Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Der Tod und das Mädchen
Sinnliche Auseinandersetzung mit dem Sterben in der Musik

Patricia Kopatschinskaja fordert den Hörer heraus: mit feurigen, oft auch widerborstigen Interpretationen und mit eigenwilligen Programmen. Auf ihrer aktuellen CD – eine Konzertaufnahme mit dem St. Paul Chamber Orchestra – widmet sich die Geigerin dem Thema "Tod" und verbindet Werke aus fünf Jahrhunderten.

Von Marcus Stäbler | 20.11.2016
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Eine kluge, passionierte und mitreißende Grenzensprengerin: Die moldawische Geigerin Patricia Kopatschinskaja will ihr Publikum berühren und aufrütteln. (picture alliance / dpa / Oliver Killig)
    Musik: Schubert, Anfang Andante aus dem d-Moll-Quartett
    "Gib deine Hand, du schön und zart Gebild!
    Bin Freund, und komme nicht, zu strafen:
    Sei gutes Muts! ich bin nicht wild,
    Sollst sanft in meinen Armen schlafen."
    Mit diesen Worten lockt der Tod ein junges Mädchen in seine Arme – im Gedicht "Der Tod und das Mädchen" von Matthias Claudius, das Franz Schubert zunächst als Lied vertont hat. Im Andante aus seinem d-Moll-Streichquartett greift der Komponist das Thema und den langsam schreitenden Rhythmus seines eigenen Lieds auf. Die morbide Stimmung ist in einer neuen CD-Einspielung des Labels Alpha Classics mit Händen zu greifen – sie präsentiert eine Konzertaufnahme des Stücks in einer Fassung für Streichorchester.
    Musik: Schubert, Anfang Andante aus dem d-Moll-Quartett
    Die Geigerin Patricia Kopatschinskaja hat das Arrangement von Franz Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" selbst geschrieben und mit dem Saint Paul Chamber Orchestra aufgeführt. Sie taucht den Beginn in ein dunkles Pianissimo; dabei spielen die Streicher nicht einfach leise, sondern flüstern und raunen. Die Musik changiert zwischen schauriger Intensität und friedvoller Ruhe im Angesicht des Todes.
    Musik: Schubert, Anfang Andante aus dem d-Moll-Quartett
    Das Andante aus Franz Schuberts "Der Tod und das Mädchen" ist die Keimzelle eines dramaturgisch und emotional gleichermaßen dichten Programms. Um die vier Sätze des Streichquartetts ranken Patricia Kopatschinskaja und ihre Kollegen vom Saint Paul Chamber Orchestra kürzere Stücke aus verschiedenen Jahrhunderten, von Dowland bis Kurtág, die alle das Thema Sterben und Vergänglichkeit umkreisen.
    Der Tod lädt zum Tanz
    Die Vorstellung des Todes als eine menschenähnliche Figur – oft als Skelett mit einer Sense dargestellt – war zu Schuberts Zeit schon lange ein gängiger Topos. Er reicht bis ins Mittelalter zurück, als die Endlichkeit des Lebens im Alltag unerbittlich präsent war, vor allem durch die große Pestepidemie, die im 14. Jahrhundert mehr als 25 Millionen Menschen in Europa den "schwarzen Tod" brachte und vor Standesgrenzen keinen Halt machte.
    Der Tod lädt die Menschen zum Tanz: Dieses Bild hat auch in der Kunst und Musik ihre Spuren hinterlassen – etwa in einem Orgelwerk mit dem Titel "Toden Tanz" von Augustus Nörmiger aus dem 16. Jahrhundert. Patricia Kopatschinskaja und das St. Paul Chamber Orchestra beginnen ihr Programm mit einem Arrangement des Stücks für Streicher und Schlagwerk und stellen sich dazu einen chaotischen Danse macabre auf einem Barockfriedhof vor, wie der Booklettext verrät.
    Musik: August Nörmiger, Toden Tanz
    Mit hartnäckigen Wiederholungen scheint der "Toden Tanz" von Augustus Nörmiger auf der Stelle zu stampfen. Als wolle er den Menschen sagen: Es gibt kein Entrinnen. So sehr wir uns auch anstrengen und abmühen - niemand kann seinem Ende davon laufen. Der knochige Tanz aus dem 16. Jahrhundert offenbart eine von vielen Möglichkeiten, der eigenen Sterblichkeit zu begegnen.
    Die CD von Patricia Kopatschinskaja und dem St. Paul Chamber Orchestra vereint ganz unterschiedliche Sichtweisen auf den Tod und beleuchtet diese Facetten mit einer beeindruckenden Fülle an Farben und Ausdrucksnuancen. Gleich im Anschluss an den eben gehörten Tanz entführt Kopatschinskaja den Hörer in eine ganz andere Welt – in ihrer eigenen Bearbeitung eines Byzantinischen Chorals auf den Psalm 140, der um Errettung vor dem Bösen fleht.
    Töne wirken wie mit dem Atem erzeugt
