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Der Stern, der keinen kalt lässt

Der versierte Sachbuchautor Dieter Hildebrandt erzählt von der Beziehung der Menschen zur Sonne, sich verändernden Sonnenvorstellungen und dem immer größer werdenden Wissen über das Zentralgestirn. "Die Sonne. Biographie unseres Sterns" ist vor allem eine Geschichte von Menschen.

Von Martin Ebel | 30.03.2008
    Dieter Hildebrandt hat einen berühmten Namensvetter, den Kabarettisten. Er selbst hat sich auch einen Namen gemacht: als Autor besonders schmissig geschriebener Sachbücher. Hildebrandt versteht etwas von den Sachen, derer er sich annimmt, ob das Lessing ist, der Apostel Paulus, die Ode an die Freude, die Beethoven in der Neunten Sinfonie vertont hat, oder das Klavier. Letzterem hat Hildebrandt gleich zwei Huldigungen gewidmet, "Pianoforte" und "Piano, piano", das erste behandelt die Rolle des Klaviers im 19. Jahrhundert und den Kult um die großen Virtuosen, das zweite schreibt den "Roman des Klaviers", so der Untertitel, ins 20. Jahrhundert fort. Beides gehört zum Besten, was es in der Musikschriftstellerei überhaupt gibt. Das Thema des neuen Buches führt erstens in gänzlich andere Gefilde, in die Weiten des Weltraums nämlich, und klingt zweitens so, als habe sich jemand gehörig verhoben.

    "Die Sonne. Biographie unseres Sterns" ist es überschrieben. Nun erstrecken sich Biographien in der Regel über einen Zeitraum von einigen Jahrzehnten, die Sonne aber ist schon viereinhalb Milliarden Jahre alt, ein unvorstellbar langer Zeitraum, und leben wird sie noch weitere zehn Milliarden Jahre. Wir Menschen erleben sie in einem vergleichweise stabilen Zustand - der im Übrigen die Voraussetzung dafür ist, dass es uns gibt und wir sie erleben können -, als sogenannten Hauptreihenstern durchschnittlicher Größe. Was ihr zu Anfang ihrer Existenz widerfuhr und in ihrem Alter widerfahren wird, ist von großer Dramatik. Erzählen lässt sich das kaum. Es ist auch nicht der Stoff, aus dem Dieter Hildebrandts neues Buch ist. Hinter der "Biographie unseres Sterns" verbirgt sich etwas anderes. Hildebrandt erzählt die Geschichte unserer Beziehung zur Sonne, unserer sich verändernden Sonnenvorstellungen und des immer größer und genauer werdenden Wissens über das Zentralgestirn unserer Welt. Die Geschichte der Sonne ist also auch und vor allem eine Geschichte von Menschen. Wovon sonst könnte man denn auch erzählen.

    "Sonne und Erde - das ist die vielleicht grandioseste Zweierbeziehung im ganzen Universum. Zu erzählen wäre sie als höchst irdische Geschichte eines kosmologischen Sonderfalls, als ein bizarr ungleiches Duell; als die Jahrtausende alte Historie eines grossen Drehs, des grössten, an dem wir teilnehmen, ohne ihn eigentlich zu bemerken. Zu erkunden ist eine aufregende und teils erschreckende Folge von Versuchen und Irrtümern, Erkenntnissen und Phantasmen, von Reinfällen und Ausflüchten, von Geistesblitzen und Scheuklappen, von Fortschritten und Rückfällen wie von Fortschritten, die Rückfälle waren.

    Dabei haben wir es nur scheinbar mit einer dualen Konstellation zu tun.
    Denn auch ein drittes 'Gestirn' ist daran beeiligt: eben der menschliche Kopf. Um ihn dreht sich die ganze Geschichte, so, wie er den ganz grossen Dreh aus eigener Phantasie betreibt: die Welt als seine rotierende Vorstellung, als sein gigantisches Karussell."

    Indem er sich mit der Erde und Sonne auseinandersetzt, indem er versucht, hinter ihre Geheimnisse zu kommen, entwickelt der Mensch seine Intelligenz, so die These, die hinter diesem Buch steht.

