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"Der Sozialstaat darf nicht zum Brutalstaat werden"

FDP-Chef Guido Westerwelle hat die Diskussion um das System von Hartz-IV vorangetrieben - allerdings auf eine Weise, die nicht allen gefällt. Erwin Huber, ehemaliger CSU-Parteivorsitzender, ist der Ansicht, Westerwelle habe eine Lücke im sozialen Gewissen.

Erwin Huber im Gespräch mit Bettina Klein | 22.02.2010
    Bettina Klein: Was sagt die CSU dazu? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit dem CSU-Landtagsabgeordneten, ehemaligen Finanzminister und ehemaligen Parteichef Erwin Huber. Guten Morgen! / das erweckt den Verdacht, dass er Prinzipien des Sozialstaates beseitigen will und mehr oder weniger einen liberalen Brutalstaat errichten will.

    Erwin Huber: Guten Morgen.

    Klein: Herr Huber, beinahe hätte ich gefragt, der Vizekanzler spricht aus, was sich niemand sonst wagt, auch die CSU nicht, und nun hören wir heute Morgen, dass Generalsekretär Dobrindt, der Generalsekretär Ihrer Partei, sich über die Passauer neue Presse ähnlich äußert und mehr Strenge fordert mit arbeitsunwilligen Hartz-IV-Empfängern. Spricht Westerwelle also auch der CSU voll und ganz aus dem Herzen?

    Huber: Aber das ist doch geltendes Recht! Damit hat Westerwelle doch nichts Neues gesagt. Was ich kritisiere ist, dass er eine Generaldebatte über den Sozialstaat gefordert hat in einer Zeit, in der die Arbeitslosigkeit zunimmt. Und dann Aussagen wie "keine Leistung ohne Gegenleistung", das erweckt den Verdacht, dass er Prinzipien des Sozialstaates beseitigen will und mehr oder weniger einen liberalen Brutalstaat errichten will. Wer für die Kopfpauschale ist und wer für den Stufentarif in der Steuer ist, der hat eine Lücke im sozialen Gewissen und im sozialen Bewusstsein und in der sozialen Politik, und was er gestern gesagt hat, Westerwelle, man muss für die Kinder mehr tun, das ist eigentlich das Gegenteil der Eröffnung der Debatte.

    Klein: Aber der FDP-Chef nimmt auch für sich in Anspruch, dass er sich fast als einziger wagt, Dinge auszusprechen, die das Volk weiß, kennt, hören möchte und von denen die anderen Parteien nicht so begeistert sind und sie sich auch nicht auszusprechen wagen.

    Huber: Zunächst einmal, die Möglichkeit der Sanktion für Leute, die angebotene Arbeit nicht annehmen, die gibt es seit längerer Zeit. Das wird unterschiedlich gehandhabt. Da hätte ich mir auch gewünscht, dass man beispielsweise in Berlin und in sozialdemokratisch geführten Bereichen etwas deutlicher die Möglichkeiten und härter auch die Möglichkeiten wahrnimmt. Aber das ist geltendes Recht, da braucht man auch nichts zu verändern und nichts zu verschärfen. Und zu sagen, jeder junge und gesunde muss zumutbare Arbeit annehmen, wie Westerwelle gestern gesagt hat, da würde ich deutlicher sagen: jeder junge und gesunde muss jede Arbeit annehmen und da kann er nicht die Wahlmöglichkeit in Anspruch nehmen, gefällt mir die Arbeit oder nicht. Aber das war nicht der erste Aufschlag von Westerwelle. Der erste Aufschlag war von der spätrömischen Dekadenz und da muss man sagen, so darf man unseren Sozialstaat nicht verunglimpfen. Gerade in einer Zeit, in der jetzt, 2010, 2011, die Arbeitslosigkeit zunimmt, muss man den Leuten aber auch Sicherheit geben. Wer in dieser Zeit keine Arbeit hat und keine findet, der muss sich im Existenzminimum und im kulturellen Teilhaben an der Gesellschaft auch auf den Sozialstaat verlassen können, und dafür stehen die Unionsparteien CDU und CSU.

    Klein: Herr Huber, Ihre Partei, die CSU, drückt sich auch durchaus nicht vor deutlicher Wortwahl und nimmt immer wieder auch gerne für sich in Anspruch, die wahre Stimme des Volkes zu sein. Weshalb ist es plötzlich falsch, Dinge mal auf den Punkt zu bringen, wie Westerwelle das gemacht hat?

    Huber: Das ist eben so, dass er sie nicht auf den Punkt gebracht hat. Wer pauschal Hartz-IV-Empfänger als Leistungsunwillige darstellt, der differenziert eben nicht. Wir müssen sagen, wer in der Tat Arbeit angeboten bekommt - er muss sich auch selber bemühen, das ist selbstverständlich -, dem müssen Sanktionen drohen. Aber der Großteil derer, die heute Hartz-IV-Leistungen bekommen, die sind ja durchaus arbeitswillig und sie wollen auch hinein in den Arbeitsmarkt, aber es gibt zu wenig Vermittlungsmöglichkeiten. Das heißt, ich kritisiere die Pauschalität, mit der Westerwelle vorgegangen ist, und wir werden auch sehen: das Urteil wird uns dazu bringen, dass wir für Kinder und für besonders Bedürftige, zum Beispiel Rollstuhlfahrer, Leistungsverbesserungen bringen wollen. Das ist die vernünftige Reaktion auf das Urteil und Westerwelle hat möglicherweise Vorurteile bedient, aber er hat dem Sozialstaat keinen Gefallen getan.

