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Der seltsame Doktor im Keller

Dr. Ichiro Irabu residiert in einem Kellerverlies der Klinik seines Vaters und geht einer Tätigkeit ganz am Ende der ärztlichen Prestigeskala nach: Er ist Psychiater, zudem ein Mann von ungeschlachter Gestalt, bedenklichen Umgangsformen und zweifelhaften therapeutischen Ansätzen. Der japanische Autor Hideo Okuda erzählt in seinem Buch fünf hochkomische Fälle des eigenwilligen Seelendoktors.

Von Florian Felix Weyh | 09.08.2007
    Sein Name prangt über dem Portal des Privatkrankenhauses, doch nicht, weil er es selbst zu Ruhm und Ehre gebracht hätte: Dr. Ichiro Irabu residiert in einem Kellerverlies der Klinik seines Vaters, wo er einer Tätigkeit ganz am Ende der ärztlichen Prestigeskala nachgeht. Er ist Psychiater, zudem ein Mann von ungeschlachter Gestalt, bedenklichen Umgangsformen und zweifelhaften therapeutischen Ansätzen. Wer sich als Patient zu ihm in den Klinikhades verirrt, bekommt zunächst eine dicke Vitaminspritze verabreicht, die - zumindest für männliche Patienten tröstlich - von einer äußerst attraktiven, wenngleich durchweg mürrischen Krankenschwester gesetzt wird. Dem Rollenmodell des empathiegesättigten Zuhörers will dieser seltsame Doktor auch nicht entsprechen. Statt auf die Nöte seiner Patienten einzugehen, fischt er sich aus ihren Erzählungen das heraus, was ihn persönlich interessiert - vielmehr: woran er praktisch anknüpfen kann. Beim Artisten Yamashita, der seit Wochen vom Trapez ins Sicherungsnetz abstürzt, weil er ständig die Hand seines neuen Partners verfehlt, ist es die kindliche Vorstellung, er, der übergewichtige Arzt, könne selbst einmal dort oben in der Kuppel des Zirkuszeltes stehen. Und weil der verunsicherte Artist ihm nichts abzuschlagen wagt, demonstriert Dr. Irabu durch die Abwesenheit jeglicher Angst und sein vollkommenes Vertrauen in den Trapezpartner, dass nicht dieser die Schuld an den Fehlgriffen trägt, sondern der Patient Yamashita; er muss sein Scheitern auf die eigene Schulter nehmen.

    Wollte man die Prosa des japanischen Autors Hideo Okuda seelenmedizinisch verorten, landete man vermutlich beim - nie erwähnten - Viktor Frankl und seiner Technik der "paradoxen Intervention": Dem neurotischen Patienten wird auf unerwartete Weise der Spiegel vorgehalten, die Heilung von Tics und Zwängen tritt durch Verblüffung ein. In allen fünf Erzählungen des Bandes, die sich unabhängig voneinander lesen lassen, sind Dr. Irabus Patienten Opfer der japanischen Leistungsdruckgesellschaft - die Bestsellerautorin, die sich nicht mehr an die Figuren ihrer vorigen Bücher erinnert und sich beim Schreiben permanent erbrechen muss, ebenso wie der Profibaseballspieler, der unter "Yips" leidet, dem seltsamen Kontrollverlust der Hände, wie man ihn seit langem von Golfspielern her kennt, ohne freilich um Ursachen oder Therapien zu wissen. Alle beide ein Fall für Dr. Irabus Konfrontationstherapie. Natürlich hält er sich selbst für einen potenziellen Bestsellerautor und nervt den Verlag seiner Patientin mit wirren Ergüssen; auch der Verein des Baseballspielers muss sich mit ärztlichen Selbstverwirklichungsversuchen auf dem Spielfeld herumschlagen. Das ist der eigentliche Witz dieser wirklich komischen Belletristik: Nicht das Patienten-Ego, dem mit therapeutischer Einfühlnahme geschmeichelt wird, steht im Vordergrund, sondern die aufdringliche Selbstinszenierung des Arztes, auf dass sich die Patienten an ihr abarbeiten mögen. Im Idealfall wächst ihnen dann die Erkenntnis zu, wie verquer sie sich durchs eigene Leben bewegen.

    Besonders einprägsam und mit einem Mehrwert für die Bibliotherapie versehen - ja, die gibt es -, erscheint Fall 3 des Buches, bei dem Dr. Irabu die Zwangsgedanken eines ehemaligen Studienkollegen heilen soll. Dieser überangepasste Karrierist hat die Tochter des Universitätsdekans geheiratet und sieht sich nun dem Angst einflößenden Impuls ausgesetzt, seinem Schwiegervater die haarsträubend schlecht sitzende Perücke vom Kopf zu reißen. Öffentlich! Natürlich will er das nicht tun, aber irgendwas in ihm sagt ihm, dass er es tun könnte, weil er es vielleicht doch insgeheim will. Eine Spirale der Verzweiflung setzt ein und führt zum Rückzug aus dem sozialen Leben, bis Dr. Irabu den Ex-Kommilitonen zu einer Neuauflage einstiger anarchischer Studentenstreiche verführt. "Der Panzer, in dem du steckst", will er damit wohl sagen, "lässt sich auch auf weniger drastische und karriereschädliche Weise sprengen." Gerade diese Geschichte beweist profunde Kenntnis der prekären Seelenlage von Angstneurotikern, weswegen das Buch mehr als nur eine gelungene Unterhaltungslektüre darstellt: Es nimmt harmlosen, doch für die Betroffenen höchst unangenehmen, inneren Abgründen ihre Spitze. Um spitze Dinge geht es übrigens in der ersten Geschichte, die der obligatorischen Vitaminspritze zu Beginn jeder Sitzung ihre Bedeutung verleiht: nicht ihr flüssiger Inhalt wirkt heilsam, sondern ihre äußerliche Gestalt. Wenn jemand unter einer Stichwaffenphobie leidet.

    Hideo Okuda: "Die seltsamen Methoden des Dr. Irabu"
    Aus dem Japanischen von Matthias Pfeifer
    BTB, 236 Seiten, 8,- Euro