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Der Sprachmachtmensch

Er ist einer der umstrittensten Theoretiker des Politischen: Carl Schmitt - Erfinder der Freund-Feind-Theorie, Denker des Ausnahmezustands und "Kronjurist des Dritten Reiches". In "Der Bahnhof von Finnentrop" stellt Christian Linder das Leben und Denken des Staatsrechtlers und Philosophen vor.

Von Jochen Schimmang | 13.04.2008
    An prägnanten Beinamen mangelte es ihm nicht. Er war der "Theoretiker des Freund-Feind-Verhältnisses", wenn nicht gar sein Erfinder. Erfunden hat er auch den Dezisionismus und war demnach selber ein "Dezisionist". Nicht erfunden, aber prägnant gefasst hat er das Wesen des Ausnahmezustandes und war so auch dessen Theoretiker, und schließlich, horribilie dictu, war er auch noch der "Kronjurist des Dritten Reiches". Seine beiden berühmtesten Sätze lauten:

    "Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, und: Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind."

    Es gibt noch eine ganze Reihe mehr von solchen luziden und prägnanten Sätzen in Carl Schmitts Werk, und sie rufen "den unheimlichen Alarmzustand" hervor, in den nach Christian Linder die Lektüre Carl Schmitts versetzt. Linder hat deshalb auch nicht das zehntausendste Buch zu irgendeinem Aspekt des Werks von Carl Schmitt geschrieben. Er hat auch keine wissenschaftliche Fleißarbeit abgeliefert, obwohl er die Quellen sehr gründlich studiert hat. Schließlich hat er auch keine Biografie verfasst, für die es nach seinen eigenen Worten aufgrund der Menge der noch unveröffentlichten Tagebücher zu früh ist. Ihm geht es zunächst um Carl Schmitt als Schriftsteller, als Essayisten und als großen Stilisten. Souverän ist nicht nur, wer über den Ausnahmezustand entscheidet, souverän ist auch, wer die Kraft zur Definition hat. Da setzt Linder an:

    "Insofern war Carl Schmitt als politischer Philosoph und Theoretiker immer auch ein Schriftsteller, der das Schreiben als imaginäres Handeln verstanden hat. Hier schreibt kein üblicher Jurist, kein gewöhnlicher Staatsrechtler, sondern jemand, der seine Texte poetisch-dramatisch inszenieren konnte. So hat sich Schmitt immer verhalten und in sein Werk schneidende, gleichwohl etwas geheimnisvoll leuchtende Formeln gestreut, hinter denen sich der ungeheure Machtwunsch verbirgt, die Welt und die Dinge in ihr durch Begriffe in eine sprachliche Ordnung zu zwingen und sie aber gleichzeitig in der Schwebe zu halten und zum Tanzen zu bringen."

    Linder findet dafür die schöne Formel "magischer Begriffsrealismus". Den zu analysieren, ist nun allerdings kein Selbstzweck, obwohl dazu manches zu sagen wäre, zuerst dies, dass Carl Schmitt als Stilist seinen hochgeschätzten Zeitgenossen Gottfried Benn und Ernst Jünger weit überlegen war. Der Autor ist auf den Spuren des "Sprachmachtmenschen Professor Dr. Carl Schmitt", wie er ihn in einem der ersten Kapitel nennt. Man kann aber das Spezifische dieses Buches über Schmitt nicht verstehen, wenn man nicht vorher einen kurzen Blick auf das Verfahren des Essayisten Christian Linder wirft, das er seit mehr als 25 Jahren verfolgt.

    1981 erschien bei Rowohlt in der legendären, von Jürgen Manthey betreuten Reihe "das neue buch" Christian Linders Essaysammlung "Die Träume der Wunschmaschine". Sie versammelte fünf Aufsätze über fünf deutschsprachige Gegenwartsautoren, deren Namen auch heute noch durchaus zum Kanon gehören. Vergröbert gesagt, interessieren Linder dabei Fragen wie: Was treibt ihn an? Welche Wünsche liegen unter dem Schreiben und unter den Texten verborgen? Welcher geheime Text scheint durch das veröffentlichte Buch hindurch? Wo ist der Autor versteckt? Linder bedient sich dabei einer Technik, die man am ehesten mit der Sartres in seinem fünfbändigen Werk über Flaubert vergleichen könnte, und zweifellos ist Sartre ein Referenzautor für ihn. Diese Fragestellungen und dieses Verfahren liegen auch seiner Beschäftigung mit Carl Schmitt zugrunde.

