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Der skeptische Erzähler als Platoniker

Was sollen wir davon halten, wenn in Platons Dialog "Phaidon", als Sokrates vom Leben zum Tod ging, alle befreundeten und fremden Anwesenden namentlich genannt werden, die dabei waren, Phaidon jedoch hinzufügt: "Platon aber, glaube ich, war krank"? Ausgerechnet Platon, der Phaidon eine der großen Sterbeszenen der Weltliteratur in den Mund gelegt hat, sei krank gewesen, als sein großer Lehrer und der fiktive Held seiner philosophischen Dialoge den tödlichen Schierlingsbecher austrank? Glaubt Phaidon. Sollen wir das auch glauben?

Von Wolfram Schütte | 06.07.2010
    Dzevad Karahasan, der bosnische Erzähler, Dramatiker und Essayist zitiert den berühmten Passus in seinen Essayband "Die Schatten der Städte" und behauptet, erst nach mehrmaliger Lektüre der rätselhaft-schockierenden Passage sei ihm aufgegangen, dass man sie weder biografisch noch historiografisch lesen sollte, sondern poetisch. Hier werde von Platon nicht "darüber gesprochen, was in der wirklichen Welt geschehen ist, sondern es wird die Art bestimmt, auf die im folgenden Text über das Ereignis gesprochen wird". So begründet Karahasan seine Lektüre.

    Mit Phaidon und dessen zweifelnder Behauptung, Platon sei krank und deshalb abwesend gewesen, hat sich Platon eine vermittelnde und distanzierende Erzähl-Instanz geschaffen, deren "glaube ich" einem ironischen Augenzwinkern zum Leser hin gleicht; und mit der Erwähnung der anderen Augen- und Ohrenzeugen von Sokrates' Sterben mobilisiert er weitere erzählerische Mittel, das ihn bewegende Geschehnis soweit als möglich in eine "objektivierte Emotion" sowohl zu übersetzen wie auch zu einem poetischen Moment zu verdichten.

    Diese Poetik Platons, den Gegenstand nicht direkt zu beschreiben, sondern ihn mehrperspektivisch aus Erinnerungsreflexen, Empfindungen und Echos zu rekonstruieren, entspricht Karahasans eigener Poetik des "skeptischen Erzählers", der sich der Unzuverlässigkeit unseres Wissens sicher ist und der Sprache nicht zu sehr glaubt. Eben deshalb erzeugt der "skeptische Erzähler" aber mit dem Leser die persönlichste Form der Kommunikation: das kreative Gespräch zwischen Menschen, die sich über ihre jeweilige Einzigartigkeit austauschen.

    Denn darum geht es Dzevad Karahasan bei seinem Schreiben, das wie der 1953 geborene Autor tief geprägt wurde vom multikulturellen Leben Sarajevos und dessen Zerstörung während der mehrjährigen Belagerung und Beschießung der bosnischen Hauptstadt durch serbische Scharfschützen in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

    "Hat mir Sarajewo die Augen für die Poetik Platons geöffnet, oder hat mir die Beschäftigung mit dieser Poetik geholfen, meine Stadt wenigstens halbwegs zu verstehen", fragt er sich in dem mehrteiligen Essay "Mein Sarajevo erzählen".

    Der muslimische Platoniker Karahasan, wird man sagen dürfen, hat erst im erinnernden Erzählen seiner Romane "Schahrijas Ring" und "Sara und Serafina" seinem vergangenen Sarajevo beschwörende Schattenrisse widmen können: Annäherungen an das stets im Wandel befindliche Urbild der einzigartigen Stadt.

    Während er im zweiten Teil seiner Essaysammlung das Erzählen mit den Spezifika der Stadt, ihres Lebens und ihrer Gesellschaft synchronisiert und die Prosa gegenüber der gebundenen Rede des Epos absetzt, das dem zyklischen Leben des Dorfs entspricht, entwickelt Dzevad Karahasan im ersten, umfangreicheren Teil eine weit und tief ausholende Theorie über Zeit und Raum in der Literatur.

    Philosophisch nicht geübte Leser dürften da ihre Schwierigkeiten haben – obwohl der hochgebildete Autor, der seine Beispiele vornehmlich aus der antiken Dramenliteratur und den hellenistischen Romanen nimmt, sehr bedachtvoll, um nicht zu sagen oft zu bedächtig argumentativ fortschreitet. Mit Kant geht Karahasan davon aus, dass Zeit und Raum uns allen angeborene Wahrnehmungskategorien sind. Sie werden aber von Kultur, Gesellschaft, Religion, Klima, historischem Gedächtnis, Wirtschaft und so weiter geformt. Als Bedingungen unserer Welterfahrung spiegeln sie sowohl das kulturelle Ambiente wider, in dem Literatur entstanden ist, als auch die davon abweichenden singulären Eigenheiten des Autors.

    Anhand des von Michael Bachtin eingeführten Begriffs des Chronotopos, für den sich auf Deutsch das Wort "Raumzeit" eingebürgert hat, entwickelt Karahasan vier Typologien: den mechanischen, den bukolischen, den analytischen und den rituellen Chronotopos. Der heute in Graz und Sarajevo lebende Autor versteht es, besonders aber im Blick auf die beiden letztgenannten Chronotopoi, durch ebenso intelligente wie sensible Interpretationen von Sophokles' "Ödipus" und des Kleistschen "Prinzen von Homburg" als origineller Essayist und Poetologe zu brillieren. Allerdings verlangt Karahasan auch einen emphatischen Leser, der ihn auf seinen metaphysischen Streifzügen begleitet.

    Dzevad Karahasan: "Die Schatten der Städte". Essays. Insel Verlag. Berlin 2010. 174 Seiten, Engl. Broschur, 17.80 Euro