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Der schnellste Mann der Welt

Vor 50 Jahren lief der Deutsche Armin Hary Weltrekord über 100 Meter. Als erster Mensch lief er die Strecke in exakt zehn Sekunden. Der verdiente Lohn für lange, harte Arbeit. Doch der Rekordversuch benötigte mehrere Anläufe.

Von Eduard Hoffmann | 20.06.2010
    Zürich, Letzigrund-Stadion am 21. Juni 1960 gegen 20.20 Uhr:

    "In blanken zehn Sekunden hat Armin Hary gerade die 100-Meter-Strecke hinter sich gelassen. Er war vor allem von den Startblöcken sensationell gut weggekommen. Der 72 Kilo schwere und 1,82 große Athlet ist der Ziellinie mit rasantem Tempo nur so entgegengeflogen."

    Weltrekord! So schnell war bislang noch kein Mensch gelaufen. Doch das Kampfgericht erkannte die Rekordzeit nicht an. Man hatte den Starter befragt, der räumte ein, es sei ein Fehlstart gewesen, er habe den Lauf aus Nervosität nicht zurückgeschossen.

    "Der Weltrekord wurde nicht anerkannt und damit war die Sache für mich eigentlich erledigt."

    Bereits zwei Jahre zuvor, 1958, war Armin Hary in Friedrichshafen 10'00 gelaufen. Damals hatten die Kampfrichter die Bahn vermessen lassen und festgestellt, dass Harys mittlere Spur einen Zentimeter zu viel Gefälle hatte. Nichts war es mit dem Weltrekord. Und jetzt in Zürich anno 1960 erneut so eine merkwürdige Geschichte.

    Immer wieder waren der eigenwillige Sonnyboy Hary und die Verbandsfunktionäre, von denen viele noch im Geist und mit dem Führerprinzip der Nazis großgeworden waren, aneinandergerasselt. In einem Interview hatte der junge Bergmannssohn aus dem Saarland gefordert, dass die Funktionäre für die Athleten da sein sollten und nicht umgekehrt. Die Verbandsoberen machten dem selbstbewussten und mündigen Sportler das Leben schwer.

    Die Starterlaubnis für Zürich hatte der Deutsche Leichtathletik-Verband erst am Morgen des am 21. Juni 1960 erteilt. Mit viel Glück ergatterte Armin Hary noch einen Flug. In Zürich angekommen, blieb nicht viel Zeit, zur Ruhe zu kommen und sich auf den Start vorzubereiten. Dennoch schaffte der nervenstarke Hary die Traumzeit von 10'00. Aber wieder sollte die "größte Sprintbegabung aller Zeiten", wie viele Fachleute meinten, um die Früchte seiner Trainingsarbeit gebracht werden:

    "Und dann kam ein Journalist, der Gustav Schwenk, und sagt zu mir: Du, da gibt es einen Paragrafen in der Satzung vom Leichtathletikverband, da kannst du einen Lauf wiederholen, ohne dass der Lauf vorher angemeldet ist".

    Hary setzte alles daran, den Lauf wiederholen zu können. Zu viel hatte er investiert:

    "Zürich war die schnellste Bahn damals, und ich musste das noch mal probieren."

    Schon immer hatte er wie ein Besessener trainiert. Als erster deutscher Athlet arbeitete Hary mit Hanteln. Oft schlüpfte er in mehrere Trainingsanzüge gleichzeitig, zog sich die Pudelmütze über die Ohren und lief los. Eine Besonderheit in Zeiten, wo weder Trimm Trab noch Jogging das Laufen zum Volkssport gemacht hatten:

    "Und wenn ich dann mich warmgelaufen hab so im Wald am Sonntagvormittag und die Spaziergänger sind mir begegnet, da war ich nur der Verrückte. Da kommt schon wieder der Verrückte, der läuft. Und das hat mir eigentlich immer am allermeisten wehgetan, weil ich etwas machte, das eigentlich von niemandem akzeptiert wurde."

    Am Abend des 21. Juni 1960 aber zählte jetzt nur eins: der zweite Lauf. Nach einigen Diskussionen stimmte das Kampfgericht schließlich zu. Nun musste Hary für den neuen Start noch mindestens zwei Sprinter aus dem ersten Lauf finden. Der Kölner Jürgen Schüttler und Heinz Müller aus der Schweiz lassen sich überreden:

    "Die anderen Europäer haben da nicht mitgespielt. Die einen mussten 200 Meter laufen und die anderen haben mir das nicht gegönnt, ja die Franzosen zum Beispiel, aber ich habe die zwei Läufer gefunden."

    35 Minuten nach dem ersten Sprint kauert sich Armin Hary noch einmal in seine selbst gebastelten Startblöcke. Dieses Mal schießt der verletzte und an Krücken humpelnde Züricher Chef-Starter Kern selbst die Läufer auf die 100 Meter.

    Wieder fliegt der Ausnahmeathlet über die Aschenbahn im Letzigrund-Stadion. Erneut zeigen die Stoppuhren die Weltrekordzeit von 10'00 Sekunden an. Und jetzt gibt es keine Einwände: Der neue Weltrekord von Armin Hary wird offiziell anerkannt.

    Entspannt kann das deutsche Sprintwunder zwei Monate später zu den Olympischen Spielen nach Rom fahren. Dort krönt er seine Sportkarriere mit zwei Goldmedaillen, mit der 4x100-Meter-Staffel und am ersten September 1960 über die 100 Meter:

    "Armin Hary hat es geschafft, als erster Nicht-Amerikaner, als erster Europäer seit 32 Jahren den Amerikanern das Abonnement auf die Goldmedaille zu entreißen."

    "Rom waren meine Spiele, und das konnte mir niemand nehmen. Ich wollte mich für alles rächen, was sie mir angetan haben, und trotzdem bin ich nicht für mich gelaufen, ich bin eigentlich für Deutschland gelaufen, aber all diese Dinge haben sich nicht gelohnt, und darüber bin ich seit vielen, vielen Jahren, bin ich immer noch 'n bissl traurig."

    Ein Jahr später hatte ihn der Leichtathletikverband gesperrt. Hary wird nachgewiesen, dass er Spesen nicht korrekt abgerechnet hat. Kurz vor Ablauf der Sperre gibt der damals 24-jährige Armin Hary - nach einem schweren Autounfall - seinen Rücktritt vom aktiven Sport bekannt.
    Heute geht es dem Weltrekordler und Olympiasieger von 1960 gut. Die zahlreichen Demütigungen und Kränkungen während seiner kurzen Sportkarriere hat er aber immer noch nicht ganz verwunden. Mit Hilfe von Unternehmen und Gemeinden fördert Hary junge Sporttalente, die aus schwierigen Verhältnissen kommen.