    Das Überraschende ist nun, dass Schmitt, der außer in seinen Tagebüchern selten explizit über sich geschrieben hat, dennoch schon zu Beginn seiner Karriere einen hervorragenden Ansatzpunkt für diese Herangehensweise geliefert hat. Eine seiner ersten eigenständigen Veröffentlichungen hieß "Politische Romantik" und war, wie die meisten Bücher Schmitts, eine Kampfschrift. Schmitts Kampf, man müsste psychoanalytisch eher sagen seine Abwehr, gilt dem, was er "Occasionalismus" nennt, der Tatsache also, dass der Romantiker alle Dinge nur zum Anlass nimmt, sie zu subjektivieren, zu ästhetisieren und auch zu literarisieren. Die Brüder Schlegel, Novalis, Eichendorff und insbesondere Adam Müller sind das Ziel seiner Attacken.

    "Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend. In ihr kann der Romantiker alles zum Vehikel seines romantischen Interesses machen und die Illusion haben, dass die Welt nur ein Anlass ist."

    Dieser Welt ohne Substanz und Führung, ohne Entscheidung und Gericht gilt Schmitts Abscheu, und seine Abwehr gilt dem Romantiker, für den die ganze Welt nur ein Anlass ist. Nun ist aber die Charakterisierung dieses Romantikers, legt man sie als Folie an Schmitts Leben an, eine durchaus gelungene Selbstbeschreibung des Autors, und das gilt nicht nur für die frühen Lebensjahrzehnte. Mit der Polemik gegen die politische Romantik kämpft Schmitt zunächst gegen das Chaos in sich selbst. Dazu Linder:

    "Aus welchem Arsenal von Wahnsinnszenen war Schmitts persönliches Chaos zusammengesetzt, warum meinte er, für seine scharfen ordnenden Definitionen gegen dieses Chaos den Preis eines zerstörten Privatlebens bezahlen zu müssen, welches erregte Ungeheuer in sich selbst musste er domestizieren, um sich auf dem Weg der Selbsterfindung und der Erfindung des 'totalen Staates' seinen Biotop zu schaffen?"

    In dieser Frage ist versteckt schon die Definition dessen enthalten, was eigentlich Dezisionismus heißt. Vielleicht ist der für den jungen Carl Schmitt treffendste Satz Christian Linders dieser:

    "Was ihm fehlt: eine Gebrauchsanweisung, eine Liturgie fürs Leben."

    Diese Gebrauchsanweisung, diese Liturgie schafft sich der junge Autor, indem er sich entscheidet und sich selbst neu erfindet. Er entscheidet sich dagegen, weiter in dem Sumpf zu versinken, der seine Referendarsjahre kennzeichnet und der im frühen Tagebuch so beschrieben wird:

    "Mir ekelt vor meinem Fleisch. Ich fühle mich ans Fleisch genagelt. Widerlich. Ich muss sterben, faule, stinke, weg; es hilft nichts."

    Den Hintergrund bildet auch die groteske erste Ehe Carl Schmitts mit Pauline Carita Maria Isabella Dorotić, genannt Cari, die Schmitt als Adlige entweder kroatischer oder aber serbischer Herkunft - für beides finden sich Belege bei ihm - geheiratet hat, die aber vermutlich nur die Tochter eines Wiener Schneiders war. Kennengelernt hatte Schmitt sie noch als spanische Tänzerin, und ihre Wandlungsfähigkeit gipfelte schließlich darin, dass sie am Ende unter Mitnahme der Möbel und der Bibliothek spurlos aus der gemeinsamen Wohnung verschwand.

    Vielleicht ist diese Farce aus der frühen Biografie Schmitts aussagekräftiger und weniger zufällig, als man im ersten Moment bei dem strengen Juristen und ebenso strengen Stilisten anzunehmen bereit ist. Franz Blei, der den Autor Schmitt bewundert hat, wird sich später die Frage stellen:

    "Wie konnte dieser römische rheinländische Katholik, der die klassische Schrift 'Römischer Katholizismus und politische Form’ geschrieben hat, dem Leviathan-Staat erliegen? Wie dieser Gegner der politischen Romantik einem politischen Sensationsroman? Wie dieser betrachtende stille, weinfrohe Mann, der in seiner rheinischen Heimat mit ihrem Römischen und Christlichen den Humanismus erfüllt sah, diesem lärmenden Berserker-Deutschtum?"

