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Der Traum vom Türkischen Sommer

Ursprünglich protestierten die Istanbuler nur gegen ein Einkaufszentrum, doch inzwischen geht bei den Protesten in der Türkei um die Trennung von Staat und Kirche. Auch viele Türken in Deutschland fordern den Rücktritt Erdogans. Ein Stimmungsbild aus Düsseldorf.

Von Murat Koyuncu | 04.06.2013
    Die Freunde Hakan Sönmez und Gökhan Zengin sitzen auf der Terrasse eines Straßencafés. Vor ihnen auf dem Tisch zwei Tassen Tee und ein Laptop. Konzentriert verfolgen sie die Twitter-Meldungen rund um die Ereignisse in Istanbul. Gökhan Zengin ist hin- und hergerissen. Zwar sieht er sich als liberalen Türken, findet aber das Vorhaben Erdogans, ein Einkaufszentrum auf dem Taksim-Platz zu errichten, gut.

    "Es hat seine Vor- und Nachteile so ein Einkaufszentrum. Es bringt Steuern ein, Geld für die Staatskasse, aber natürlich geht dieser Kulturpark kaputt, was für andere Menschen wichtig ist. Andere sehen das so, und wenn man das von der Politik aus sieht, ist es was Gutes: mehr Geld in die Kassen, kann man wieder Schulen und Krankenhäuser errichten. Also da muss man zwei Seiten sehen.""

    Dass sich die Protestbewegung gegen den Bau eines Einkaufszentrum im Stadtteil Taksim richtet, weil somit eine der letzten Grünflächen Istanbuls verschwinden könnte, sei nicht der eigentliche Grund, wendet Hakan Sönmez ein. Es gehe hierbei doch um viel mehr.

    ""Der Taksim-Platz ist in Istanbul der Ort mit Symbolcharakter, wo man sich zu politischen Ereignissen oder Demos versammelt. Die Erdogan-Regierung will mit dem Einkaufszentrum den Platz wegbauen, damit er für regierungskritische Versammlungen nicht mehr existiert, das ist der Grund, warum die Leute auf die Straße gehen!"

    Einen Tisch weiter sitzt die junge Studentin Esma Cetin. Auch sie ist mit der konservativ islamischen Politik Erdogans sehr unzufrieden. Sie hat Angst, dass das Land ihrer Eltern "islamisiert" werden könnte.

    "Er greift ja auch momentan in die eigene Freiheit, wie zum Beispiel das mit dem Alkohol kaufen. Das geht gar nicht. Und ich bin wirklich froh, dass einige diese Revolution angefangen haben und sich dagegen wehren. Es wurde echt Zeit."

    Händchenhalten oder Küssen in der Öffentlichkeit werde beispielsweise nicht mehr gern gesehen. Und auch das Abtreibungsverbot stehe als Nächstes auf der Agenda Erdogans, sagt sie. Seit vielen Tagen sind diese Veränderungen großes Thema in der Community. Allerdings könne man sich hier fast gar nicht auf die türkischen Medien verlassen, denn die Berichterstattung sei zu dünn. Sie hätten wenig, bis gar nicht über die Geschehnisse am Wochenende berichtet. Eine große Enttäuschung, findet Hakan Sönmez.

    "Während in Istanbul die Hölle los ist, zeigen die Nachrichtensender irgendwelche Dokumentationen über Fische. Über die türkischen TV-Sender hatten wir fast keine Möglichkeit, dabei zu sein. Da waren Sender wie CNN oder andere ausländische Kanäle sogar noch näher dran!"

    Für viele Türken ist die wichtigste Informationsquelle deshalb das Internet. Hier bekomme man Nachrichten aus erster Hand - über soziale Netzwerke, wie Facebook oder Twitter, um so auf dem Laufenden zu bleiben, erzählen die Freundinnen Banu Akkaya und Esma Cetin.

    "Es sind wirklich nur Videos, die von den Menschen in Istanbul aufgenommen und gepostet wurden, diese Bilder, das ist einfach schrecklich!"

    "Meine Cousine, die ist momentan mittendrin in Istanbul und ich habe versucht, mit ihr Kontakt aufzubauen, aber es ist auch sehr schwer. Es klappt einfach nicht, weil die kein Netz haben, weil es so überfüllt ist, weil jeder versucht, jeden anzurufen. Jeder versucht, irgendwas bei Twitter oder ins Facebook zu posten – ist einfach überlastet."

    In den nächsten Tagen möchte Esma Cetin gemeinsam mit ihren Freunden auf die Straße gehen, um von hier aus ein Zeichen gegen die Erdogan-Regierung und gegen die Gewaltexzesse der türkischen Polizei zu setzen. Bis dahin will sie den Aktivisten in der Türkei übers Internet Mut machen.

    "Ich versuche die Leute da zu unterstützen, indem ich auch einiges gegen Erdogan poste und den Leuten drüben Unterstützung gebe, in dem ich auch meine Facebook-Seite mit diesen Sachen vollmache."

    Die Hoffnung auf einen laizistischen Staat, ganz nach dem Vorbild des Gründer-Vaters Atatürk, ist groß. In den sozialen Netzwerken wird sogar von einem Türkischen Sommer geträumt in Anlehnung an den Arabischen Frühling. Das könnte aber schwer werden, denn hinter Recep Tayyip Erdogan und seiner konservativ-islamischen Politik stehen immerhin knapp 50 Prozent der Wähler