    Über einem Liegeton des Orchesters erhebt sie ihr Instrument in die Sphäre der Vokalmusik. Mit luftig gehauchtem Strich, mit einer sehr sprachnahen Artikulation und mikrotonalen Verzierungen rückt sie ihr Spiel erstaunlich nahe an den Rezitationsstil des byzantinischen Gesangs heran; die Töne wirken nicht mehr wie auf einem Streichinstrument, sondern wie mit dem Atem erzeugt.
    Musik: Anonymus, Byzantinischer Gesang, danach Schubert: Der Tod und das Mädchen
    Urplötzlich fahren die Akkorde dazwischen und reißen den Hörer aus der Stille. Dieser schroffe Übergang vom byzantinischen Psalmgesang zum Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" ist einer von vielen Belegen für das dramaturgische Gespür von Patricia Kopatschinskaja. Die Geigerin überrascht den Hörer mit immer neuen Ideen und Verbindungen – ob sie nun, wie hier, einen krassen Kontrast inszeniert, oder, in anderen Passagen, Stücke aus verschiedenen Epochen zu einem organischen Ganzen verwebt.
    Das Programm ist jedenfalls keine intellektuelle Kopfgeburt, sondern eine äußerst sinnliche Auseinandersetzung mit dem Thema Tod in der Musik. Patricia Kopatschinskaja, diese kluge, passionierte und mitreißende Grenzensprengerin unter den Geigerinnen, will ihr Publikum berühren und aufrütteln. Das demonstriert sie mit ihrer Stückauswahl, aber auch mit der Interpretation.
    Große Besetzung gibt dem Klang mehr Tiefe und Wucht
    Musikantische Leidenschaft und das Ringen um Ausdruck stehen für sie ganz klar im Vordergrund– und wenn das Zusammenspiel oder die Intonation manchmal in der Hitze des Gefechts darunter leiden, dann ist das eben so. Diese Haltung tritt in einer Konzertaufnahme noch kompromissloser zu Tage als im Studio. Bei der Wiederkehr des Anfangs aus Schuberts Streichquartett etwa zieht Kopatschinskaja das Tempo plötzlich so stark an, dass nicht alle Kollegen im Orchester mitkommen, die ersten Akkorde sind ziemlich auseinander.
    Auch wenn die Mitglieder überwiegend im Stehen spielen und hellwach bei der Sache sind: Ein zwanzigköpfiger Klangkörper wie das St. Paul Chamber Orchestra reagiert naturgemäß eben doch etwas weniger wendig und flexibel als ein Quartett. Aber dafür gibt die große Besetzung mit vier Celli und einem Kontrabass dem Klang deutlich mehr Tiefe und Wucht; und durch Kopatschinskajas ungeschützte Risikofreude verströmt die Einspielung genau jene existenzielle Dringlichkeit, die Schuberts Musik ausmacht.
    Musik: Schubert, Der Tod und das Mädchen, 1. Satz
    Kaum möglich, sich dem Sog der Musik zu entziehen – auch wenn hier beileibe nicht alles perfekt zusammen und homogen gemischt ist. Die Intensität packt den Hörer vom ersten Ton an und lässt ihn nicht mehr los. Das gilt für die vier Sätze aus Schuberts Streichquartett "Der Tod und das Mädchen" ebenso wie für die anderen Stücke des einstündigen Programms.
    In der Pavan von John Dowland geben sich Patricia Kopatschinskaja und das St. Paul Chamber Orchestra mit vibratolosem Spiel und näselndem Klang als modernes Gambenkonsort, im Madrigal "Moro lasso" beleuchten sie die schmerzliche Chromatik des Komponisten und reuigen Eifersuchtsmörders Don Carlo Gesualdo. Sehr stimmungsvoll auch György Kurtágs "Ligatura – Message to Frances-Marie". Ein Stück mit sonoren Streicherfarben und der Aura einer archaischen Totenzeremonie.
    Musik: Kurtág, Ligatura – Message to Frances-Maria
    Hier scheint die Zeit still zu stehen. György Kurtágs "Ligatura - Message to Frances-Marie" ist ein letzter Ruhepunkt, ein letztes Innehalten, bevor das Programm unaufhaltsam seinem Ende entgegen hetzt: mit Franz Schubert und dem Finale aus dessen Streichquartett "Der Tod und das Mädchen". Patricia Kopatschinskaja und das St. Paul Chamber Orchestra durchleben die Unruhe und die Rastlosigkeit mit genau der packenden Energie, die die ganze Konzertaufnahme prägt.
    Musik: Schubert, Streichquartett d-Moll, Finale
    Das war das Finale aus dem Quartett "Der Tod und das Mädchen" von Franz Schubert, in der Streichorchesterfassung von Patricia Kopatschinskaja, mit der Geigerin selbst am ersten Pult und dem St. Paul Chamber Orchestra. Eine Aufnahme des Labels Alpha Classics, vorgestellt von Marcus Stäbler.

    Vorgestellte CD:
    !!Patricia Kopatschinskaja/St. Paul Chamber Orchestra:
    "Franz Schubert. Der Tod und das Mädchen"!!
    Label: Alpha Records, Labelcode: 00516, Bestellnummer: Alpha 265