Donnerstag, 18. April 2024

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"Der Untertan hat dem Kaiser zu parieren"

Der Einfluss der öffentlichen Meinung in China habe zugenommen, sagt der ehemalige deutsche Botschafter in China, Hannspeter Hellbeck. Nach wie vor aber würden die grundsätzlichen politischen Entscheidungen von einem kleinen Zirkel an der Spitze der Kommunistischen Partei getroffen. Und diese Entscheidungen seien weder vorhersehbar noch zu beeinflussen.

Hannspeter Hellbeck im Gespräch mit Christoph Heinemann | 11.11.2012
    Christoph Heinemann: "How is Hu?" – haben wir vor zehn Jahren gefragt, heute wollen wir wissen "How is Xi?" Staats- und Parteichef Hu Jintao packt die Koffer ein, Xi Jinping demnächst aus und letzteres lohnt sich, denn eine neue Führung in China hat in der Regel eine Dekade lang Zeit, um das Land voranzubringen.

    Wir wollen über China sprechen, am Mikrophon ist Christoph Heinemann und Gast im Studio ist Dr. Hannspeter Hellbeck, ehemaliger deutscher Botschafter in der Volksrepublik China, davor am Generalkonsulat in Hongkong tätig. Guten Morgen.
    Hannspeter Hellbeck: Guten Morgen Herr Heinemann.
    Heinemann: Herr Hellbeck, Parteikongress in China. Was wir gesehen haben: Zehntausende Polizisten in Uniformen. Vermutlich ebenso viele Schlapphüte sind im Einsatz. Die üblichen Verdächtigen sind festgenommen worden oder stehen unter Hausarrest. Und ZEIT-online berichtete, es herrsche sogar ein Flugverbot für Zuchttauben, die in der Geschichte der Evolution eigentlich nicht als besonders explosiv aufgefallen sind. Hat die Führung Angst?
    Hellbeck: Die Situation in China hat sich sicherlich verschlechtert, verändert, insofern, als die Bevölkerung kritischer geworden ist. Und seit den Bewegungen in den arabischen Staaten, diese Arabellion, hat sich natürlich auch in China die Sorge breit gemacht unter den führenden Politikern, dass sich ähnliches auch in China ereignen könnte.

    Ich glaube nicht, dass da diese Sorge im Augenblick berechtigt ist, aber es gibt Gruppen sicherlich oder Menschen, die ihrem Ärger, der vorhanden ist, Luft machen würden oder wollen. Und davor will man sich schützen.
    Heinemann: Die Süddeutsche Zeitung berichtete gestern, Jiang Zemin, der frühere starke Mann, der oben immer noch mitmischt, der sei bereits nach vier Minuten erstmals eingeschlafen. Das muss man auch erst mal schaffen bei so einem Parteikongress. Wie funktioniert so etwas? Wenn wir einmal hineinblicken in die Große Halle des Volkes, wie läuft ein solcher Parteikongress ab?
    Hellbeck: Der Parteikongress ist natürlich eine riesige Veranstaltung mit über 2000 Teilnehmern. Und unter den Teilnehmern oder neben den Teilnehmern sitzen auch noch da die alten Parteigenossen, die auf den Hinterbänken hinter der Führung Platz zu nehmen haben. Und das sind natürlich Leute, die den Betrieb von innen und von außen kennen, die auch schon wissen, was gesagt werden wird und infolge dessen eigentlich nicht mehr nötig haben, da zuzuhören ...
    Heinemann: Okay. Die Entscheidungen sind also schon getroffen?
    Hellbeck: Viele Entscheidungen sind getroffen. Ob die personellen Entscheidungen, die jetzt anstehen, schon alle getroffen sind oder noch verändert werden können, entzieht sich meiner Kenntnis, das weiß niemand.
    Heinemann: Der Ort der Macht in China ist das Hinterzimmer? Kann man das so sagen?
    Hellbeck: Ja und nein. Es gibt natürlich viele Entscheidungen, die im kleinen Kreise getroffen werden, wo also die aktuelle Führung zum Teil auch mit der alten Führung zusammensitzt, mit den alten führenden Genossen. Es gibt auch manche Entscheidungen, die beeinflusst werden durch die öffentliche Meinung, die heute ein zunehmendes Gewicht bekommen hat in den letzten 20 Jahren – erstaunlicherweise, so dass man da nicht mehr so ganz sicher sein kann, wie die Entscheidungen ausgehen. Aber die grundsätzlichen Dinge werden im kleinen Kreise entschieden und sind auch nicht zu beeinflussen.
    Heinemann: Öffentliche Meinung kann sich ausdrücken, sagen Sie. Können Sie ein Beispiel nennen? Wie wird Kritik geübt in China heute?
    Hellbeck: Kritik wird auf zwei Bahnen ausgeübt. Einmal über das Internet, das heute eine große Rolle spielt, wo immer wieder auch anonyme Teilnehmer ihre Meinungen kundgeben, sehr kritische Meinungen in der Regel. Und das spielt heute schon eine ziemliche Rolle, auch wenn der Apparat es versteht, diese Meinungen immer wieder abzublocken. Aber es dringt doch vieles durch, erreicht also die 500 Millionen Teilnehmer des Internets. Und das ist also schon ein gewichtiger Faktor.