    "Der Mensch wird scharfsinnig, indem er sich an der Welt, der Umwelt, der Himmelswelt abarbeitet. Er tritt vor, indem er hinter die Dinge kommt. Der grösste Wetzstein für seinen Verstand war und ist die Sonne."

    Und ein Wetzstein ist sie offenbar auch für die Feder des Autors, wenn dieses Bild gestattet sei: Die beiden Textbeispiele haben schon gezeigt, mit welcher Freude an der Rhetorik, mit welcher Begeisterung für metaphorische Wendungen Dieter Hildebrandt am Werk ist. In zweierlei Hinsicht kann man also den Hörer dieser Sendung wie den möglichen Leser des Buches beruhigen: Es geht weniger um Naturwissenschaft als um Kulturgeschichte, und auch wenn Kosmologie keine unbedingt witzige Angelegenheit ist, holt der Autor an Unterhaltsamkeit heraus, was geht. Und wenn nichts mehr geht, pumpt er halt das Entsprechende hinein.

    Ohne ein paar physikalische Grundtatsachen geht es allerdings doch nicht - sie stellen das Staunen und Schwärmen gewissermaßen auf eine faktische Grundlage. Die Sonne, erfahren wir, hat einen Durchmesser von rund 1,4 Millionen Kilometern, das sind 109 Erden nebeneinander. Ihre Masse stellt mehr als 99,8 Prozent der Gesamtmasse unseres Sonnensystems dar. An der Oberfläche herrscht eine Temperatur von 6000 Grad, im Innern aber 15 Millionen Grad, eine unvorstellbare Hitze, die durch den Druck von 300 Milliarden Atmosphären entsteht. Dieses Sonneninnere ist ein gigantischer Kernfusionsreaktor. In jeder Sekunde werden 700 Millionen Tonnen Wasserstoff zu etwa 695 Millionen Tonnen Helium verbrannt. Dabei entsteht die Energie, die unseren Planeten in Form von Licht und Wärme erreicht, eine durch den Abstand exakt dosierte Energie, die das Leben auf der Erde erst möglich macht.

    "Schön erscheinst Du / im Lichtland des Himmels, / du lebende Sonne, die das Leben bestimmt! / Wie viel ist es, was du geschaffen hast, / indem es dem Angesicht verborgen ist! / Du einer Gott, der nicht seinesgleichen hat! / Du hast die Erde erschaffen nach Deinem Herzen / der du allein warst, / mit Menschen, Herden und jeglichem Wild, / allem, was auf der Erde ist und auf Füssen läuft, / was in der Luft ist und mit Flügeln auffliegt."

    So heißt es im "Grossen Sonnengesang" des ägyptischen Pharao Amenophis IV., der sich Echnaton nannte und eine Revolution von oben auslöste: Er setzte einen neuen Gott ein, Aton, die Sonnenscheibe, und ordnete ihm alle anderen bisher gültigen Götter unter. Es war eine Vorstufe des Monotheismus, und sie war ihrer Zeit weit voraus. Echnatons Nachfolger setzten die gestürzten Götter wieder ein und tilgten den Namen des Revolutionärs aus dem Gedächtnis - zumindest versuchten sie das. Sonnenverehrung und Sonnenbeobachtung gehen in den frühesten Kulturen Hand in Hand; Dieter Hildebrandts kosmologische Kulturgeschichte setzt mit den Ägyptern und den Babyloniern ein.

