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Der veränderte Umgang mit Wissen

Mehr als acht Milliarden Websites, 1,3 Milliarden Bilder – so viel Wissen hat die Internet-Suchmaschine Google katalogisiert. Deshalb ist Google ja mittlerweile auch so eine Online-Institution, auch wenn zwischenzeitlich unseriöse Firmen es mit Tricksereien geschafft hatten, ihre Internetseiten an die Spitze der Suchergebnisse zu befördern. Wir Journalisten googlen uns die Basisrecherche zusammen, Schüler googlen Hausarbeiten und Studenten auch schon mal ganze Diplomarbeiten. Wie verändert sich unser Umgang mit Wissen durch Suchmaschinen wie Google? Hat Google bald ein Wissensmonopol? Diese und andere Fragen haben sich Wissenschaftler, Journalisten und andere Google-Nutzer gestellt; Michael Schetsche und Kai Lehmann haben die Antworten in einem Sammelband zusammengetragen. Stephan Haufe hat ihn gelesen.

Von Stephan Haufe | 01.08.2005
    Etwa 33 Millionen Bundesbürger sind im Internet, sie surfen regelmäßig www-Seiten an, laden Musik herunter und, davon ist mit Sicherheit auszugehen: sie googeln.
    Angeklickt wird das Suchportal Google in Deutschland etwa 20 Millionen Mal pro Monat. 80 Prozent der deutschen Internetnutzer führen hier ihre Recherchen durch. An der Börse ist das Unternehmen fast so viel wert wie General Motors, Ford und Daimler-Chrysler zusammengerechnet. Aufgrund dieser herausragenden Stellung haben Michael Schetsche und Kai Lehmann ihrem Buch vom digitalen Wandel des Wissens, den Titel die Google-Gesellschaft gegeben. Die Herausgeber und Autoren des knapp 400 Seiten starken Sachbuches wollen aber keinen neuen Gesellschaftsbegriff prägen. Michael Schetsche:

    "Goggle-Gesellschaft ist zunächst einmal nur eine Metapher. Weil solche Suchmaschinen wie Google solche großen Wissensmengen im Netz nicht nur erschließen, sondern weil sie auch immer mehr den Anspruch haben, eine generelle Schnittstelle vom Menschen und dem Internet zu sein, bzw. von den neuen Medien zum Menschen hin und deshalb haben eben Suchmaschinen, einen größeren Anspruch und deshalb haben wir das als Metapher gewählt, aber mehr ist es auch nicht. "
    Die Suchmaschine ist ein Werkzeug. Als solches versetzt es uns in die Lage, das immense Potential des Netzes effektiv zu nutzen. Suchmaschinen stellen aber nur eine von zahlreichen Anwendungen dar, die das WorldWideWeb hervorgebracht hat. Die Digitalisierung des Wissens bedeutet mehr, als nur den intelligenten Transport von Daten, wie die Mediensoziologen Kai Lehmann, Michael Schetsche und Thomas Krug in ihren Thesen über die neue Wissensordnung feststellen. E-Learning, Online-Zeitungen, Weblogs, Chatrooms oder politische Foren wie Indymedia verändern unsere Umgangsweise mit Wissen und wirken sich darauf aus, wie wir Wissen erstellen, erreichen, darstellen und weiterverarbeiten. Der Suchalgorithmus von Google dient den Autoren dabei als eingängiges Beispiel. In aller Deutlichkeit demonstriert er, wie sich die Struktur unserer Wissensaufnahme verändert. Gemeint sind die Kriterien, nach denen eine Suchmaschine bestimmt, welche Seiten auf einer Trefferliste ganz vorne oder ganz hinten stehen. Dazu Kai Lehmann:

    "Erst einmal müssen wir unseren Informationsbedarf reduzieren auf Suchbegriffe. Studien zeigen, dass Nutzer es schaffen, es auf einen Begriff zu reduzieren. Natürlich mit den notwendigen Lücken, die dabei entstehen. Wenn ich etwas über Helmut Kohl suche und gebe nur Kohl ein, dann finde ich alles mögliche, unter anderem auch Informationen über Helmut Kohl. Wenn ich dann aber als Suchergebnis 100.000 Treffer bekomme, habe ich weder die Lust, noch die Zeit alle 100.000 Seiten durchzuschauen. Das heißt, ich werde mich im Wesentlichen mit den ersten 10- bis 20 Treffern auseinandersetzen. Alle anderen 99.980 Treffer zum Thema Kohl bekomme ich nie zu Gesicht. Das heißt Wissen, was schon sehr stark bekannt ist, was von anderen geteilt wird, und gerade auch bei Google stark verlinkt ist, wird gefördert. Also der Mainstream wird gefördert bei Google. Randständiges Wissen wird eher unterschlagen bzw. ist kaum auffindbar, weil es dann auf den letzten Trefferplätzen liegt. "
    Auf diese Weise werden Informationen vorbewertet, aussortiert oder unterschlagen. Salopp gesagt: was von Bedeutung ist, entscheidet Google.