    Der andere Faktor ist die Tatsache, dass die offizielle Presse in zunehmendem Maße Dinge publiziert, die noch nicht entschieden worden sind beziehungsweise die entschieden werden sollen. Und da gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass auch kritische Vorgänge in der Bevölkerung, Übergriffe der lokalen Funktionäre und dergleichen, in der Pekinger Presse gebranntmarkt werden.
    Heinemann: Sie haben eben im Vorgespräch eine Begebenheit geschildert aus der Provinz. Da ging es um eine Zwangsabtreibung.
    Hellbeck: Ja, das ist ein Fall gewesen, der viel Aufsehen erregt hat in der Presse, der auch von der Parteipresse, von Global Times, aufgegriffen worden ist. Eine Frau, die ein zweites Kind zur Welt bringen wollte, was ja nach der offiziellen Ein-Kind-Politik nicht zulässig ist, wurde zwangsweise aus ihrer Wohnung entführt, ins Krankenhaus gebracht, und zwangsweise wurde das Kind abgetrieben. Das hat den Vater des Kindes dazu veranlasst, nach Peking zu fahren und dort offenbar Journalisten auf dieses Problem aufmerksam zu machen. Und das ist ein Fall geworden, der selbst von der offiziellen Presse gebranntmarkt wurde. Und das Ergebnis war, dass die lokale Regierung – in welcher Stadt das war, weiß ich nicht mehr – aufgefordert wurde, die Dinge zu korrigieren und die Schuldigen zu bestrafen.
    Heinemann: Schauen wir uns noch mal den Machtwechsel an, das Personal, das jetzt promoviert werden soll: Xi Jinping, er ist Vizepräsident, er soll Parteichef, voraussichtlich dann im Frühjahr zum Staatschef gekürt werden. Seine Tochter studiert in Havard, habe ich gelesen, seine Frau ist eine bekannte Sängerin – auf der einen Seite. Dann auch der künftige Ministerpräsident Li Keqiang. Wie schätzen Sie den neuen Kapitän, den neuen Steuermann ein?
    Hellbeck: Wir wissen noch relativ wenig über Herrn Xi. Herr Xi ist vor einem Jahr in Amerika gewesen, hat sich dort recht geschickt mit den Amerikanern arrangiert und unterhalten. Xi ist gleichzeitig auch Chef der Parteihochschule. Und da gibt es interessante Berichte über die Diskussionen in der Parteihochschule über eine Demokratisierung des Landes, die also doch ziemlich weitgegangen sind und diese Diskussionen haben offenbar mit seiner Belegung stattgefunden.

    Also, da gibt es Hinweise darauf, dass dieser Mann in der Zukunft eine relativ flexible oder pragmatische Politik betreiben könnte. Wie weit er in der Lage sein wird, von den vorhandenen Konzepten abzuweichen, ist natürlich eine ganz andere Frage. Das ist einmal eine Frage der Zeit. Reformen, die notwendig wären, brauchen sehr, sehr viel Zeit – in jedem Land. Wenn wir an Deutschland denken: Von 1789 bis 1945 haben wir auch eine ganze Weile gebraucht, bis wir da gelandet sind, wo wir jetzt glücklicherweise sind. Also, das mag auch in China viel Zeit erfordern, das weiß natürlich auch ein Mann wie Xi. Und deswegen kann er vielleicht froh sein, dass er einen Mann wie Li Keqiang bei sich hat, der als Wissenschaftler ausgebildet ist und als sachlich denkender Mensch bekannt geworden ist. Dieses Team könnte in der Lage sein, die fälligen und notwendigen Reformen, insbesondere auch auf dem wirtschaftlichen Gebiet, umzusetzen.
    Heinemann: Wieso hält die Partei überhaupt die kommunistische Fassade aufrecht? Oder wie kommunistisch ist dieses Regime überhaupt? Gibt es einen nennenswerten Schutz der Armen zum Beispiel?
    Hellbeck: Ja, das hängt sehr stark zusammen mit der kulturellen Erbschaft des Landes. Das Land wird ja seit zweieinhalbtausend Jahren vom Konfuzianismus geprägt, und Konfuzius hat in seinen fünf Regeln festgelegt, dass Regel Nummer eins ist: Der Untertan hat dem Kaiser zu parieren. Und das ist eine Regel, die also doch weitgehend in die Köpfe der chinesischen Menschen eingedrungen ist und von ihnen auch beherzigt wird. Dass das sich in der neuen Zeit, in der modernen Zeit nicht halten lassen kann, das wissen wir. Aber für China ist das eine ganz schwierige Entscheidung, davon abzuweichen.

