Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


Der Vatikan als Schicksal

Hinter dicken Mauern lebt er und hat Zugang zu Geheimnissen, die außer ihm keiner kennt. Ob es die Menschen in der profanen Welt interessieren würde, was er beim Gang durch die Archive erfährt, steht auf einem anderen Blatt; sehr wohl aber interessiert sie das Leben hinter diesen Mauern. Man hat nur eine ungefähre Ahnung davon. Kaum eine andere Institution kontrolliert ihre Geheimnisträger besser als der Vatikan. Was sich im Kreml oder im Pentagon abspielt, erfährt man allein deswegen, weil Regierungswechsel für den Aus-tausch des Personals sorgen. Im Vatikan wechseln die wichtigen Positionen nicht, jedenfalls kaum schlagartig in großer Zahl. Erst wenn jemand das kano-nische Alter von 75 erreicht hat, muss er sein Amt niederlegen, und in diesem Alter opfert man seine Loyalität nicht mehr zugunsten ungezügelter Klatsch-sucht.

Von Florian Felix Weyh | 16.08.2004
    Für den "Chef" gilt die Grenze vom vollendeten Dreivierteljahrhundert nicht. Er ist jetzt 84 und versieht sein Amt bis zum bitteren Ende. Was macht er in sei-nen Privatgemächern, die er kaum noch verlassen kann? Wie setzt er sich ge-gen die Intrigen seiner mächtigen, weil körperlich nicht gehandicapten Kardinäle durch? Schaut er, um die Welt besser zu verstehen, die er nicht mehr betre-ten kann, im Fernsehen nachmittags »Big Brother« an, Seifenopern und Zei-chentrickfilme? Und hat er in Gedanken wirklich denjenigen Abbitte geleistet, denen er mit seiner traditionalistischen Linie den Weg aus der katholischen Kirche wies, Frauen, die ins Priesteramt streben, Homosexuellen? Alles Speku-lation. Der italienische Romancier Roberto Pazzi lässt sie in seinem Roman »Wer das Geheimnis erbt« erblühen, ohne je den Namen Johannes Paul II. zu erwähnen.

    Doch die biographischen Daten verankern das fiktionale Erzählwerk in der Wirklichkeit. Es ist eine große literarische Phantasie über den einsamsten Men-schen der Welt, über Glaubenszweifel, seine Begegnungen mit anderen Ein-samen wie den Dalai Lama, seine kindliche Freude, wenn es ihm gelingt, die Kurienbeamten auszutricksen. Roberto Pazzi – weder entsprungener Priester, noch Vatikaninsider – muss dabei offenbar keine Rechnungen begleichen; ihn interessiert die Entrückung dieses alten Mannes von der Welt, die doch auf sein Wort hört. In Zeiten, da es kaum noch personifizierte Macht gibt, ist das ein gewichtiger, fast ausgestorbener literarischer Topos – der ins Kirchliche gewendete Königsroman. Pazzi geht mit diesem Stoff so ehrfürchtig wie spie-lerisch um. Sein Papst ist keine Karikatur, sondern ein in seiner Hilflosigkeit anrührender Mann, bescheiden in seinen Ansprüchen auf absolute Wahrheiten und menschliche Moral.

    Am Ende des Buches holen ihn in einer Sterbehalluzination Joseph und Maria zur langen Reise ins Paradies ab, doch zuvor muss er, das Ende ahnend, einen Brief an seinen Nachfolger schreiben. Wer es sein wird, weiß er nicht; er weiß nur, dass er in seiner fast dreißigjährigen Amtszeit alle Kardinäle berief, die nun das aktive und passive Wahlrecht besitzen. So oder so wird der Erbe ein Geschöpf aus seiner Hand sein. Er wird alles anders machen, um am Ende sei-nes Papsttums dennoch die Tradition fortgeführt zu haben. Denn die Instituti-on besiegt jeden persönlichen Ehrgeiz, das ist ihre Stärke, zugleich die Bot-schaft des Briefes, der eigentlich nur der Selbstvergewisserung des Sterben-den dient.

    Warum soll das jemand lesen, ein Nichtkatholik zumal? Weil es ein eindrückli-ches Stück Literatur ist. Halb phantastischer Roman, halb Insiderreport; mal hochreflexives Glaubensbüchlein, mal Kirchensatire, doch immer fair und ohne Häme gegenüber dem Ich-Erzähler mit seinen Nöten.

    Roberto Pazzi
    Wer das Geheimnis erbt
    List Verlag, 272 S., EUR 8,95