    Letztere waren große Rechner, ihnen gelang es, die Wiederkehr von Sonnen- und Mondfinsternissen zu ermitteln, aber auch schon, der genauen Dauer eines Erdenjahres erstaunlich nahe zu kommen: 365 1/4 Tage. Übrigens kommt auch die Einteilung der Stunde in 60 Minuten und die analoge Zahl der Sekunden von den Babyloniern. Die erste Heldengalerie macht Hildebrandt aber im antiken Griechenland auf. Denn deren Philosophen, die zugleich Naturforscher waren, gaben sich erhebliche Mühe, aus dem, was man über kosmische Vorgänge wusste, also Sonnen- und Mondbewegungen, aber auch Sternkonstellationen, die im Winter anders waren als im Sommer - aus all dem also ein Modell der Welt zu erstellen. Was man nicht wusste, ergänzte man auf die fantasievollste Weise. Anaximander etwa, der von 610 bis 547 vor Christus lebte und ein Schüler des berühmten Thales war, hatte eine klare Vorstellung von der Sonne:

    "Sie war seiner Vorstellung nach ein Kreis, 28-mal grösser als die Erde, sie gleiche einem Wagenrad mit hohlem Reifen, der voller Feuer sei. An einem Teil des Reifens scheine das Feuer durch eine Öffnung wie durch die Röhre eines Blasebalgs. Schliesse sich diese Öffnung, so trete eine Sonnenfinsternis ein. Das Rad selbst sei deshalb nicht sichtbar, weil es, wie auch im Fall anderer Himmelskörper, aus Luftverdichtungen bestehe, also aus einer Art von kosmischem Nebel, aus dem die Flammen herausschlagen."

    Keine Frage war für die Menschen des Altertums, dass sich die Sonne um die Erde dreht und die Erde den Mittelpunkt des Universums bildet. Wie könnte es auch anders sein? Bestätigte der Augenschein doch diese Annahme mit jedem Tag, an dem die Sonne auf- und wieder unterging. Aber schon unter den alten Griechen gab es Abweichler. Aristarch von Samos etwa behauptete 1700 Jahre vor Kopernikus, dass es umgekehrt sei.

    Außerdem hielt er den Kosmos für viel größer als seine Zeitgenossen, auch wenn er von den Dimensionen, die wir heute kennen, noch weit entfernt waren. Aristarchs Modell hielten seine Kollegen für absurd, ihn selbst für verrückt, wenn nicht für einen Gotteslästerer, offenbar wurde er sogar wegen seiner Lehren angeklagt - nicht nur ein früher Kopernikus, sondern auch ein Galilei des Altertums.

    Das sogenannte ptolemäische Weltbild, benannt nach dem Gelehrten Ptolemäus aus Alexandria, der ihm um 150 nach Christus die definitive Form gab, hielt sich über Jahrhunderte. Es stützte sich nicht nur auf den gesunden Menschenverstand: Wie wäre es möglich, dass die Erde sich dreht und gar um die Sonne - dann müssten wir durch den Wirbel doch wahnsinnig werden!

    Ptolemäus bekam einen noch stärkeren Verbündeten: die christliche Kirche. Die hatte eine Bibelstelle im Buch Josua zur Hand, nach der Gott die Sonne anhält, um den Israeliten den Sieg gegen die Amoriter zu ermöglichen. Wenn er sie anhält, muss sie sich ansonsten also bewegen, quod erat demonstrandum.

    Die Kirche ist für Dieter Hildebrandt der große Gegenspieler im Fortgang der Menschheit zu immer größerer Erkenntnis ihrer selbst und dessen, was sie umgibt. Wenn es gegen die Kirche geht, mischen sich leidenschaftliche, bitterböse Töne in seine sonst so leichtfüßige und entspannte Prosa. Giordano Bruno, der am 17. Februar 1600 in Rom verbrannt wurde, weil er geschrieben hatte, dass es viele Sonnen im Weltall gebe, ist ein Märtyrer des Wissenwollens und Sagenmüssens. Mit Genugtuung vermerkt Hildebrandt, dass Bruno auf dem Platz, an dem er grausam sterben musste, mittlerweile ein Denkmal erhalten hat.