    Das Problem ist ja natürlich auch, dass als Folge dieses Konfuzianismus das westliche politische Denken abgelehnt wird. Der Herr Hu Jintao hat das ja Freitag noch einmal deutlich gesagt: Das westliche politische Konzept taugt nicht für uns, das können wir nicht übernehmen. Und von daher gesehen sind diese Diskussionen alle schwierig insofern, als ein Übergang zu einer Demokratie westlichen Musters wahrscheinlich nicht zu erwarten ist.
    Heinemann: Ist diese Ablehnung, weil man uns oder den Westen für so schwach hält, oder weil man als Chinese sagt: Wir haben eine eigene Tradition, wir wollen einen eigenen Weg gehen? Woraus speist sich diese Ablehnung?
    Hellbeck: Also die Ablehnung beruht wahrscheinlich eher auf der Selbstüberzeugung, dass man das bessere System hat, die bessere Idee hat.
    Das westliche System ist viel zu wenig bekannt, als dass man es von Grund auf ablehnen könnte. Aber es gibt im chinesischen Denken eine allgemeine Tendenz, dass man glaubt, der Westen könne China nicht verstehen. Und aufgrund dieser Dichotomie, die da eingetreten ist, glaubt man, dass nur das eigene Denken China weiterbringen könne.
    Heinemann: Immerhin - eigenes Denken - hat Hu Jintao in seinem Rechenschaftsbericht einige Probleme eingeräumt. Er sprach von der Umwelt, von der Kluft zwischen Arm und Reich, vor allem auch von der Korruption. Kann die Führung das nicht mehr verschweigen?
    Hellbeck: Das ist nicht mehr zu verschweigen. Wenn ich mit der Korruption anfangen soll: Es hat im Ablauf der letzten Jahres zwei spektakuläre Fälle gegeben – einmal war es der Eisenbahnminister, der also Millionen in die eigene Tasche gesteckt hat von den Investitionskosten, die er hätte ausgeben sollen. Und der zweite Fall ist der inzwischen berühmt gewordene Bo Xilai, der zuletzt in Chonqing gesessen hat und dessen Frau dann auch Geld gemacht hat, mit seiner Hilfe vermutlich, und noch einen englischen Geschäftsmann getötet hat.

    Dieser Fall ist weit in der Presse diskutiert worden, umfangreiche Artikel sind erschienen. Immer wieder ist auf diese Geschichte zurückgekommen …, ich habe allein über 100 Artikel gesammelt, die sich mit diesem Fall beschäftigen. Und das alles wird von der Bevölkerung gelesen und kann nicht mehr verschwiegen werden.

    Und schon vor Jahr und Tag haben Umfragen ergeben, dass die Korruption das Thema ist, das die Menschen am meisten bewegt und verschreckt. Und das ist ein Thema, was ganz, ganz schwierig ist, denn an dem, was wir wissen oder was wir hören, ist die Korruption etwas … - ein Vorgang, der in sehr weiten Kreisen in der Führung und der Administration verbreitet ist und die Menschen verärgert.
    Heinemann: Das heißt, die Chance, dass die Führung den Bestechern und den Bestechlichen zu Leibe rücken wird, die sehen Sie nicht so ausgeprägt?
    Hellbeck: Das ist ganz, ganz schwierig. Man hat natürlich jetzt die Frau von Bo Xilai verurteilt, Bo Xilai selber soll verurteilt werden, das kommt jetzt noch, das wird man auch tun, schon um ein abschreckendes Beispiel an der Hand zu haben und diesen Wünschen nachzugeben. Aber wie weit man nun in der Masse der Fälle dem nachgehen kann, das bleibt völlig offen, zumal also auch gerade auf der unteren Ebene, der gemeindlichen Ebene, die Übergriffe von lokalen Funktionären gegenüber den einfachen Menschen, gerade auch auf dem Lande, sehr häufig sind und nur schwer geahndet werden können.

