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Der Schein trügt

Die Kunstgeschichte hat allerlei Mittel und Wege hervorgebracht, unsere Sinne aufs Glatteis zu führen. Einen Überblick über die hohe Kunst der Augentäuschung gibt Céline Delavaux jetzt in einem Bildband.

Von Martina Wehlte | 14.10.2013
    Für Philosophen ist die Frage, was denn die Wirklichkeit sei, von jeher ein ergiebiges Thema und wer heute mit den Erkenntnissen der Neurobiologie und dem Wissen um die Manipulationsmöglichkeiten der digitalen Medien über Realität und Fiktion, Illusion und Fakten nachdenkt, der verliert recht schnell den Boden unter den Füßen. Nur allzu gerne lassen wir uns durch den schönen Schein über die Echtheit täuschen. Und gerade darin liegt die Macht illusionistischer Kunst, dass sie die Wirklichkeit sublimiert und uns als authentisch präsentiert:

    llusionistische Kunstwerke lösen ein ambivalentes Vergnügen aus, weil sie uns zu ihren Opfern machen. Sie führen uns in die Irre und lassen uns an unseren Sinnen zweifeln.

    "Die Kunst der Augentäuschung" lautet denn auch der Untertitel zu Céline Delavaux’s klug zusammengestelltem Band mit Gemälden, Plastiken, Fotografien und Installationen vom Jungpaläolithikum bis zur Gegenwart. Dass die Autorin die sogenannte Venus von Milandes in ihren Querschnitt aus dem "Museum der Illusionen" aufgenommen hat – eine doppelgeschlechtliche Statuette aus Kalkstein, die je nach Blickpunkt sowohl eine weibliche Figur als auch einen Phallus wiedergibt -, mag als Kuriosität erscheinen, ist aber nach dem zugrunde gelegten kunstwissenschaftlichen Verständnis von Illusionismus durchaus konsequent:

    Die Technik herauszufordern, um zu täuschen, zu verführen, zu belehren; den Sinn zu verstärken, der ein und derselben Form gegeben werden kann; das menschliche Gesicht und die unbelebte Natur bis zu dem Punkt zu verwandeln, an dem sie miteinander verwechselt werden können; die perspektivischen Fähigkeiten des Künstlers zu erforschen und die des Betrachters zu hinterfragen; durch die Schaffung von Fiktion die Grenzen der Wirklichkeit zu überschreiten.

    Es geht also nicht nur ums Trompe-l’oeil der Weintrauben von Zeuxis, nach denen die Vögel gepickt haben sollen; oder um Michelangelos gigantische Deckenfresken in der Sixtinischen Kapelle, die das Bauwerk optisch sprengen; um die Täuschung durch perfekte Imitation wie bei dem hyperrealistischen Bildhauer John de Andrea oder dem Porträtisten der Mittelklasse Duane Hanson; um Street Art als städtebauliches Dekor oder kritischer Kommentar. Es geht auch um eine Erweiterung der Wirklichkeit durch ihre Verfremdung, sei es durch Bilderrätsel oder die Anamorphosen des 16. Jahrhunderts, sei es durch einfallsreiche Grotesken oder aus Gegenständen und Figuren zusammengesetzte Gesichter wie bei dem Japaner Utagawa Kuniyoshi. Oder wie bei den Surrealisten und bei Salvador Dalí, der Landschaften, Figuren, Gegenstände in akademischer Tradition malte, aber das Unvereinbare vereinte, die konkrete Form zerfließen ließ, die unmögliche Illusion kreierte. Seine Vorstellungskraft macht den schöpferischen Impuls des Künstlers aus.

    Die Zuordnung einzelner Darstellungsweisen zu "doppeldeutiger Kunst", "Formspielen" oder anderen Kategorien, die Céline Delavaux vornimmt, strukturiert ihr Buch, ist aber diskussionswürdig, denn die Grenzen sind fließend. Nicht ohne Weiteres nachvollziehbar ist der Part des aktiven, um das Kunstwerk herumgehenden Rezipienten, der so erst die Wirkung der dreidimensionalen Anamorphosen bei Tony Cragg erfahrbar macht. Überzeugend hingegen die Hinzunahme der Fotografien des Brasilianers Vik Muniz, der aus ungewöhnlichen Materialien - Konfitüre, künstlichem Blut, Müll oder reinen Pigmenten – Kompositionen schafft. Vorzüge des Bandes sind der substantielle, jedes Werk anschaulich erklärende Text und der weit schweifende Blick: Das Museum der Illusionen ist wahrhaft international, von den bildgewordenen Seherfahrungen Victor Vasarelys bis zu Michael Kalishs monumentaler "reAlize"-Installation aus schwarzen und weißen Ledersäcken in Los Angeles, die das Porträt Muhammad Alis wiedergaben. Von den Selbstinszenierungen des Chinesen Liu Bolin, der durch seine jeweilige Körperbemalung mit dem wohlüberlegt ausgewählten Hintergrund verschmilzt und sich selbst gewissermaßen auslöscht, bis zu den halluzinatorischen, jegliche stringente Wirklichkeitserfahrung aufbrechenden DVD-Installationen der Finnin Eija-Liisa Alitila. – Grenzüberschreitend, in fließenden Übergängen reflektiert die Kunst und auf anregende Weise auch das vorliegende Buch das Spiel mit der Wirklichkeit.


    Céline Delavaux: "Das Museum der Illusionen. Die Kunst der Augentäuschung." Prestl
    (Originaltitel: Le Musée des Illusions. Originalverlag: Olo Editions.) 192 Seiten, 120 farbige Abbildungen, EUR 24,95 Euro.