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Der Wert der Leiche

Wenn der Mensch stirbt, muss das noch lange nicht sein Ende sein. Auf den Sektionstischen der rechtsmedizinischen Institute entnehmen Ärzte Knochen, Haut oder Sehnen und verarbeiten sie weiter zu Transplantaten. Die Leiche ist zu einem wertvollen Rohstoff geworden: Hornhäute, Herzklappen, Knorpel – fast alles lässt sich verwerten.

Von Martina Keller | 17.05.2009
    "Wir haben sie schon etwas vorbereitet, haben den Tisch gesäubert, haben die Verstorbene auf den Tisch gelegt, haben dann mit verschiedener Art und Weise desinfiziert, wobei wir hier nicht unter OP-Bedingungen arbeiten, wir versuchen sehr sauber zu arbeiten, aber das ist trotz alledem ein Sektionssaal, und den kriegt man nicht steril, wir arbeiten hier nicht wie die Chirurgen im OP."

    Selbst am Zweiten Weihnachtstag ist in der Hamburger Rechtsmedizin ein zweiköpfiges Team im Einsatz. Auf dem Sektionstisch die Leiche einer 90-jährigen Frau: Teile ihres toten Körpers sollen entnommen werden.

    "Was wir bei ihr an Gewebe entnehmen werden, ist nicht sozusagen das volle Programm, das wir machen, weil sie aufgrund ihres Alters schon so ist, dass man sagt, man kann nicht jedes Gewebe hernehmen, weil es erfahrungsgemäß schon etwas degeneriert ist, das heißt wir nehmen die Oberarmknochen, wir nehmen die Oberschenkelknochen, wir nehmen die Schienbeine und von dem Fußknochen nehmen wir auch noch einen und wir werden versuchen, das müssen wir schauen, ob wir das nachher schaffen, auch vom Beckenknochen ein Stück noch zu nehmen."

    Christian Braun ist Rechtsmediziner. An seiner Seite arbeitet Jürgen Brillinger, ein erfahrener Präparator. Braun:

    "Vom Beckenkamm bis zum Innenknöchel haben wir jetzt einen Schnitt über das gesamte Bein gemacht, um uns den Zugang zu ermöglichen, jetzt präparieren wir hier schichtweise erst die Haut und das Unterhautfettgewebe weg bis auf den Muskel. Wenn diese Dame jetzt jünger wäre, müsste ich auch hier an der Außenseite vom Oberschenkel sehr aufpassen, weil wir dann auch die sogenannte Fascia lata noch entnehmen würden, das ist eine bindegewebige Platte, die an der Außenseite des Oberschenkels zu finden ist, die man auch hernehmen kann für verschiedene Zwecke, zum Beispiel zur Deckung von Wunden."

    Die menschliche Leiche ist zu einem wertvollen Rohstofflieferanten geworden. Fast alle Einzelteile lassen sich verwerten: Augenhornhäute, Gehörknöchelchen, Herzklappen, Gefäße, Haut, Sehnen und Knochen. Nur rund 4500 Patienten erhalten jährlich in Deutschland ein neues Organ wie Herz, Niere, Leber oder Lunge. Doch mehrere Zehntausend bekommen andere Teile des Körpers verpflanzt. Vieles ist machbar, vieles noch denkbar. Doch es gibt auch Grenzen.

    "Der menschliche Körper ist keine Ware und kann auch keine Ware sein, denn der Körper ist die Existenzbedingung von uns als Person."

    Die Hamburger Politologin Ingrid Schneider.

    "Wir können unseren Körper nicht als etwas begreifen, was wir einfach beliebig verscherbeln auf dem Markt, sondern der Körper hat eine ganz besondere Qualität."

    "Da unten sind Räume für den Nassprozess, wo wir also die Gewebe in Einzelgefäßen alle sauber voneinander getrennt reinigen, dann gehen sie hier durch Trockenvorgänge durch und kommen dann unter uns in diese Reinräume, wo sie einzeln zugeschnitten, zugesägt, verpackt werden."

    Karl Koschatzky ist Geschäftsführer der Tutogen Medical GmbH in Neunkirchen am Brand bei Erlangen, ein kommerzieller Verwerter von Leichengewebe. Tutogen vertreibt vor allem Knochenprodukte. Koschatzky:

    "Sie verlassen dann das Haus, gehen in einen Sterilisationsbetrieb, wo sie sterilisiert werden, kommen dann wieder zurück, da unten ist die neue Endverpackung und anschließend ist da das Fertigwarenlager, von wo aus wir den ganzen Versand in die ganze Welt machen."

