Donnerstag, 28. März 2024

Archiv

"Der Thronfolger"
Ludwig Winders Franz-Ferdinand-Roman

Als der Prager Feuilletonist und Schriftsteller Ludwig Winder 1937 "Der Thronfolger" veröffentlichte, konnte er nicht mehr auf viel Echo hoffen. Der "Franz-Ferdinand-Roman" wurde in Nazi-Deutschland verboten. Für unseren Rezensenten ist die Neuausgabe eine überfällige Wiederentdeckung eines großen historischen Romans.

Von Oliver Pfohlmann | 19.08.2014
    Woran liegt es, dass manche Bücher einen Platz im literarischen Kanon erlangen und andere einfach vergessen werden? Jedenfalls nicht am Bekanntheitsgrad des Autors zu Lebzeiten: Ludwig Winder war in der Zwischenkriegszeit als Theaterkritiker und Redakteur der "Deutschen Zeitung Bohemia" eine Instanz im Literaturbetrieb weit über Prag hinaus. Aber auch an der literarischen Qualität kann es nicht immer liegen. Denn ginge es danach, müsste Winders Hauptwerk aus dem Jahr 1937, sein Roman "Der Thronfolger", heute ebenso berühmt sein wie, sagen wir, Joseph Roths "Radetzkymarsch".
    Schonungsloser und lakonischer als Joseph Roths "Radetzkymarsch"
    Mit dem er ja das Thema teilt: den Untergang der Donaumonarchie. Dieser wird jedoch nicht wie bei Roth in einem melancholiegetränkten Abschiedsbild verklärt, sondern schonungslos-lakonisch analysiert. Als Leitfaden diente dem böhmisch-jüdischen Autor das Leben des Mannes, dessen Ermordung am 28. Juni 1914 als Auslöser für den Weltenbrand diente: Erzherzog Franz Ferdinand. Ein spröder, ja unsympathischer Zeitgenosse. Warum der Thronfolger zu Lebzeiten so unbeliebt war, macht der Roman schnell begreiflich: Franz Ferdinand war ein misstrauischer, schwermütiger, von Ehrgeiz zerfressener Misanthrop. Glücklich machte ihn allein die Jagd: Von Jugend an schoss er wie besessen auf alles, was ihm vor die Flinte kam, 270.000 Abschüsse sollen es gewesen sein. Eine Jagdmanie, die Winder überzeugend als Kompensation deutet:
    "Aus dem Wald kam ein Rudel von fünfzehn Hirschen in toller Flucht über eine Wiese. Nach kaum einer Minute hatte Franz Ferdinand alle fünfzehn rotiert. Seine Augen glühten. Nie hatte der Regimentskommandant so glühende Augen gesehen. / „Wenn's nur recht viele sind", rief glühend Franz Ferdinand. / Viele Hirsche. Viel Wild, das er schießen durfte: Es war der Ersatz für alle unerfüllten Wünsche. Er sammelte die Geweihe, sie hingen in allen Korridoren und an allen Wänden seines Hauses so eng nebeneinander, dass die Enden einander berührten."
    Will man so einem Menschen überhaupt näherkommen, sich in ihn einfühlen? Ludwig Winder gelingt dieses literarische Kunststück – mit einem Porträt, das atmosphärisch dicht, historisch exakt und psychologisch differenziert ist, vor allem aber auch: menschlich gerecht. Zwar folgt diese Romanbiografie unerbittlich dem Lauf der Geschichte, bis hin zu den berühmten letzten Worten des tödlich getroffenen Erzherzogs, die sich in jeder Hinsicht als falsch erweisen sollten: "Es ist nichts".
    Franz-Ferdinand: Projektionsfläche von Hoffnungen und Befürchtungen
    Und doch ist in Winders „Franz-Ferdinand-Roman" die Frage nach den unausgeschöpften Potenzialen der Geschichte beständig präsent. Schließlich war der Thronfolger schon zu Lebzeiten die Projektionsfläche zahlreicher Hoffnungen und Befürchtungen. Sich selbst hielt er für einen Ausersehenen der Geschichte: Erst beschert eine überraschende Erbschaft dem zwölfjährigen Neffen des Kaisers märchenhaften Reichtum. Dann sind es unerwartete Schicksalsschläge im Hause Habsburg, die ihn mit 26 Jahren quasi an die Spitze der Anwärterliste katapultieren. In einem großartigen inneren Monolog lässt der Schnitzler-Verehrer Winder den Leser an dem Rausch der Erwartungen und Hoffnungen teilhaben, der nach dem Selbstmord des Kronprinzen in Franz Ferdinand tobt.