    Die Antwort ist so schwer nicht. Der Gegner der politischen Romantik hat sich von der romantischen Haltung nie ganz lösen können. Bei ihm nahm sie nur die spezifische Form des Dezisionismus an. Christian Linder ist nicht der erste, der sich die Frage stellt, wie Carl Schmitt, der noch 1932 die Weimarer Verfassung gegen die Nazis zu verteidigen suchte, zwei Jahre später einen so fürchterlichen Text wie "Der Führer schützt das Recht" veröffentlichen konnte. Mit dem üblichen Opportunismus eines deutschen Professors, der die Chance wittert, ein wenig an der Macht zu partizipieren, ist das allein nicht zu erklären. Aber schon in den Tagebüchern 1912 bis 1915 hat Schmitt bekannt:

    "Alles, was man tue, müsse sich restlos auf eine einzige Formel zurückführen lassen. Diese Formel 'Freund und Feind’, erlebt und gesehen vom 'Ausnahmezustand’ her, ist verbunden mit der Kategorie der Entscheidung. Dezisonismus verstanden auch als intellektuelles Verhalten, mit dem man der Welt und den Dingen gegenübertritt in dem Wissen, dass alles Leben eine Erfindung ist. Dann gibt es natürlich auch kein mit den Menschen geborenes Recht als Naturrecht, sondern das Recht ist ebenso eine menschliche Erfindung, eine Setzung. Das Recht ist folglich etwas Beliebiges, das durch Entscheidungen entsteht."

    Der Dezisionismus und die politische Romantik, sie gehen also durchaus zusammen. Dezisionismus kann auch einen anderen Namen bekommen, so in dem fiktiven langen Gespräch, das der Autor Linder mit Carl Schmitt auf dem Plateau des Schwarzenberg im Sauerland führt. Schmitt fragt Linder nach dem Grund des Briefes, den dieser ihm vor Jahren geschrieben hat:

    "Warum hatten Sie mir geschrieben?"

    Und bekommt zur Antwort:

    "Geschrieben hatte ich aus der Vermutung, dass sich hinter Ihrer politischen Theorie schwerster Existentialismus verbirgt."

    In der Tat: Auch wenn Schmitt Sartre als einen "Cocktailmischer aus Stirner, Heidegger und Maquis" bezeichnet und ihm "sophistische Angeberei" vorwirft, folgt sein eigenes Leben doch dem Modell, dass man sich immer wieder entscheiden und neu erfinden müsse. Dabei hat der Theoretiker des Dezisionismus bestritten, selber ein Dezisionist zu sein.

    "Mein Wesen ist defensiv, langsam, geräuschlos und nachgiebig. Ich glaube, man muss eine so große Entfernung von jeder Freude an der Entscheidung als solcher haben, wie ich sie habe, um eine Theorie des Dezisionismus zu entwickeln. Der typische Dezisionist, der mit Begeisterung sich entscheidet, wird nie eine Philosophie oder Theologie oder Theorie des Dezisionismus entwickeln. Ich kann mich für mich an keine derartige Entscheidung erinnern."

    Das lässt allerdings auf schwere Gedächtnislücken schließen. Carl Schmitt hat sich mehrfach in seinem Leben entschieden: gegen den politischen Romantiker, der in ihm steckte, für Berlin und gegen den Verbleib im Rheinland, das ihm viel verwandter war, gegen den Liberalismus, für den Führer und nach dem Krieg gegen jegliches Reuebekenntnis. Das Motiv der Entscheidung, schreibt Linder,

    "durchzieht sein ganzes Werk, findet sich gerade dort, wo er sein Misstrauen gegen die parlamentarische Demokratie formuliert und ihr den berühmt-berüchtigten Totenschein ausstellte."