    Klein: In der Tat, Herr Huber, geht es ja nun darum, die geforderten Änderungen an den Hartz-IV-Regelungen konkret und ganz praktisch umzusetzen. Da sind, so weit ich das überblicke, die Parteien noch nicht allzu weit in der Konkretisierung ihrer Vorstellungen. Deswegen noch mal die Frage nach den Äußerungen Ihres Generalsekretärs heute Morgen, von Alexander Dobrindt, der sagt, wer angebotene Arbeit willkürlich ablehnt, der verwirkt seinen Anspruch auf Solidarität. Haben Sie eine Vorstellung davon, in welche konkrete Veränderung der Hartz-IV-Regelung diese Forderung münden könnte oder sollte?

    Huber: Das heißt natürlich Sanktionen, dass dann über viele Wochen hinweg keine Leistungen gewährt werden. Diese Sanktion muss da sein. Wer angebotene Arbeit nicht annimmt, der verwirkt die Leistungen. Übrigens hat Bayern mit 3,2 Prozent die höchste Sanktionsquote. Darauf hat auch zurecht Alexander Dobrindt hingewiesen. Was wir jetzt brauchen ist einmal, dass wir einen Leistungsanreiz geben, Arbeit aufzunehmen. Das vertritt meine Partei seit längerer Zeit. Das heißt also, dass man die Zuverdienstmöglichkeiten zu Hartz IV verbessert, dass man das Schonvermögen anhebt und dass man auf diese Art und Weise den Sozialstaat aktiviert. Zweitens: wir brauchen eine Leistungsverbesserung für die, bei denen Kinder da sind, die beispielsweise in der Schule durch Nachhilfe und dergleichen nicht die entsprechenden Bildungschancen haben. Es müssen alle Kinder im Lande die gleichen Bildungschancen haben, ob Millionär oder Hartz-IV-Empfänger. Das darf sich letztlich nicht zu Lasten der Kinder auswirken. Drittens müssen wir dazu beitragen, dass der Bedarf jetzt genauer ermittelt wird, wie das Verfassungsgericht gesagt hat. Das bedeutet also nicht eine generelle Kürzung, bedeutet aber nicht eine generelle Erhöhung der Hartz-IV-Leistungen, sondern eine höhere Treffsicherheit dieser sozialen Leistungen.

    Klein: Die OECD-Studie, die jüngst vorgelegt wurde, hat ja Fehler im System durchaus offengelegt, die eine kritische Bewertung der deutschen Hartz-IV-Regelungen stützen, hat aber auch gleichzeitig darauf hingewiesen, dass es eben auch ein Problem gibt im Niedriglohnbereich. Der DGB hat sich am Wochenende dazu geäußert und wird seine Forderung nach einem Mindestlohn auf 8,50 Euro heraufsetzen. Das wäre ja zumal eine Möglichkeit, zumindest in bestimmten Bereichen, den Niedriglohnsektor etwas aufzubessern. Was sagen Sie?

    Huber: Wer den Mindestlohn auf 8,50 Euro anhebt, der verkürzt das Angebot an Arbeit, weil viele im Niedriglohnbereich dann heute eine entsprechende Arbeit von Arbeitgebern nicht mehr anbieten. Die können wir nicht zwingen dazu. Das heißt, ein solcher Mindestlohn verschlechtert die Einstiegsbedingungen für Hartz-IV-Empfänger. Das zweite ist: wir müssen in der Tat den Übergang aus dem Sozialsystem in den Niedriglohnbereich verbessern. Da wäre im Übrigen die Kopfpauschale, die die FDP propagiert im Gesundheitsbereich, genau das falsche, denn sie belastet ja nun alle gleich hoch, unabhängig vom Einkommen. Aber das nur nebenbei. Wir müssen in der Tat diesen Übergang verbessern und dazu gehört aus meiner Sicht, dass man die Verdienstmöglichkeiten, die Zuverdienstmöglichkeiten und den Bereich der Aufstocker erhöht. Das heißt also, wer arbeitet im Niedriglohnbereich, der sollte durchaus als Aufstocker noch etwas dazubekommen, um einen Leistungsanreiz zu haben. Das heißt, wir müssen punktuell das Sozialsystem hier verbessern, aber wir dürfen es nicht pauschal in Frage stellen, und ich unterstelle dem FDP-Vorsitzenden, dass er aus taktischen Gründen eine solche Diskussion vom Zaun gebrochen hat, die eben viel zu pauschal war. Noch einmal: der Sozialstaat darf nicht zum Brutalstaat werden.

    Klein: Die Botschaft ist angekommen. - Klare Worte des CSU-Politikers Erwin Huber. Vielen Dank nach München.

    Huber: Bitte sehr.