Samstag, 20. April 2024

Archiv


Der Vater des American Folk Revival

Vermutlich war Alan Lomax einer der einflussreichsten Amerikaner des 20. Jahrhunderts – nur kennt ihn kaum jemand mehr. Das soll sich jetzt ändern: Tausende Ton- und Filmaufnahmen, die der Musik- und Sozialwissenschaftler auf Reisen durch die Welt gemacht hat, werden im Internet der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Von Laf Überland | 23.02.2012
    "Es ist noch nicht sehr lange her, da gab es Hunderte von kleinen Kommunikationswelten, diese Blasen von Gesang und Vergnügen, buchstäblich Hunderttausende von diesen Erzeugern des Ursprünglichen."

    Die Suche nach dem Ursprünglichen, das Wühlen nach dem Grund: Warum singen Menschen? Warum tanzen sie? Das waren die Fragen, die Alan Lomax umtrieben. Geboren 1915, gestorben 2002 - ein Volkskundler, Archivar, Anthropologe, Sänger, politischer Aktivist, Talentsucher, Filmemacher, Konzertveranstalter, Radiomoderator, Plattenproduzent. Vor allem aber war Alan Lomax der Mann, der die Folk-Music zu den Massen brachte.

    Zunächst hatte er in Texas einen Abschluss in Philosophie gemacht, aber dann ging er mit seinem Vater, der für die Bibliothek des amerikanischen Kongresses Feldforschung betrieb und amerikanische Folklore sammelte, in die Südstaaten: Mississippi, Louisiana, Kentucky und Tennessee. Mit einer 150 Kilo schweren Kiste, mit der man Aufnahmen direkt in Aluminiumrohlinge schnitt. Später nahm er Filmkameras, Video, noch später digitales Equipment.

    Und jedenfalls: Als sie da hingingen, wo sie die umfassendsten Erzählungen über die schwarze Wirklichkeit der Südstaaten vermuteten – nämlich in die Gefängnisse -, da traf den jungen Alan Lomax unvermittelt eine Art Offenbarung:

    "Ich hatte alle Sinfonien gehört und alle Kammermusik und den besten Jazz, aber dies war die beste Musik: Da waren 50 Schwarze, die unter Peitschen und Gewehren arbeiteten – und die Seele hatten, das wundervollste Lied zu singen, das ich jemals gehört hatte!"

    In den 30ern und 40ern war die Rassentrennung in den USA noch eine staatstragende Selbstverständlichkeit. Lomax aber ließ schwarze und weiße Musiker zusammen auftreten. In seinen Radioshows spielte er sie Rücken an Rücken und stellte so ein völlig unerhörtes, neues Weltbild aus - und die musikalische Botschaft eines Amerikas, die das offizielle Amerika nicht hören wollte. Das brachte ihn natürlich ins Visier des FBI, das ihn Jahrzehnte lang wegen vermeintlich kommunistischer Tendenzen überwachte.

    Sowohl das amerikanische Folksong-Revival der 60er, zu dem Bob Dylan und Joan Baez gehörten, als auch der englische Folk- und Folk-Rock-Boom der 60er und 70er gehen auch auf Lomax’ Arbeit zurück. Sogar den Rock 'n' Roll hat er beeinflusst: Bands wie die Rolling Stones wurden wiederum von Muddy Waters und anderen Blues-Musikern beeinflusst, die ohne Lomax überhaupt niemand gekannt hätte - ohne diese Aufnahmen aus kargen Wohnstuben, in Kirchen, in irgendwelchen Schuppen oder unter freiem Himmel.

    Einen Großteil seines Lebens reiste Alan Lomax später durch die Welt, ging in die Hinterhöfe und auf Bauernhöfe, in die spanischen Cantinas und italienischen Trattorias, die irischen Pubs und englischen Folkkeller, auf anatolische Dorfplätze und an karibische Strandfeuer und und und - sammelte den größten verfügbaren Fundus an dokumentierter ethnischer Musik: Das World-Music-Archiv sozusagen.

    5000 Stunden Tonaufnahmen, 122 Kilometer Film, 3000 Videobänder und 5000 Fotos hat Alan Lomax hinterlassen. Zumindest 17.000 Songs sollen ab diesem Monat im Internet per Streamingdienst nach und nach kostenlos verfügbar werden - in verrauschter Qualität oder digital sauber: Lomax hat ja über die Jahrzehnte mit allen Technologien gearbeitet - während er Songs einfing, als wären es Schmetterlinge.

    Das AlanLomaxArchive auf YouTube
    Research Center der von Alan Lomax gegründeten Association for Cultural Equitiy