere, übrigens einer sehr großen Schere gearbeitet, diese diffizilen Sachen! Und er hat etwas gemacht, eigentlich in der Kunst vorauseilend: Er war einer der ersten, der Collagen gemacht hat, mit Ausschnitten; ganze Wandschirme hat er geklebt mit allen möglichen Motiven Dänemark betreffend. Ich wollte das mit hineinbringen, hier z.B. in diesem Blatt: Der Schluss der Schneekönigin, wenn Kai und Gerda zusammenkommen, dann zeig’ ich sie wie aus einem Blatt ausgeschnitten. Und hier ist die Schere, lebend. Den Schlusstanz machend.

    "Hans Christian Andersens Märchen – gesehen von Günter Grass", lautet der Untertitel des Buches. Wie schwarz ist diese Andersen-Sicht? Geht es etwa mehr um deren Schatten- als deren Lichtseiten? Gott bewahre, Grass hat sich einfach irgendwann "festgelesen" in diesen biedermeierlichen Abenteuer-Geschichten, und – wie es so seine Art ist – hat er eine Zeichnung dazu gemacht. Weitere Skizzen kamen hinzu, bis der Plan reifte, sie als Lithografien zwischen zwei Steidl-Buchdeckeln zu vereinigen. Resultat: die Verbeugung vor einem Verwandten im Geiste, vor einem Dichter, den er schon als Knabe mochte, aber auch heute noch spannend findet:

    "Der Weg war der des Kindes, das auch neben anderen - den Grimmschen, den Bechsteinschen Märchen - Andersens Märchen gehört und geliebt hat. Er hat mich auch noch deshalb besonders interessiert, weil er die von der deutschen Romantik entwickelte Form des Kunstmärchens weiter geführt hat, und etwas, das in den Volksmärchen selten, so gut wie nie drin ist, z.B. Ironie, die ist bei Andersen durchaus präsent in vielen Märchen. Wie er mit einem Parlando Ironie ins Märchen hineingebracht hat, in relativ kurzen Texten - 'Des Kaisers neue Kleider’ oder 'Die Prinzessin auf der Erbse’. Da schafft er Figuren, die sprichwörtlich geworden sind.

    Der Märchenerzähler Andersen aus dem grauen dänischen Provinzstädtchen Odense benutzt Schwarz-Weiß, Dunkelheit und Licht bewusst als soziale Farben. Er arbeitet gesellschaftliche Grenzen damit heraus. Ist er doch selbst ein Kind des Schattens, der Armut. Bei Grass wird aus dem verrückt gewordenen Schlemihl-Schatten ein Schattenriss des dänischen Dichters selbst – ganz so, wie der sich gern fotografiert sah: posierend mit Zylinder, Gehrock und langer Nase. Und solche Schattenspiele gehen weiter, quer durch die Märchen-Illustrationen: Däumelinchens Fahrt auf dem sonnenbeschienenen Seerosenblatt führt weg vom drohenden Schicksal als schlammige Braut des Sohns der Kröte. Günter Grass zeichnet höchst realistisch das entsetzte Blumenkind auf der Flucht vor den Unkenrufen. Den Hang zum Märchenhaften und eine scharfe Beobachtungsgabe, soziale Verantwortung und eine Leidenschaft für die Erfahrung der Wirklichkeit haben Grass und Andersen gemeinsam. Und bei Grass sogar doppelt: literarisch und bildkünstlerisch. Wie andere beim Sprechen, so verfertigt er bekanntlich seine Gedanken beim Zeichnen. Ein schreibender Zeichner - so schrieb Grass einmal - sei jemand, der "die Tinte nicht wechselt." Und wirklich: an der Schreibmaschine wie am Zeichentisch bleibt er beim Figurativen, beim Kreatürlichen, beim Gegenständlichen, also bei Mensch, Tier und Ding - wie Andersen auch:

    Er bringt es ja fertig, die Gegenstände zum Sprechen zu bringen! Also ein Streitgespräch zwischen dem Strumpfband, dem Halskragen, dem Kamm und der Bürste: Wer ist am wichtigsten? Wenn in den Märchen die Tiere sprechen, das ist uns bekannt. Aber dass er die Gegenstände so zum Sprechen bringt, das ist neu und sensationell. Diese Verdinglichung der Gegenstände, die auf einmal sprechen können, oder auch ein Blick durchs Schlüsselloch, das sind die Dinge, die für mich eine Rolle gespielt haben.

    Von Sachen, vor allem von Tieren reden auch die Titel seiner Bücher: Von der "Blechtrommel" über "Katz und Maus", die "Hundejahre" und den "Butt" bis zu den "Unkenrufen". Und von Tieren wimmeln auch Andersens Märchen: Grass zeichnet eine struppige Wasserrättin, die dem "Standhaften Zinnsoldaten" die Reisepapiere abverlangt. Die drei Zauber-Hunde des "Feuerzeugs" werden mit ihren riesengroßen Glotzaugen aufs Plutonischste vorgeführt. Die "Wilden Schwäne" sind selbstverständlich Lieferanten für Schreib- bzw. Zeichenfedern. Dort kommen auch wieder Kröten vor; wie dem Autor der "Butt" flüstern sie der bösen Königin Parteiisches ins Ohr; ein gefundenes Fressen für Grass, der Kröten bekanntlich nicht schluckt sondern – auch literarisch – lieber ausspuckt. - Günter Grass ist Augenmensch: seine Texte und Bilder leben von konkreten historischen Ansichten der Welt, gesehen von "ganz unten", aus der Sicht der sog. "Kleinen Leute", z.B. der Zwergen-Perspektive des Oskar Matzerat. Und handgreiflich geht es zu, in Andersens Märchen, wie auf Grass’ Bildern, wie im wirklichen Leben: Gewalt und Glück, hochfliegende Träume und tiefes Unglück liegen nahe beisammen.

    Die bisher überlieferte Illustration von Andersen-Märchen, die ja sehr früh begonnen hat, war doch sehr stark spätromantisch geprägt und hielt auch lange noch an. Ich wollte auch die Grausamkeit der Märchen mit hinein bringen. Die 'Roten Schuhe’, da werden zum Schluss diesem tanzwütigen Mädchen die Füße abgehackt, auch das sollte ins Bild kommen.

    Günter Grass hat seinem Andersen-Märchen-Buch die Widmung gegeben: "Meinen Kindern und Kindeskindern auf den Tisch gelegt". Und er schließt es auch mit einer Widmung, mit einem Doppelmedaillon: Der etwas stumpfnasige, schnauzbärtige Danziger mit der kaschubischen Kinnlade als gespiegelter Zwilling des hakennasigen Dänen mit romantisch fliehendem Unterkiefer, darüber ein feines Lächeln. Eine denkwürdige, eine programmatische Hommage an Gevatter Andersen und seine Märchen, mit ihren merkwürdig zauberhaften, absurden Abenteuern, ihren bösen und Herzrührenden – kurz humanen Geschichten. Darin wieder erkennt er sein eigenes Profil. Wo findet man heute noch einen so unermüdlich kritzelnden und malenden Schriftsteller wie Günter Grass? Mit seinen Andersen-Illustrationen ist er allen - den großen und kleinen Lesern - wieder ganz nahe.