    "Er kehrt wieder, auf eben diesen Platz, als Denkmal in Bronze. Aber er kehrt auch wieder als Fackel, die einer monströsen Kirche heimleuchtet und offenbart, dass der Heilige Stuhl auf einem Fundament aus Jahrhundert währender Grausamkeit, aus widerwärtigster Menschenverachtung steht. Dass das Dogma nur der Purpur um einen Terror ist, der, im Namen Christi, sein unbarmherziges Geschäft betreibt. Nicht, dass Ketzer verbrannt wurden, ist an der Praxis der katholischen Kirche der nicht zu tilgende Skandal, sondern dass jedermann zum Ketzer erklärt werden konnte, jederzeit und aus jedem Motiv. 'Die Päpste', formulierte der englische Historiker Lord Acton, 'waren nicht nur Mörder in großem Stil, sondern machten den Mord auch zu einem Rechtsgrundsatz der christlichen Kirche und zu einer Bedingung für die Erlösung.'"

    Galilei entging, wie wir wissen, dem Schicksal Giordano Brunos nur durch den Widerruf seiner Thesen. Inzwischen war einiges geschehen: Nach Jahrhunderten kosmologischen Stillstands hatte es im späten Mittelalter erste Ansätze einer Neubetrachtung des ptolemäischen Weltbildes gegeben. Kopernikus hatte die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße gestellt, die Sonne ins Zentrum und die Erde auf eine Umlaufbahn. Aber auch nach dieser Revolution, das Wort bezeichnete ursprünglich und vor allem damals die Umdrehung von Himmelskörpern, geht der Erkenntnisfortgang nur in sehr kleinen, vorsichtigen Schritten voran. Der dänische Astronom Tycho Brahe, der beste Sternenkenner seiner Zeit, entwickelte ein Modell, dass zwar die Sonne zum Zentrum der Planetenbewegungen machte, diese aber, mitsamt allen Planeten, wiederum um die Erde kreisen ließ. Ein fauler Kompromiss, über den sich schon sein Schüler Kepler ironisch hermachte. Dieser Johannes Kepler muss als der eigentliche Begründer des heute allgemein anerkannten heliozentrischen Weltbildes gelten. Er war selbst kein Sternenbeobachter, dazu waren seine Augen zu schlecht, aber er konnte sich auf Brahes Befunde stützen, vor allem aber war er ein genialer Kopf, der Kosmologie und Mathematik zu verbinden verstand.

    Die beiden von ihm gefundenen Gesetze, die Keplerschen Gesetze, beweisen erstens, dass sich die Himmelskörper auf elliptischen Bahnen bewegen, was mit der Mystifizierung des Kreises als der perfekten, göttlichen Figur Schluss macht; sie erklären zweitens, warum sich die Planeten mal langsamer, mal schneller bewegen. Nach so viel Erkenntnisfortschritt muss Hildebrandt mal wieder schwärmen, nämlich von der Ellipse:

    "Ein Wort zu Ellipse, ein beinah hymnisches Wort. Denn sie ist nicht etwa die Stiefschwester des Kreises, die arme Verwandte unter den sogenannten Kegelschnitten, sondern so etwas wie ein Naturwunder der Geometrie, eine Magierin unter den Formen, eine Meisterin der Verblüffungseffekte. Mit ihren zwei Brennpunkten zeigt und zeitigt sie wahre Zauberkunststücke. Stößt man zum Beispiel auf einem elliptischen Billardtisch die Kugel von einem der Brennpunkte in eine beliebige Richtung, so läuft sie, nach dem Abprall von der Bande, durch den zweiten Brennpunkt, dann wieder durch den ersten und so fort, als ginge von ihnen eine magnetische Kraft aus. Noch auffälliger ist solche Wirkung im Wasser: Lässt man in ein elliptisches Gefäß an einem der Brennpunkte einen Stein fallen, so breiten sich die Wellen zu den Rändern aus, strömen dann aber so vehement auf den zweiten Brennpunkt zu, dass sie dort zischend zu einer kleinen Fontäne aufschießen. Der Begriff 'Brennpunkt' erklärt sich aber am überzeugendsten mit einem dritten Experiment: Zündet man in einem elliptischen verspiegelten Raum, so groß er immer sein mag, am ersten Brennpunkt ein Streichholz an, so gerät ein Stück Papier, das man am andern Ende, im zweiten Fokus, in die Höhe hält, in Brand. So viel zum Wunder der Ellipsen, die unser Planetensystem regieren."

