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Der Wanderer - Goethe in Italien

Der wunderbare Schweizer Dichter Robert Walser hat einmal gesagt, ihn langweile Goethes Italienische Reise. Auf 500 Seiten werde "in einem fort geschätzt, bewundert, gelobt und geliebt, vor allem geduldet, begriffen, eine Manier", die vom Leser viel Geduld verlange. Nur er, Robert Walser, habe leider keine. Hätte er Norbert Millers Goethe-Italienbuch gelesen, er hätte wahrscheinlich ganz anders geschrieben.

Richard Schroetter | 13.08.2002
    Miller betrachtet Goethe quasi durch die Brille des von Walser bewunderten und geliebten Jean Paul. Jean Paul war der eigentliche Antipode Goethes, fügen wir das hinzu. Er ist auch eine Leitfigur in Norbert Millers akademischem Universum. Er hat die berühmte Hanser - Jean Paul-Ausgabe zu einer Zeit herausgegeben, in der man in den Literaturwissenschaften verbissen über Basis und Überbau diskutierte, und hatte so damals den poetischen Übermut, Imagination und Phantasie über diese Hintertreppe der Edition listig wieder ins Spiel gebracht. Nach diesem immensen Projekt, hat sich der Gelehrte 15 Jahre lang an Goethe abgearbeitet. So ist u.a. die große Münchener Goethe-Werk-Ausgabe entstanden. Nun hat er die beiden Heroen miteinander versöhnt, indem er Goethes italienisches Abenteuer aus Jean Pauls "mit Witz und Begierde sengenden Augen" eruiert, gegen die "rauhe, stündliche Wirklichkeit", wie es bei dem Bayreuther so schön heißt. Das ist schon ein tolles Unterfangen, ein Stück "Simultan- und Tuttiliebe", ein gelehrtes Fabelwerk, ein Vorgehen, das Miller wahrscheinlich bewusst gar nicht beabsichtigt hat. So wird unter der Hand aus dem Weimarer Geheimrat - und Schulbuch-Klassiker eine romanesque Gestalt, ein zerrissener junger Mann, weltflüchtig -wissenshungrig, bildungssüchtig, byronesque, den der Drang nach Ruhm genau so verzehrt wie die versäumten unausgelebten Liebesabenteuer, die er nun in Italien nachzuholen versucht. Dazu Miller:

    Man darf ja nicht vergessen, Goethe ist auf dem Weg nach Italien ein innerlich gänzlich zerfressener kranker Mann, der in den letzten vier Jahren mit einer verzweiflungsvoll pflichterfüllten Tätigkeit als Minister, als Vertrauter des Herzogs, als Mann für alle Fälle, als jemand, der in einer rätselhaft unerfüllbaren Liebesbeziehung steht zu Frau von Stein. Er war, als er herunterfuhr, von der Melancholie des Schreckens zerfressen, es mussten alle Gespenster eines über ihn lauerndes Verhängnisses ... das muss um ihn gestanden haben, wie ein Glückskind, das fürchten muss, dass die Schicksalspferde ihn in den Abgrund reiten; ich glaube diese Gespenster, die er schwer los wurde, und die er nur loswurde, indem er ja in Rom ja tatsächlich die Existenz wechselte, die Künstlerburschenexistenz aufbaute und mit ein paar viel jüngeren Freunden in einer Weise in die römische Alltäglichkeit eintauchte, die glaube ich, nie niemand außer ihm je gemacht hätte, das hat ihn, glaube ich befreit und gibt ihm in Rom die Sicherheit zurück, sich in den verschiedensten chameliontischen Verkleidungen zu bewähren.

