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Der Schrei der Sanduhr

In einem Pariser Vorort lebte einst ein Kind, dieses Kind hatte zwei braune Zöpfe, einen Papa und eine Mama. Der Vater, ein Kapitän, war sehr streng. Seinen Heimaturlaub benutzte er dazu, Frau und Tochter zu terrorisieren. Besonders die Tochter: Schläge mit dem Gürtel, Arrest im Schrank, Abspritzen mit eiskaltem Wasser aus dem Gartenschlauch waren an der Tagesordnung. Er erwürgte die Katze, servierte Partygästen den gegrillten Hamster des Kindes. Die Mutter schwieg, sah zu, tat nichts. Eines Tages nahm der Vater das Schießgewehr.

Von Brigitte Neumann | 08.06.2004
    Er schoss aus nächster Nähe. Die Mutter fiel als erste. Der Vater nahm das Kind ins Visier. Der Vater besann sich anders, beugte ein Knie auf den Boden und steckte sich den Lauf tief in den Hals.

    Die Überlebende des Massakers ist heute 31.

    Ich hatte keine Lust, dass dieses Buch nur eine Art Doku-Literatur wird, die Zeugenaussage eines Opfers, ein abenteuerliches Plauderstündchen. Denn so was ist keine Literatur. Sondern eine Art, sich über das Schicksal zu beschweren; Mitleid hervorzurufen. Was für mich die grauenvollste Reaktion ist, die Literatur erzeugen kann.

    Die große Leistung dieses Buches ist, dass Chloé Delaumes für ihren Alptraum eine angemessene Sprache gefunden hat. Sätze von hysterischer Wachheit, nirgendwo Selbstmitleid, keine Aufmotzadjektive. Aber hyperventiliert. "Man muss den Vater immer stoßweise benennen, weil er rhythmisch zuschlägt.", heißt es einmal. Worte, die den Leser vor den Kopf stoßen. Chloé Delaume ist eine erfinderische Wortjongleurin.

    Das was die Leute gerne annehmen: Hätte sie dieses Buch nicht geschrieben, hätte sie sich bestimmt umgebracht. Das ist Blödsinn. Aber ich bin mit einer Sprache aufgewachsen, die nicht dazu da war, zu sagen, was sich wirklich bei uns zuhause abspielte. Diese Sprache war dazu da, der Wirklichkeit eine hübsche Maske aufzusetzen. Ich habe eine Sprache gefunden, die nicht lügt, die nicht höfliche Routine ist. Und diese Sprache kann mir niemand mehr wegnehmen. Sie ist eine Form des Widerstands, die einzige, die für mich erreichbar war.

    In Beirut, wo Chloé Delaume aufwuchs, gehörte die Familie zur besseren Gesellschaft. Die Mutter, eine weiße Französin mit akademischem Abschluss, dressiert ihre sprachbegabte Tochter zur Attraktion der Salons, die sie gibt. 'Ich war das kleine, niedliche Tierchen mit dem elaborierten Code’, sagt Delaume.

    Was meine Mutter mir weitergeben konnte, war eine Neugier der Sprache gegenüber, einen großen Wortschatz und sogar eine gewisse Liebe zur Sprache. Denn es gab wenig Körperkontakt zwischen uns. Liebe äußerte sich nur in Worten.
    Ich habe auch früh erfahren, dass Worte außerordentlich verletzend sein können – durch den Vater. Aber die Sprache zu meistern bedeutete auch, Macht zu besitzen. Denn die einzigen Male, wo meine Mutter Macht über meinen Vater hatte, waren Momente, in denen sie ihm sprachlich überlegen war. Ich habe sehr schnell verstanden, wie das funktioniert.


    Chloé Delaume, die nicht wirklich so heißt, sondern sich selbst diesen Namen gegeben hat, als sie anfing zu schreiben, hatte unmittelbar nach dem Massaker des Vaters die Sprache vollständig verloren.

    Ja, für neun Monate. (ironisch:)Das Kind musste sich erst selbst wieder zur Welt bringen. ... Ich war bei meinen Großeltern mütterlicherseits untergebracht. Die haben mich auf eine Schule geschickt, wo die Lehrer prügelten. Eines Tages hatte es wieder mal meine Banknachbarin getroffen, die daraufhin in die Hose machte. Ich erinnere mich noch gut, wie ich plötzlich den Lehrer anbrüllte. Ich benutzte sehr vulgäre Worte und hörte nicht mehr auf zu toben. Die angestaute Wut kam auf einmal heraus. Und zwar verbal. Es gibt keinen Widerstand ohne Sprache.

    Manchen Autoren hat sich die eigene Geschichte wie ein Trauerrand unter die Nägel gesetzt. Delaume ist sie zum Sprengsatz geworden.
    Als sie mit 28 merkt, dass der Vater zwar faktisch tot war, in ihr aber weiter wirkt wie ein langsam sich leerendes Giftdepot, versucht sie im Schrei der Sanduhr dieses, wie sie es nennt "Aas" herauszuwürgen. "Welche Waffe habe ich gegen diesen Mörder, welche Waffe?" lautet Chloé Delaumes bange Frage. Der Vater scheint ihr wie Sand, eine Wüste fossiler Körnchen, von denen nur eins ausreicht, um eine ganze Maschinerie lahmzulegen. Aber zum Schluss ist sie sich sicher: "Ich werde meinen Vater aus mir ausleeren. Korn für Korn."

    Chloé Delaumes Roman "Schrei der Sanduhr" wird mit Sicherheit etlichen Lesern von der Form her zu experimentell sein. Aber es wird die geben, die mit dem Sujet in irgendeiner Weise vertraut sind, und wenn man den Statistiken des Bundesfamilienministeriums glauben darf, sind es auch hierzulande nicht wenige. Sofern die nun zur lesenden Gilde gehören, dürften sie einen leichteren Zugang zu diesem Buch haben. Denn die Kunstgriffe der jungen Französin dienen immer der Gestaltung ihres Themas. Nicht eine Zeile, nicht ein Wort sind Selbstzweck, Eitelkeit oder l’art pour l’art. Delaume leistet sich das Stilmittel der Wortzersetzung, weil sie von Zerstörung berichtet. Sie benutzt Lyrismen, weil deren konzentrierte Kraft optimal dazu taugt von jenen ungeheuerlichen Erlebnissen zu erzählen.
    Sie ist mehr als eine Berichterstatterin. Sie ist eine Schriftstellerin. Und "Der Schrei der Sanduhr" ist ein großartiges Buch.