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Der südlichste Punkt der Erde als Mythos

Erik Orsenna ist Wirtschaftswissenschaftler, Romancier, ist Mitglied der Académie Francaise, er ist Weltenbummler und Autor feinsinniger Reportagen über den Zustand unserer Welt. Mit Isabelle Autissier, die als erste Frau in einer Regatta die Welt alleine umsegelt hat, ist er in den äußersten Süden unseres Planetens, in die Antarktis aufgebrochen.

Von Katja Lückert | 04.04.2008
    Weiß, weiß und immer wieder weiß ist das Eis der Antarktis, für dessen verschiedene Beschaffenheiten die Polarforschung mannigfaltige Namen gefunden hat. Höckereis, Eisnadeln, Eisschlamm, Packeis, Grieseis, Nilas und Schelf. Eisberge indes sind längst nicht nur weiß, sie schimmern smaragdgrün oder aquamarinblau, manchmal sind sie gar schwarz vom Lavastaub wie auf Deception Island. Die kleine Insel im Vorhof der Antarktis galt lange Zeit als Drehscheibe des Walfangs, bis Vulkanausbrüche in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts dem Schlachten ein Ende machten.

    "Man hätte die Insel ebenso gut desolation, Insel der Trostlosigkeit, nennen können. Das Wort karg wird dem Eindruck kaum gerecht, den die Landschaft macht: ein schwarzer Sandstrand, durchsetzt von verfallenen Gebäuden, im Hintergrund dunkle Höhenzüge, die von braunroten Auswürfen überzogen und mit Schneekappen bedeckt sind. Bei näherer Betrachtung sieht man, dass die übrigen, schwarzen Flächen, die an den Felswänden glänzen, kein Fels, sondern Eis sind. "

    Érik Orsenna, der sich selbst gern als einen "berufsmäßigen Flaneur" bezeichnet, nimmt uns in seinem neuen Buch mit auf eine Reise durch die Antarktis. Und er will vor allem mit dem Vorurteil aufräumen, dass der südlichste Teil der Erde eine monotone Eiswüste sei. Sein Reisebericht schwärmt von der Diversität der Farben und Formen in der Antarktis.

    "Der Ozean ist nicht einförmig. Allen, die befürchten, angesichts jenes Horizonts von 360 Grad könne Langeweile aufgekommen, läst sich getrost entgegenhalten, dass es auf hoher See ebenso viele Landschaften gibt wie an Land. Man muss sich nur umsehen. Die Farbe des Wassers, violett oder smaragdgrün, schwarz oder silbergrau, die Form der Wolken, die gefiederten oder schuppigen Bewohner, all das wechselt, alles bietet Raum für Beobachtungen, für den Versuch zu begreifen, für Gefühle von Glück. "

    Orsenna gehört zur handverlesenen sechsköpfigen Crew der Weltumseglerin Isabelle Autissier, die mit ihrer Segelyacht Ada von Argentinien an den Südpol segelt. Das Buch ist als Chronik dieser Reise in fünf Teilen gehalten, wobei der letzte, wesentlich kürzere Teil die Rückfahrt beschreibt. Essayistische Betrachtungen über Kaiser,- Esels,- und Adeliepinguine, wechseln sich ab mit Einlassungen über die Seglersprache, oder die antarktische Grasarten. Dazwischen lesen wir vorgeblich in Eriks und Isabelles Tagebüchern. Isabelle etwa macht sich Gedanken um das Geschlecht ihres Bootes:

    "Ein Mädchen! Darüber kann man sich nicht täuschen. Die schlanke Gestalt, der breite Schoß unter dem grauen Kleid, das- zugegeben- nicht sehr gefällig ist, und vor allem ihre unnachahmliche Art, sanft, aber entschlossen die Hüften auf das Wasser zu setzen: Ada ist ein Mädchen. Wem noch nie aufgefallen ist, dass Schiffe ein Geschlecht haben, dem fehlt es in beträchtlichem Maße an Beobachtungsgabe."