    Heinemann: Wie schätzen Sie es ein? Behindert das verknöcherte System, das Sie jetzt zum Teil auch mit beschrieben haben, behindert dies die weitere Entwicklung des Landes?
    Hellbeck: Das steht ihr sicherlich im Wege. Ob es sie völlig behindert, das ist eine Frage der Zukunft. Wir können sicher davon ausgehen, dass sich einiges bewegen wird. Ob sich genug bewegen wird, das ist die große Frage, vor der China jetzt steht.
    Heinemann: Und wenn wir zurückblicken, müssen wir ja sprechen auch über eine schier unglaubliche Erfolgsgeschichte, eine Steigerung des Bruttoinlandsproduktes um zehn Prozent pro Jahr, Exportzuwächse von bis zu 30 Prozent pro Jahr. Wie hat China diesen gewaltigen Sprung nach vorne geschafft mit einer Mittelschicht, die jetzt zu einem gewissen Wohlstand auch gelangt ist? Da sind ja doch durchaus sehr positive Dinge geschaffen worden.
    Hellbeck: Absolut. Das ist ein Vorgang, der in der Weltgeschichte beispiellos ist. Das muss man anerkennen und das muss man sehen und das ist natürlich auch ein Ergebnis, was die Menschen in China heute befeuert, auf dem Pfade weiter zu gehen. Nur wird das wirtschaftlich gesehen kaum möglich sein, weil Exportsteigerungsraten von 20 Prozent im Jahr in der heutigen Welt kaum noch durchsetzbar sind. Und da kommen natürlich zahlreiche Einzelfragen aus dem Bereich der Wirtschaft dazu, die wir hier wahrscheinlich jetzt nicht im einzelnen durchgehen können.
    Heinemann: Sprechen Sie ein paar an.
    Hellbeck: Nehmen Sie bloß den Fall, die Tatsache, dass bei dem Export ein wichtiger Faktor die ausländischen Patente sind. Wenn Sie heute einen Samsung oder einen Apple oder ein japanisches Gerät kaufen, dann sind das weitgehend Dinge, die zwar in den Ländern entworfen worden sind, aber in China produziert werden. 'Made in China' steht unten drunter. Das ist eine Situation, die es für China auf die Dauer schwierig machen wird, im internationalen Wettbewerb zu bestehen.
    Die sind jetzt dabei, mehr junge Leute auszubilden und auch auf Innovation in der Technik zu trainieren. Das ist natürlich ein langwieriger Vorgang. Das geht nicht von heute auf morgen und das ist also ein Faktor, der in der Wirtschaft eine Rolle spielt.

    Der nächste Faktor ist natürlich die Sache mit der Staatskapitalregelung. Die gegenwärtige Politik wird weitgehend dadurch bestimmt, dass die Investitionen durch den Staat festgelegt werden, ohne Rücksicht darauf, was der einzelne Unternehmer sagt. In der Regel sind das aber auch Staatsbetriebe, die durch staatliche Eingriffe gefördert werden, auch ohne Rücksicht auf Wirtschaftlichkeit.

    Und das nächste Problem ist die Förderung der Privatbetriebe. Das hat man schüchtern im April in Angriff genommen aufgrund eines Wunsches des Premierministers Wen Jiabao, aber die Erfolge sind bisher noch nicht sichtbar geworden.

    Das heißt auf Deutsch, Privatbetriebe – und das sind immerhin Betriebe, die 40 Prozent des Bruttosozialproduktes heutzutage schon beitragen – kriegen nicht die Vorzugszinsen, die die Staatsbetriebe bekommen, sondern müssen höhere Zinsen bezahlen. Und so kommt ein Problem zum nächsten. Und dann kommt die Frage, was ja Herr Hui Jintao angesprochen hat, er will den Binnenkonsum fördern. Das kann er aber nur, wenn er einmal einer Lohnsteigerung zustimmt, was natürlich sich zum Nachteil auch der Exporte auswirken würde, und zweitens wenn er eine Sozialversicherung finanzieren kann, die den Namen verdient, die es bis heute auch noch nicht gibt. Und das sind natürlich Milliardenbeträge, die da nötig sind und sein würden, die es in China bisher dafür noch nicht gibt.
    Heinemann: Interview der Woche im Deutschlandfunk mit dem früheren deutschen Botschafter in China, mit Dr. Hannspeter Hellbeck. Sie haben im Vorgespräch gesagt, wir müssen dringend auch über die Umwelt sprechen. Als Sie Botschafter waren, da haben Sie noch diese Heerscharen von Fahrradfahrern erlebt, die durch Peking geradelt sind, heute überwiegend Autofahrer. Wiederholt China da die Fehler der westlichen Industrieländer?
    Hellbeck: Es wiederholt nicht den Fehler, aber es tut zu wenig, um den Problemen des Umweltbereichs gerecht zu werden. Das sind natürlich unterschiedliche Bereiche.