    Der Parlamentarismus sei eine verschimmelte Sache, hatte Schmitt geschrieben, das Regieren durch Diskussion eine Illusion und der Liberalismus

    "eine abwertende Halbheit, mit der Hoffnung, die definitive Auseinandersetzung, die blutige Entscheidungsschlacht könne in eine parlamentarische Debatte verwandelt werden und ließe sich durch ewige Diskussion ewig suspendieren."

    Schmitt braucht den Ausnahmezustand, und er braucht den Feind. Dass es ohne die Unterscheidung von Freund und Feind die Welt des Politischen nicht gäbe, liegt für ihn auf der Hand. Was er nicht so deutlich ausspricht, ist die Tatsache, dass es für ihn ohne den Feind wohl auch kein individuelles Leben gäbe. Denn am Feind bildet sich erst die eigene Identität, die Existenz des Feindes als des ganz Anderen erklärt uns erst, wer wir sind.

    An Feinden hat es ihm begreiflicherweise nie gemangelt. Auch an solchen nicht, die seine berühmteste Schrift, "Der Begriff des Politischen", bösartig gelesen haben und noch lesen. Denn in der Tat war Carl Schmitt nicht der Erfinder des totalen Vernichtungskrieges, der existentiellen Vernichtung des Feindes. Gegen diesen Vorwurf hat er sich sein Leben lang wehren müssen. In einem Brief an Hermann Heller etwa heißt es:

    "Ich sehe den Sinn des Krieges in der Abwehr des Feindes, in der Negation einer Negation des eigenen Denkens. Das ist etwas Anderes als 'existentielle Vernichtung des Feindes’. Ich möchte Ihnen deshalb sagen, dass mir der Gedanke einer solchen Vernichtung fremd und widerlich ist, dass ich in der Sphäre des Geistes Existenz mit Vernichtung ontologisch nicht zusammen denken kann und mich auch scheuen würde, solche Wortverbindung in den Mund zu nehmen."

    Das darf man ihm abnehmen. Die genaue Lektüre des Begriffs des Politischen würde in der Tat zeigen, dass sich der Text nicht als Rechtfertigungsschrift etwa des "Kampfs gegen den Terror" à la George Bush eignet. Denn wenn Schmitt auch darauf besteht, dass alle politischen Begriffe und Vorstellungen einen polemischen Sinn haben, fehlt ihm doch der missionarische Eifer. Nicht die Vernichtung ist sein Leitmotiv, sondern der Schutz. Über ihn ließe sich sagen, was er selbst über den verehrten Thomas Hobbes geschrieben hat:

    "Auch für seine private Person blieb er sich der Grundlage allen Rechts bewusst, und das war für ihn die gegenseitige Beziehung von Schutz und Gehorsam. In Furcht und Vorsicht wurde er über 90 Jahre alt."

    Schmitt allerdings war in einer bestimmten Phase seines Lebens nicht vorsichtig genug. Das hing mit seinem Überlegenheitsgefühl zusammen, das sich zum Beispiel in einem Satz wie diesem aus den frühen Tagebüchern ausdrückt:

    "Ich sehe, dass ich schöne Sachen schreiben kann und überlegen bin."

    Und im Verhör durch Robert Kempner im Nürnberger Kriegsverbrechergefängnis bekennt er, dass er sich Hitler geistig unendlich überlegen gefühlt habe.

    "Er war mir so uninteressant, dass ich gar nicht darüber sprechen möchte."

    Vom "Geheimnis seines Größenwahns" spricht Linder an einer Stelle, dessen Buch durchgängig gleich weit entfernt ist von begriffsloser Verurteilung wie von Hagiographie. Nicolaus Sombart wird mit den Worten zitiert:

    "Es ging darum, wer in der Interpretation der Weltgeschichte das letzte Wort hätte. Darin war auch er ganz Hegelianer."

    Nach dem Krieg war allerdings "der Traum, Nachfolger Hegels zu werden", wie es Linder prononciert ausdrückt, ausgeträumt. Mit einer nicht sehr üppigen Pension, um die es einen längeren Kampf gegeben hatte, saß Schmitt zuerst in Plettenberg, später in Pasel. Die Auseinandersetzung um die Pension inszeniert Linder übrigens als Gerichtsverhandlung unter freiem Himmel, bei der alle möglichen Zeugen von Ernst Jünger bis Johannes Gross zu Wort kommen. Das ist einer der schönen inszenatorischen Einfälle des Autors, ebenso wie sein langes fiktives Gespräch mit Schmitt hoch über dem Sauerland und die Gespräche zwischen Schmitt, Gross und Rüdiger Altmann in der fünfziger Jahren im Plettenberger Haus und auf dem Bahnhof von Finnentrop. Erfunden ist da allerdings so gut wie nichts, fast alle Sätze, die zumindest von Schmitts Seite gesagt werden, sind abgesichert.