    Neben dem hochseefesten Schriftsteller Orsenna, der sich auch bei starkem Wellengang in der Kajüte zum Schreiben festklemmt, sind noch ein Ornithologe und ein Dokumentarfilmer an Bord. Wie eine solche Nutzgemeinschaft unter den extremen Bedingungen einer Expedition miteinander auskommt, liest man in wiederum in Isabelles Tagebuch:

    "Ein Mensch, der mehrere Wochen in Meerwasser mariniert wird, neigt zu unvorhersehbaren Verhaltensweisen. Sie glauben ihn zu kennen - weit gefehlt. Die Erschöpfung, manchmal die Angst, die Mutlosigkeit der anderen, die Seekrankheit, die Enge an Bord, die Sehnsucht nach Komfort oder nach einer fernen Liebe, das Gefühl, zu viel oder zu wenig Verantwortung zu haben, können einen an Land umgänglichen Zeitgenossen auf See in einer Sauertopf verwandeln, den man am liebsten in Ketten legen würde, obwohl das leider nicht mehr erlaubt ist. "

    Die Reisenden vereint die Sehnsucht nach dem Südpol, nach seiner Einsamkeit und seinem Frieden, zu dem auch die Gewissheit passt, dass diese Region politisch zu keinem Staat gehört. Mit dem Blick der Entdecker berichten Orsenna und Autissier nicht nur von ihrer eigenen Reise, sondern auch von historischen Abenteuern anderer Polarreisender wie Jerôme Poncet, und Ernest Shackleton. Dem schwedischen Polarforscher Otto Nordenskjöld ist sogar ein ganzes Kapitel gewidmet. Und sicherlich gehört die Geschichte, wie sein Team gleich zwei Winter lang auf einer Insel der Antarktis ausharren musste, bis es schließlich im Frühjahr des Jahres 1904 gerettet werden konnte, zu den aufregendsten Polar- Abenteuern.

    Eine obligatorische Bewährungsprobe muss jedoch Jeder bestehen, der diese Region bereist, nämlich das Warten auf ein sogenanntes Wetter-Fenster, das die Einfahrt in die berüchtigte Drake-Straße, die zwischen Kap Hoorn und der Nordspitze der antarktischen Halbinsel liegt, ermöglicht. Die Drake-Straße, benannt nach dem Freibeuter und Weltumsegler Francis Drake, gehört zu den klimatisch unruhigsten Gegenden dieses Planetens, weil dort tropische und antarktische Wetterfronten aufeinanderprallen. Traditionsgemäß treffen sich die Segler im Yachtclub Afasyn im argentinischen Ushuaia (Aussprache: Uswaja) um sich auf diese Passage vorzubereiten. Dort beobachtet sie Orsenna, und zeigt sich fast überschwänglich begeistert über ihre Abgebrühtheit.

    "Sie werden nie eine Böe für einen Sturm halten. Indes kann es vorkommen, dass sie über einer einfachen Wetterkarte die Stirn runzeln, ein Zeichen großer Beunruhigung. Man kann ihnen alle Schätze der Welt bieten - wenn man lieber nicht auslaufen sollte, werden sie nicht auslaufen. Und wenn das schlechte Wetter sie fern der Küsten erwischt, wird niemand besser in den sicheren Hafen zurückfinden als sie. Mehr wollen wir nicht sagen, ihre Bescheidenheit leidet jetzt schon genug. "

    Eine Reise in die Antarktis kommt heute sicher nicht ohne Betrachtungen über den Klimawandel aus. Doch Orsenna erhebt nicht den moralischen Zeigefinger. Seine Perspektive ist die eines ruhigen Beobachters, der die Globalisierung als eine Geschichte von Verlieren und Gewinnern, von unsäglichem Leid und ungeheuren Errungenschaften versteht.

    "Die klimatischen Unregelmäßigkeiten auf dem Rest des Planeten scheinen die Antarktis (also) nicht zu betreffen. Im Augenblick erfüllt der antarktische Zirkumpolarstrom weiterhin seine Rolle, isoliert und schützt den Kontinent. Die Antarktis lebt, wie sie immer gelebt hat, nach ihrem eigenen Rhythmus. Ihre Zeit ist nicht die unsere, sondern die uralter Eiszeiten."

    Orsenna hat keine Mission, er will erzählen und beschreiben - nicht überzeugen. Für ihn ist der allersüdlichste Punkt der Erde ein Mythos, der seinen Zauber noch lange nicht verloren hat.

    Èrik Orsenna & Isabelle Autissier: "Großer Süden". Eine Reise in die Welt der Antarktis. (C.H. Beck, ISBN: 978 3 406 56958 6)