    Einmal ist es die Luft. Die Luft fing also schon Anfang der 90er-Jahre in Peking an, schlecht zu werden. Wenn man da um 11 Uhr heraus trat, da zog sich schon eine Dunstwolke durch die Stadt, die dann erst am späten Abend verschwand. Das ist das eine.

    Das andere ist das Wasserproblem, ein ganz schwieriges Problem in China. Nordchina leidet darunter, dass der Grundwasserspiegel seit Jahr und Tag, seit Jahrzehnten absinkt und dass der Versuch, Nordchina mit dem Südwasser zu versorgen, bisher noch nicht weit gediehen ist. Man will drei Kanäle bauen, die von Mittelchina nach Nordchina gehen. Aber da gibt es Probleme auch der Bevölkerung, die dagegen steht, weil dann viele Menschen ihren Grund und Boden aufgeben müssten und das Ganze natürlich auch ein technisch riesiges Problem ist, für Hunderte von Kilometern Kanäle zu bauen, die das Süßwasser aus Mittelchina nach Norden bringen sollen.

    Und dann kommt natürlich die Bodenverschmutzung durch die zunehmende Industrialisierung des Landes, die auf den Boden und die Bodenqualität und auf die Luft keine Rücksicht genommen hat, sondern eben freischaffend ihren Abfall und ihre Probleme in die Luft befördert hat beziehungsweise in die Erde.

    Also das sind drei Komplexe, die eine riesige Rolle spielen. Und beim Wasser kommt eben noch hinzu, dass nicht nur in Nordchina, sondern überall in China das Süßwasser knapp wird, das Trinkwasser, das Industriewasser, das Landwirtschaftswasser.
    Heinemann: Bei einem Bereich immerhin scheint sich was zu tun. Die Ein-Kind-Politik wird in Frage gestellt, weil die Folgen vielleicht nicht mehr bezahlbar, nicht mehr bewältigbar sind für die Gesellschaft. In welche Richtung entwickelt sich diese Diskussion?
    Hellbeck: Das ist eine Diskussion, die gerade erst angefangen hat. Es gibt seit einigen Tagen oder wenigen Wochen mehrere Artikel in der Presse, die sich mit diesem Thema beschäftigen, wo also Wissenschaftler sagen, wir können im Hinblick auf die demografische Entwicklung Chinas die Ein-Kind-Politik nicht durchhalten. Schon jetzt sind 13 Prozent der Bevölkerung über 60 Jahre alt. Dieser Prozentsatz wird sich in den nächsten zehn Jahren gewaltig vergrößern. Und das fällt also auch den Chinesen auf. Und die Folgerung ist natürlich, dass dann immer weniger Menschen in der Lage sein werden, den immer größer werdenden Teil alter Menschen zu finanzieren und zu unterhalten. Und deswegen taucht jetzt die Frage auf, ob man nicht doch mehr Kinder braucht, um dieser Entwicklung entgegen zu steuern.
    Heinemann: Und da gibt es konkrete Planungen schon?
    Hellbeck: Nein, es gibt keine Planungen, das ist erst in der Diskussion. Und wie weit also die neue Regierung im nächsten Jahr sich dieser Sache annehmen wird, das steht natürlich noch in den Sternen.
    Heinemann: Sie haben eben gesagt, ein westliches Modell wird schon aus kulturellen Gründen abgelehnt werden, weil man einen eigenen Weg entwickeln will. Wie wird in China über die Menschenrechte diskutiert? Man muss dazu sagen, Sie waren Botschafter, als das Massaker am Tianmen-Platz stattfand. Sie haben das quasi vor der Haustüre erlebt damals.
    Hellbeck: Das ist eine ganz schwierige Frage. Der Aufruhr von 1989 hat sich ja bisher nicht wiederholt. Das liegt zum Teil daran, dass die jüngere Generation sehr schnell überlegt hat, verstanden hat, dass es zweckmäßiger ist, sich auf einen wirtschaftlichen Aufschwung zu konzentrieren. Das war schon Anfang der 90er-Jahre in Peking zu hören. Und deswegen ist diese Frage zunächst einmal in den Hintergrund getreten.