    Schmitts Isolation hielt sich allerdings in Grenzen, stellte ihm doch ein eigens gegründeter Verein "Academia Moralis" Möglichkeiten zur Verfügung, Vorträge zu halten und sich zu äußern, allerdings…

    "an Orten, wo man den berühmten Professor des Staats- und Völkerrechts und ehemaligen Preußischen Staatsrat nie vermutet hätte, zum Beispiel in Hinterzimmern eines Restaurants in der Venloerstraße in Köln in der Nähe des Westbahnhofs."

    Ausgeschlossen war Schmitt auch von Publikationsmöglichkeiten, die anderen, die nicht weniger kompromittiert waren als er, schon bald wieder offenstanden. Während Gottfried Benn schon bald der lyrische Star der deutschen Nachkriegszeit wurde und nach Schamfristen auch Jünger und Heidegger sich wieder an prominenter Stelle äußern durften, stand Schmitt keine "Zeit" und keine "FAZ" offen, und als der "Merkur" 1952 einen Aufsatz von Schmitt veröffentlichte, drohten 80 andere Autoren der Zeitschrift die Einstellung ihrer Mitarbeit an, falls sich das noch einmal wiederholen sollte. Kein Wunder also, dass Schmitt sein Haus "San Casciano" nannte und sich wie Machiavelli in die Wüste geschickt fühlte. Er hörte nicht auf, sich zu rechtfertigen, verweigerte jedes Schuldeingeständnis und sah sich als Opfer. Dabei war die Zahl der Besucher bei dem berühmten Mann keineswegs rückläufig, und Post bekam er täglich bergeweise aus aller Welt.

    Und was hat es nun mit dem Bahnhof von Finnentrop auf sich, der dem Buch den Titel gibt? Der war…

    "in den fünfziger und sechziger, auch noch in den siebziger Jahren einer der Zugknotenpunkte im märkischen Sauerland und einziger Haltebahnhof für D-Züge weit und breit. Zum Bahnhof nach Finnentrop begleitete er die Besucher, wenn er sie nach durchdiskutierter Nacht am andern Mittag verabschiedete. Es gibt ein Foto, das Carl Schmitt auf dem Bahnhof von Finnentrop zeigt, in der Mitte zwischen, links, Ernst Hüsmert sowie, rechts, Anni Stand und dem serbischen Rechtsphilosophen Sava Kličković. Stumm schauen die vier in die Kamera, die der amerikanische Schmitt-Schüler Georg Schwab hält."

    Man kann übrigens dieses Foto neben zahlreichen anderen in Linders Buch finden. Außer seiner handfest verkehrstechnischen Bedeutung spielt der Titel aber auch auf Dalis berühmtes Bild Der Bahnhof von Perpignan an. Linders Buch mit seinen Inszenierungen und seiner subtilen Dramaturgie, die keineswegs der Chronologie folgt, lässt sich als eine surrealistische Collage auf der Spur der Schmittschen Tarnungen und Verkleidungen lesen, denn:

    "Die Frage nach diesen Carl Schmittschen Tarnungen ist die Frage, was sein Werk, in dem sich neben ein paar Leitideen viele Einzelerkenntnisse finden, hervorgebracht hat und im Innersten zusammenhält."

    Dem ist Christian Linder so nah gekommen wie vermutlich vor ihm kein anderer. Deshalb ist sein Buch nicht der zehntausend-und-erste Kommentar zu Carl Schmitts Büchern, den er nach eigenem Bekunden auch nicht schreiben wollte. Es ist vielmehr das Buch, das man unbedingt lesen muss, wenn man das Enigma Carl Schmitt decodieren will.


    Christian Linder: Der Bahnhof von Finnentrop
    Matthes und Seitz, Berlin 2008, 448 Seiten, 28,90 Euro