    "Sicher, sicher hat Gott den Kronprinzen nur deshalb sterben lassen, damit ich an seine Stelle komm und das Große vollbring, das ich nach Gottes Ratschluss zu vollbringen hab. Aber das weiß niemand! Das weiß – eben noch niemand. Das ist zum Verrücktwerden, dass das niemand weiß, niemand wissen kann! Aber vielleicht ist das nicht das Wichtigste. Wenn nur ich es weiß – das ist das Wichtigste! Wie ich es machen soll, wie der Anfang sein soll und wie ich das Ganze anpacken muss (...) Jetzt weiß ich, wozu ich lebe und warum ich der bin, der ich bin. Ich werde ihnen schon zeigen, wer ich bin! Die werden Augen machen! Alles muss neu aufgebaut werden, mit der österreichischen Schlamperei muss aufgeräumt werden, aber gründlich!"
    Ein Trohnfolger, voller Angst, zu spät zu kommen
    "Du wirst ein großartiger Kaiser sein!", lässt Winder den Bruder, Erzherzog Otto, schon in diesem Schicksalsjahr 1889 jubeln. Und der junge Franz Ferdinand schmiedet große Pläne, mit denen er sich viele Feinde macht: Umbauen will er dereinst die Doppelmonarchie zu einer Föderation selbstständiger Völker, die den Nationenstreit endlich beenden soll – die Franz Ferdinand aber zugleich mit eiserner Hand regieren will. Umgesetzt wird davon nichts, da ihn der Kaiser umgehend kalt stellt. „Gar net ignorieren", lautete nach Winder Franz Josephs Motto im Umgang mit dem tatendurstigen Neffen. Während die Donaumonarchie von einer Krise zur nächsten taumelt und der Kaiser einfach nicht sterben will, liegt der an Tuberkulose erkrankte Thronfolger nachts wach, voller Angst, zu spät zu kommen. Mit seinem Leben im Wartestand personifiziert Franz Ferdinand die Ungeduld einer ganzen Epoche. Erst in seinen letzten Jahren kann er dem greisen Onkel die Macht ein wenig aus den Händen winden.
    "Wenn der Kaiser einen seiner Briefe nicht beantwortete, schrieb der Ungeduldige, der sich vornahm, mit unendlicher Geduld und Beharrlichkeit dem Greis die Macht stückweise zu entreißen, den Brief noch einmal, ein drittes und viertes Mal; wenn alle Briefe unbeantwortet blieben, ging er in Audienz. Gewalttätig trat er in das Arbeitszimmer des Kaisers ein. Er hatte das Gesicht eines Gewalttäters, mächtig wölbte sich seine breite Brust, wie ein Berg stand der große breite Vierziger vor dem immer kleiner werdenden, zusammenschrumpfenden zarten Greis, der sich an die Platte seines Schreibtisches klammerte. Manchmal erhob der Uralte die Stimme und rief laut und zornig: ‚Das dulde ich nicht!' ‚Das erlaube ich nicht!' ‚Das will ich nicht!' Der Thronfolger aber schrie: ‚Es muss trotzdem geschehen!' Der Kaiser presste die Hand auf sein Herz und befahl seinem Herzen, ruhiger zu schlagen. Manchmal schrieb er mit fester Hand an den Rand des Schriftstücks, dass der Thronfolger ihm vorgelegt hatte: ‚Abgelehnt!' Manchmal aber – immer häufiger – schrieb er mit zitternder Hand: ‚Einverstanden.'"
    Nicht ausersehen, sondern von der Geschichte genarrt
    Nicht wie ein Ausersehener – wie ein von der Geschichte tragisch Genarrter erscheint der Erzherzog in Ludwig Winders Darstellung. Für den Prager Feuilletonisten, der 1946 im englischen Exil starb, war Franz Ferdinand im Rückblick trotz all seiner Fehler der intelligenteste Habsburger seiner Generation, betont Ulrich Weinzierl in seinem Nachwort. Zu erwärmen beginnt man sich für ihn spätestens dann, wenn man liest, welch perfide Demütigungen Franz Ferdinand ertragen musste, um die Liebe seines Lebens heiraten zu können, die „nur" eine Gräfin war. Winder lässt ihn von unbarmherziger Rache träumen, würde er nur endlich an die Macht kommen. Stattdessen wurde das ermordete Thronfolgerpaar von seinen Feinden am Hof lieblos zu Grabe gebracht –und sein Tod zum Anlass für einen Weltkrieg genommen.
    Ludwig Winder: Der Thronfolger. Ein Franz-Ferdinand-Roman.
    Mit einem Nachwort von Ulrich Weinzierl.
    Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2014, 575 Seiten, 26 Euro