    Wie sie das genau machen, regelt die Gravitation, die dann Isaac Newton im 17. Jahrhundert erforscht. "Newton knackt den Code der Schwerkraft", heißt das entsprechende Kapitel. Es erzählt natürlich auch die bekannte Anekdote, nach der Newton beim Anblick eines vom Baum fallenden Apfels seine Eingebung bekam, relativiert sie aber durch die Darstellung etlicher Experimente und Überlegungen. Wie sich der menschliche Forschergeist langsam, mühsam, auf Um- und manchmal auch auf Rückwegen voran bewegte, wie er sich auf Vorläufer stützt und sich von diesen regelrecht abstößt, oder, um wieder mit Newton zu sprechen, wie ein Zwerg auf der Schulter eines Riesen sitzt und weiter zu sehen vermag als dieser: Das ist eine faszinierende Lektüre. Denn es mag ja stimmen, was Freud mit der ersten großen Kränkung des menschlichen Selbstgefühls meint, nämlich der Entthronung der Erde als Mittelpunkt der Welt. Ebenso zutreffend ist aber auch, dass der Stolz, immer mehr Wissen über sich selbst und das umgebende Weltall zu gewinnen, immer tiefere Einsicht in die Naturvorgänge, dass dieser Stolz den Verlust des Selbstgefühls aufwiegt, wenn nicht übersteigt. Und Hildebrandt präsentiert uns eine ganze Galerie von Forschernaturen, auf die die Menschheit stolz sein kann, präsentiert sie uns in knappen Skizzen, anschaulich, aber meist so knapp, dass man gern noch mehr erfahren hätte, auch Biographisches. Etwa über den Franzosen Laplace, der als erster ein Himmelssystem rein aus mechanischen Kräften errechnete und, von Napoleon gefragt, wo denn in seiner Welt Gott vorkomme, die legendäre Antwort gab:

    "Ich habe ihn in meinem System nicht mehr nötig."

    Oder über Friedrich Wilhelm Herschel, eins von zehn Kindern eines bettelarmen Musikers, der es mit seiner Leidenschaft für Teleskope bis zum Hofastronomen des englischen Königs Georg III. brachte. Er entdeckte den Planeten Uranus und entwickelte eine Methode zur Zählung der Sterne:

    "Da der blende Glanz von funkelnden Sternen leicht dazu verleiten kann, ihre Zahl größer zu schätzen, als sie wirklich ist, so bemühte ich mich, diesen Punkt dadurch auszumachen, dass ich mehrere Felder überzählte und nach einem gewissen Durchschnitt berechnete, was ein gewisses Stück von der Milchstrasse an Sternen enthalten möchte."

    Mit dieser Methode kam er auf eine Zahl von 50.000 deutlich sichtbaren Sternen und eine doppelte Anzahl von solchen, die nur matt oder hin und wieder aufleuchteten. Herschel ging sogar so weit, Vermutungen über den Platz unseres Sonnensystems innerhalb der Milchstrasse anzunehmen, die den tatsächlichen Verhältnissen ziemlich nahe kamen: Wir liegen eher am Rande derselben und rotieren um das Zentrum der Galaxie.

    Der Wissensstand über unsere Sonne schreitet, als einmal die Denkbremse der Kirche gelöst ist, sprunghaft voran, nicht geradlinig, in Abhängigkeit vom Fortschritt der Wissenschaften - und der Entwicklung neuer Methoden. Joseph von Fraunhofer entdeckte, als er Licht durch ein Prisma schickte, eine Vielzahl von senkrechten Linien. Hildebrandt nennt sie bilderstark den Strichcode des Universums. Diese Linien geben Aufschluss über die chemischen Elemente, aus denen der leuchtende Stoff zusammengesetzt ist. Die Spektralanalyse war geboren, mit deren Hilfe die Zusammensetzung der Sonne geklärt werden konnte: Sie besteht zum überwiegenden Teil aus Wasserstoff und Helium.

