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Der Soziologe im Feuilleton

Der Soziologe Jürgen Kaube arbeitet für das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Dort schreibt er Glossen über den "Otto Normalabweicher" und hat festgestellt: "Otto Normalverbraucher" gibt es nicht mehr, Individualisierung bricht sich Bahn.

Von Michael Rutschky | 05.12.2007
    Zur Erbschaft der Frankfurter Schule, der die Bundesrepublik so viel verdankt, gehört eine Soziologie, die der Universität entwachsen ist und sich frei in den Medien, vor allem im Feuilleton äußert. Adorno machte es vor; Zeitungsartikel und Radiovorträge bilden einen selbstverständlichen Teil seines Oeuvres. Der Soziologe engagierte sich wie selbstverständlich bei der Journaille, wie seine orthodox akademischen Kollegen verächtlich sagten.

    Dem Feuilleton bringt der Soziologe erhebliche Vorteile ein. Vor allem vermehren sich die Themen ins Unermessliche. Statt den engen Vorgaben des Bildungskanons zu folgen und nur über das Theater und die Musik, über die Ölmalerei, die Vers- und Erzählkunst zu sinnieren, darf der Soziologe im Feuilleton Fußball und Computerspiele und Popmusik bearbeiten und dazu noch ihre Anschlussfähigkeit zu Hölderlin und dem späten Beethoven und der neuesten französischen Theorie prüfen.

    Jürgen Kaube, der sieben Jahre alt war, als Adorno starb und im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung arbeitet, gehört zu den besonders einfallsreichen und versierten Soziologen dieser Tradition. Einer der Aufsätze in seinem Buch - "Essay" zu sagen bleibt irgendwie affig - traktiert das Gegenüber, den Konsumenten des postheroischen Feuilletons, das den Bildungskanon unermesslich erweitert hat, als "kulturellen Allesfresser". Anders als die Pessimisten vorhersagen, löst sich das an Bildung interessierte Publikum nicht auf; vielmehr greift seine Kennerschaft immer weiter um sich. "So kommt es zu all den vielen Deutungen der Populärkultur", so Jürgen Kaube wörtlich, "die am Gesamtschaffen David Bowies oder Quentin Tarantinos die gleichen Begriffe erproben, die vormals für den späten Beethoven oder Paul Klee reserviert waren."

    Jürgen Kaube versucht darin die allgemeine Tendenz zu entziffern, die seinem Buch die Titelfigur verleiht: Otto Normalabweicher. Ihr ist ein zweiter der umfangreicheren Aufsätze gewidmet. In den friedlichen Gegenden, in denen wir leben, in denen die Politik Freund und Feind nur noch als Regierung und Opposition unterscheidet; in denen als Armut klassifiziert und beklagt wird, was in denselben Gegenden vor 50 Jahren schon eine kleinbürgerliche Existenz begründete; in einer Gegenwart, wo der Konsum eine eigene Lebensform geworden ist, die die so lange gültige protestantische Ethik der Arbeit ersetzt - heutzutage, möchte Jürgen Kaube erweisen, bildet die Abweichung den zentralen Sozialisationsmechanismus. Den schweigenden Konformismus der Mehrheit substituiert ein buntes und schrilles Patchwork von Minderheiten, die sich untereinander einen fortgesetzten Kampf um Redezeit liefern. Die Abweichung ist kein stillschweigendes Vergnügen (wie der altdeutsche Innerlichkeitskult); um wirklich zu werden, muss sie sich auf der sozialen Bühne präsentieren.

    Jürgen Kaube erläutert das an drei Erscheinungen dieses Distinktionsspiels, am Sonnenbaden (das zu signifikanter Sonnenbräune führen soll), am Tätowieren und am Lärm, den in der Öffentlichkeit der jugendliche Passant mit Kopfhörer und iPod ebenso wie der angetrunkene Fußballfan demonstrativ zu verursachen liebt. So macht sich der soziologische Beobachter als Teilnehmer erkennbar: Sonnenbräune, Tattoos, Fußballfans fallen lästig dem Kulturbürger auf, und man entdeckt leicht den unterdrückten Ekel, wie ihn angesichts dieser Unterklassenexpressivität der Soziologe in Reflexion sublimiert. Was auch immer der Beobachter dazu Kluges zu sagen hat, der Teilnehmer verabscheut diese Dinge instinktiv.

    Die größeren Aufsätze des Buches hat Jürgen Kaube mit zwei Serien von Glossen umlegt, mit denen er regelmäßig in seiner Zeitung, der FAZ, auf solche Alltagsbelästigungen reagierte. Die junge Praktikantin, die ihre frisch erworbene Political Correctness an Walter Benjamins Text über die Zigeuner exekutierte; die Verhimmelung alles Ausländischen, sobald es um spezifisch Deutsches geht; das Kopftuch als Modezeichen respektive religiöses Bekenntnis; Peter Hartz' Sexualpolitik gegenüber dem Betriebsrat; Heideggers Hütte inmitten der anderen von Todtnauberg. Als Zeitungsschreiber muss der Soziologe regelmäßig den Teilnehmer herauslassen, der mit seinem Urteilsvermögen reagiert und die Zeiterscheinungen mit guten Gründen zum Teufel wünscht. Dabei machen seine Urteile den Soziologen als Teilnehmer so identifizierbar, dass man sich gut von ihm unterscheiden kann. Mich beispielsweise pflegen die Erscheinungen des Jugendirreseins - von den Graffiti bis zu den Computerspielen - kalt zu lassen.

    Jürgen Kaube ist hier weit entfernt von der Coolness, die in den Fünfzigern Roland Barthes beim Entziffern der "Mythen des Alltags" sich leistete, noch ein kanonischer Soziologe im Feuilleton. Das mag am Genre liegen; die Tageszeitung braucht Glossen als Mahnrede, nicht als Stillleben. Vorbildlich an Jürgen Kaubes Glossen ist ihre Prägnanz und Beschränkung. Hier droht stets der Bullshit in der Form des Grandiosen, der Monumentalmalerei mit universalen Trends und globalen Strukturbildungen, der Bullshit, wie ihn sogleich Peter Slotderdijk oder Slavoj Zizek oder Ulrich Beck absondern, wenn sie bloß aus dem Fenster schauen. Ihm verfällt Jürgen Kaube nie.

    Jürgen Kaube: Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten. Zu Klampen 2007, 160 Seiten