    Und das zweite ist natürlich, dass das Thema Menschenrechte in China kaum historische Wurzeln hat. Eine Diskussion, wie sie in der europäischen Aufklärung entstanden ist und dann später daraus auch in der Französischen Revolution dann auf den Tisch gelegt worden ist, hat es in China nie gegeben. Und das ist eine Sache, die also in der Zukunft wahrscheinlich zur Sprache kommen wird. Natürlich wird es zur Sprache kommen, aber das ist eine Entwicklung, die eben sehr lange brauchen wird.
    Heinemann: Aber immerhin, die Vorkommnisse, die Sie eben geschildert haben mit dem Arbeiter, der in der Presse sagt: 'So was, was da mit meiner Frau passiert ist, das geht so nicht', darüber wird gesprochen. Es gibt die vielen, vielen Demonstrationen und auch in den Betrieben Auseinandersetzungen. Sie haben eine Zahl von 150.000 genannt. Also, von unten brodelt schon etwas?
    Hellbeck: Es brodelt und es ist vorhanden und es wird zunächst einmal die Frage sein, ob die Regierung in der Lage sein wird, dem Land ein geordnetes Rechtssystem zu verpassen. Vor vier Wochen ist eine Justizreform angekündigt worden in einem längeren Papier von 20 Seiten. Das bezog sich aber nur auf Strafprozesse und die Behandlung von Angeklagten und von anderen Menschen.

    Die Frage, wie nun also die Rechtsposition des Einzelnen in China geschützt werden soll – obwohl das ja seit fünf oder sechs Jahren in der Verfassung steht –, das bleibt nach wie vor offen. Und das ist natürlich ein Problem, vor dem China steht. In den Verfassungsregeln steht alles Mögliche und in der Praxis wird das natürlich immer noch nicht befolgt.
    Heinemann: Herr Hellbeck, in den 80er-Jahren schien Japan uneinholbar auf der Erfolgsspur zu fahren, heute ein Land mit großen Problemen, hochverschuldet, Deflation. Könnte China in vergleichbarer Weise die Luft ausgehen?
    Hellbeck: Das ist natürlich die 64.000-Dollar-Frage, die kann ich auch noch nicht beantworten. Die wirtschaftliche Situation wird seit zwei Jahren schlechter und schwieriger, das ist gar keine Frage. Und die Weltwirtschaftssituation ist ja auch im Augenblick nicht dazu angetan, einen Aufschwung eines Landes zu ermöglichen. Wir merken das ja selber am besten. Also, von daher gesehen wird sich China mit geringeren Zuwachsraten begnügen müssen. Und wenn die Zuwachsraten auf fünf bis sechs Prozent im Jahr absinken sollten, was von einigen Experten prognostiziert wird, dann steht offen, wie weit China dann in der Lage sein wird, diesen Kurs beizubehalten, den es im Augenblick fährt.
    Heinemann: Mit Blick zur Uhr – Andreas Stopp hat sich schon ins Studio geschlichen für den Sonntagsspaziergang. Eine letzte Frage: Heute ist der 11.11. Welche Rolle spielen Schnapszahlen in China, oder spielen sie überhaupt eine Rolle?
    Hellbeck: (lacht) Daten ja. Mir fällt nur ein: der Baba, das ist der 8. August. Ba heißt acht. Und die Acht ist eine Glückszahl, weil es eine runde Zahl ist, geschrieben - gesehen. Und das finden die Chinesen ganz großartig. Und die Folge ist, dass sich am 8. August die Menschen drängen, die heiraten wollen. Die wollen alle am 8. August heiraten, das gilt also als glückliches Datum. Und von daher gesehen ist das so etwas ähnliches wie der 11.11. in Köln.
    Heinemann: Also mit dem Verweis auf den 8. August endet an diesem 11. November das Interview der Woche mit Dr. Hannspeter Hellbeck, dem ehemaligen deutschen Botschafter in der Volksrepublik China. Dankeschön für das Gespräch und für Ihren Besuch.
    Hellbeck: Ja, vielen Dank.