    Goethe war 37 als er - für einen Herren von Stand und Weimarer Minister erstaunlich unzeitgemäß - ohne Diener und Anhang - auf Freiers Füßen regelrecht - nach Italien wanderte. Eine Flucht auch vor der Welt des Papiers und der Akten. Auf dieser Reise habe er, wie er später betonte, die Furcht vor den Gespenstern, die so oft mit ihm spielten, endgültig abgelegt. Doch hat der große Klassiker seine Italieneindrücke nachträglich bereinigt, gezielt verändert:

    Es ist außer jeder Frage, dass für die beiden ersten Bände, und nur soviel ist 1820 erschienen, als die Reise nach Rom und von Neapel nach Sizilien zurück nach Neapel, die Reise bricht ja ab im Erreichen Roms, und erst zwölf Jahre später ist der zweite römische Aufenthalt noch angefügt worden, für diese Zeit haben wir die Kontrolle für die Anfahrt nach Rom, die sich im wesentlichen an das Tagebuch hält, aber an einer ganzen Reihe von Stellen auch novellistsich verändert. Es werden Teile hinzugefügt, es werden literarische Pläne eingefügt, Landschaftsschilderungen, sogar eine Räuberepisode wird eingebaut, von der kein Wort wahr ist, die aber so gut paßt, und das gleiche haben wir als Vermutung für Neapel und Sizilien, nur hat Goethe das gesamte Material nach der Redaktion verbrannt.

    Geschadet hat es dem Buch nicht. Aber die Moderne mit ihrem nach Authentizität schreienden Exhibitionismus befriedigt das nicht. Viele Goetheforscher halten die Italienische Reise für bloße Fiktion. Miller nicht:

    Das heißt ein schöner Roman, wie Roberte Zaperi sagt, mehr Märchen als Wahrheit, dass ist er nur zum Teil, denn eines gehört zu den Grundauffassungen Goethes, dass der Gang dessen, den ihn der Genius führt, nicht willkürlich verändert werden kann. Der Mann, der ein Gedicht oder Theaterstück, nur wenn es die Stunde will, zu Ende schreibt, kann an bestimmten Fällen nicht außerhalb seiner Natur fälschen, d.h., es ist ein Bildungsroman, aber es ist ein Bildungsroman mit einer Art erhalten gebliebener Spontaneität.

    Miller hat aus Goethes Bildungsroman eine versponnene kulturgeschichtliche Erzählung gemacht, mit vielen Digressionen über die Opera buffa, Faustina und Erotica Romana zum Beispiel. Solche Digressionen sind für Goethe äußerst ungewöhnlich, ja befremdlich wie für Jean Paul typisch. Ja Jean Paul. Von Jean Paul hat Miller auch die Technik übernommen, Mutmaßungen in Korrespondenzen zu verwandeln und diese wieder in luftige Poesie - in wundervolle Ahnungshorizonte, die uns suggerieren, "so war es und nicht anders", und das zu lesen, ist vielleicht schöner als dagewesen zu sein.

    Doch anders als Jean Paul, der bekanntlich nie in Italien war und darüber um so emphatischer schrieb, hat Norbert Miller die Schauplätze selbst aufgesucht, hat Goethes Reiseerfahrung mit der seinigen verglichen:

    Man muss nur einmal in die bei Goethe herrlichste Landschaft hinausfahren, die Ebene die bei den Sabiner Bergen ist, um zu wissen, wie verzweiflungsvoll zerstört dieser ganze Zusammenhang ist, das ist die eine Sache, und das kann man in jeder Stadt neu erleben, und das kann man auf dem Land - alles dies. Rätselhafterweise ist das, was Goethe einem kunsthistorischen Freunde, einem Kunstmaler abgelauscht hatte, die Idee man könne das Rätsel Italiens durch das zeichnende Nachschreiben der Natur abgewinnen, das bewahrheitet sich bis heute. Es ist einfach so verrückt, dass man an den unerwartetsten Stellen, wenn man in Italien ist, auf einmal der Zauber einer antiken Ruine, auf einmal das überraschende sich öffnende Landschaftsbild wie von Claude Lorrain, oder einfach die herrlichste kantige Gebirgslandschaft des Monte Pellegrino oberhalb von Palermo einem den Atem nimmt, weil man, wie Goethe sagen muss, das hat sich seit den Zeiten der Griechen, das heißt im Innersten, seit der Luft, nicht geändert. Insofern kann man mit Goethes Augen das sehen, ohne dass das ein imaginäres Museum ist, in dem man sich ergeht, schau, was das für eine schöne Landschaft ist. Man kann' s nicht immer. Es ist schon von der Gunst der Stunde abhängig.