    Tatsächlich gewährt das Netz jedem freien Zugang. Es ist anarchisch. Und somit haben sich längst Formate herausgebildet, die eben jenes von Google verdrängte Wissen wieder an exponierte Stellen bringen. Verantwortlich dafür ist eine weiteres Phänomen der digitalen Wissensordnung: es hebt die Trennung von Autor und Leser auf. Das heißt:

    "Die Vorstellung, die wir hatten, Wissen ist etwas, was einige wenige Leute herstellen, sozusagen eine klassische Rolle von Wissensproduzenten, dass es diese Unterteilung so nicht mehr gibt, sondern jeder der sich Wissen aneignet und Wissen nutzt, kann auch gleichzeitig zu einem Produzent von neuem Wissen werden. "
    Genauso schwindet die Grenze zwischen Fakten und Fiktion. Schetsche verdeutlicht das im Buch am Beispiel von Verschwörungstheorien, deren Entstehung und Verbreitung durch das Internet neue Impulse bekommt.

    Die Netzwerkmedien, allen voran das Internet…

    "...schaffen eine neue Öffentlichkeit: Sie kennt keine Produzenten und Konsumenten, sondern nur Nutzer, denen sie als Arena für die private, politische und ökonomische Verständigung dient."
    Auf diese Weise formiert sich eine Gegenöffentlichkeit. Deren Ergebnis sich nicht nur in Verschwörungstheorien ausdrückt, sondern auch in einer stärkeren Beteiligung der Bürger am politischen Geschehen.

    "Man muss ja auch wissen, dass sich zahlreiche Nichtregierungsorganisationen vor allem über das Internet zunehmend aktiv und effektiv organisieren können. Und diese Entwicklung hin zu einer Bürgergesellschaft durch mehr Beteiligung, die ist vor allem durch das Internet befördert worden. "
    So sieht es Christine Schulzki-Haddouti, Expertin für Cyberdemokratie und Datenschutz. In ihrem Beitrag über Bürgerrechte im Internet plädiert sie dafür, überlegt und transparent mit der uns zur Verfügung stehenden Hightech des digitalen Zeitalters umzugehen. Denn der wachsende Einfluss des Bürgers durch das Netz ist nur eine Seite der Medaille.
    ”Diese Entwicklung, dass Bürger mehr Informationen über andere haben können, lässt sich natürlich auch auf ihn selbst beziehen. Es gibt mehr Informationen über ihn selbst.”
    Das Netz bietet die Möglichkeit, private Daten eines jeden von uns durch Andere sammeln und speichern zu lassen. Hierin steckt ein Gefahrenpotential der neuen Medien. Wir werden uns darum mehr Kenntnisse über Technologien aneignen müssen, um die von uns hinterlassenen Datenspuren für andere unzugänglich zu machen.

    Und damit die Digitalisierung des Wissens positiv verlaufen kann, muss so Schetsche, in der Quintessenz die allgemeine Medienkompetenz gestärkt werden. Das wiederum erfordert:
    "...Veränderungen im Bildungssystem, die weggehen von der klassischen Vermittlung von einzelnen Informationen, von einzelnen Bausteinen, die man möglicherweise noch auswendig lernen muss, das funktioniert nicht mehr. Es kann heute nur noch gehen, um die Vermittlung von Techniken, um die Vermittlung von Kompetenz und auch um die Vermittlung von einer kritischen Fähigkeit mit solchen Medien umzugehen. "
    Noch ein Wort zum Stil des Buches. Obwohl manche Texte ab und an in den langweiligen Stil wissenschaftlicher Hausarbeiten abgleiten, bietet der Sammelband eine sehr abwechslungsreiche Lektüre. Dazu trägt die Mischung aus wissenschaftlichen Hypothesen, persönlichen Erfahrungsberichten und Experteninterviews bei. Nicht zuletzt spiegelt die Anzahl von 56 Autoren eine enorme Themenvielfalt wider, die den Band zweifellos zu einer umfassenden Bilanz digitaler Medien macht. Für Journalisten, Öffentlichkeitsarbeiter, Lehrer, Schüler und jeden Internetnutzer bietet das Buch schließlich eine Fülle interessanter Links und fördert einen bewussten Umgang mit Informationstechnologien. Denn ein unkritischer Blick auf die Trefferliste bei Google ist nach der Auseinandersetzung mit der Google-Gesellschaft unmöglich geworden!

    Michael Schetsche und Kai Lehmann sind die Herausgeber des Sammelbandes "Die Google-Gesellschaft. Wissen im 21. Jahrhundert", 408 Seiten, erschienen im Transcript-Verlag in Bielefeld für 26 Euro 80.