    Wie lange leuchtet uns die Sonne, wie lange funktioniert der gigantische Kernbrennofen in ihrem Inneren? Um das zu erkennen, muss erst die moderne Atomphysik entstehen, übrigens noch mal ein schönes Beispiel dafür, wie stark der Mensch in Modellen denkt. Das klassische Atommodell sieht nämlich nicht anders aus als ein ins Mikroskopische verkleinertes Sonnensystem, mit dem Atomkern als Sonne im Mittelpunkt und den Elektronen, die auf unterschiedlich entfernten Bahnen drum herumrasen. Als der Mensch verstand, was sich im Innern der Atome abspielte, welch ungeheuren Kräfte dort auf engstem Raum gebunden waren, aber auch entfesselt werden konnten, ließ sich auch der solare Brennofen berechnen:

    "Verbrennt man 2 Gramm Wasserstoff, so erhält man genug Energie, um eine Glühbirne von 100 Watt 40 Minuten lang brennen zu lassen.

    Verwandelt man 2 Gramm Wasserstoff in atomare Energie, so leuchtet dieselbe Glühbirne 56.000 Jahre. Erst allmählich begann man zu begreifen, dass das auch für unsere größte Lichtquelle, die Sonne, galt und für die Menschheit eine gute Nachricht war."

    Die Leuchtkraft der Sonne ist zwar endlich, aber dieses Ende ist weiter entfernt, als die Vorstellungskraft von uns Menschen reicht, weiter auch, als möglicherweise unser eigenes Gastspiel auf der Erde dauern wird. Denn die Menschheit, warnt Hildebrandt, ist dabei, ihren Aufenthalt selbst immer ungemütlicher zu gestalten. Sie verpestet die Umwelt, sie beutet die irdischen Ressourcen rücksichtslos aus, sie heizt die Atmosphäre durch Kohlendioxid-Überproduktion mehr auf, als auf Dauer verkraftet werden kann. Hildebrandt, der Lobsänger menschlichen Forschergeistes, ist zugleich ein Apokalyptiker:

    "Dreizehn Jahre - bis 2020 - bleiben uns noch, um die Klimakatastrophe abzuwenden, die sich derzeit wie ein von unserer eigenen Hand geschriebenes Menetekel am Horizont unserer Erdenbürgerschaft und -bürgschaft abzeichnet. Dreizehn Jahre, in denen es noch nicht um Leben oder Tod geht, aber auf Einsicht und Schonung, auf Umdenken und Umsteuern ankommt, zur Sicherung der schönsten menschenmöglichen Ressource: der Zukunft. Dazu könnte uns eine weitere 13 als Schocktherapie dienen, der Befund nämlich, dass wir derzeit zum Aufglühen unseres Globus dreizehn mal mehr beitragen als die Sonne; das wir also auch die Chance hätten, diese fatale Selbstverbrennung zu stoppen. Die Erde ist noch zu retten - aber sind wir es auch?"

    Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch - und dies kommt wiederum von der Sonne. Die größte geistige und ingenieurtechnische Anstrengung der Menschheit, meint Hildebrandt mit Recht, muss sich auf die Nutzung der Sonnenenergie richten, um das nachzuvollziehen, was jede Pflanze kann: aus Sonnenstrahlen Leben und Überleben zu gewinnen. Nicht mehr und nicht weniger als eine "Sonnenenergierevolution": das muss das nächste, das wichtigste Projekt der Menschheit sein. So schließt dieser lehrreiche Gang durch die wachsende Selbsterkenntnis des Menschen im Dialog mit der Sonne nicht ganz so apokalyptisch und sehr bodennah. Nicht das Anschwellen der Sonne zum roten Riesen, ihr anschließendes Schrumpfen zum weißen Zwerg stehen auf der Tagesordnung - dann, in einigen Milliarden, gibt es die Erde ohnehin nicht mehr. Sondern der intelligente und verantwortungsvolle Umgang mit der paradiesischen Umwelt, die uns geschenkt wurde, von wem auch immer - zwischen dem Höllenfeuer der Sonne und der eisigen Nacht des Alls.


    Dieter Hildebrandt: Die Sonne. Biographie unseres Sterns
    Hanser, München 2008
    388 Seiten, 23,50 Euro