    Anders als Organe werden Gewebe mehr oder weniger aufwändig verarbeitet. Die fertigen Transplantate gelten als Arzneimittel, ein Teil davon darf gehandelt werden wie klassische Medikamente. Der Markt ist lukrativ und expandiert. Das Rohmaterial der Tutogen Medical GmbH stammt aus Deutschland und Osteuropa, sagt Koschatzky, geliefert wird in 40 Länder weltweit. Koschatzky:

    "Am menschlichen Körper gibt es im Prinzip zwei Typen von Knochen, das ist der Schwammknochen, Spongiosa, oder es gibt den kompakten Knochen, wie er im Oberschenkelschaft vorkommt. Daraus können Sie verschiedene Gewebeformen, -zubereitungen machen, zum Beispiel als klein gemahlenes Füllmaterial oder als Formkörper bestimmter Abmessung, zur Stütze einer Wirbelsäule oder zur Heilung einer Fraktur oder auch zum Auffüllen einer Kieferwand und ähnliches ... Es gibt eine Unzahl von Anwendungsmöglichkeiten ... und das haben wir ungefähr zwischen 200 bis 400 verschiedene Artikel in Anführungszeichen auf Lager."

    "Das sind einfach so Möglichkeiten, die wir haben."

    Koschatzky geht ins Nebenzimmer und holt einen Kasten mit Produktmustern.

    "Das zum Beispiel ist eine Kniescheibe, die ist bereits prozessiert, und aus der kann man dann so Dübel oder Blöcke machen, die man in der Wirbelsäule einsetzt. Und dann können Sie natürlich langsam anfangen, etwas kompliziertere Teile zu machen, das hier zum Beispiel, das ist also ein hufeisenförmiges Implantat für die Wirbelsäule, das man von vorne durch den Bauch in die Wirbelsäule reintut."

    Elfenbeinfarben, glatt oder porös liegen die zurechtgefrästen Teile aus menschlichem Knochen in einem Kasten. Er erinnert an eine Schraubenkiste aus dem Heimwerkermarkt.

    "Das ist mit einer CNC-Maschine hergestellt und kann man da oben zervikal einsetzen an der Halswirbelsäule. Das sind Schrauben, Knochen-Pins, alles aus Knochen. Das ist ein Dübel, den man im Prinzip einsetzen kann in der Wirbelsäule, durch einfache Bohrungen reinsetzen kann."

    Organe retten Leben, für Gewebe gilt das nur in Ausnahmefällen. Oft erhöhen die Transplantate jedoch die Lebensqualität: Hornhäute wären ein Beispiel. Eine gespendete Hornhaut kann einem Patienten die Sehkraft zurückgeben. Solche Fälle sind es, die Spender dazu bewegen, ihren toten Körper unentgeltlich zur Verfügung zu stellen. Bei Knochenprodukten wie denen von Tutogen ist die Lage komplizierter. Um beispielsweise degenerierten Kieferknochen wieder aufzubauen, kann man Leichenknochen verwenden, muss es aber nicht. Ähnliches gilt für Fascia Lata, die Muskelhülle des Oberschenkels:

    "Also zum Beispiel wird Fascia lata heute benutzt, um die Aufhängung bei einer Nervenlähmung im Gesicht durchzuführen, also wenn der Mundwinkel nach oben gezogen werden soll, dann wird das unter die Haut verpflanzt, um die Funktion des gelähmten Nervens wenigstens etwas zu ersetzen."

    Hans-Ulrich Steinau ist Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie und Schwerbrandverletzte am Universitätsklinikum Bergmannsheil in Bochum.

    "Fascia lata wird außerdem bei Tumoroperationen benutzt, wenn man an der Schädelbasis Tumoren herausgenommen hat, um die Schädelbasis wieder abzudeckeln, oder eben als Sehnenersatz, wenn man bei einer Operation von einem Tumor in der Nähe des Kniegelenks, den Strecker des Kniegelenks wieder fixieren muss, kann man dafür sehr gut Fascia lata nehmen."

    Steinau, ehemals Präsident der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, weiß Fascia lata zu schätzen. Allerdings bezieht er das Gewebe weder von der Tutogen Medical GmbH, noch von anderen Herstellern.
    "Wir entnehmen es den Patienten, und das kann man kosmetisch sehr günstig machen, indem man - mit einem kleinen Schnitt von etwa einem Zentimeter seitlich an der Oberschenkelfläche - den Sehnenstrang der Fascia lata freipräpariert, und dann kann man mit einem sogenannten Stripper ein bis zu 35 Zentimeter langes Stück Fascia lata herausholen, mit einem ganz kleinen Eingriff. Ich seh’ überhaupt keinen Grund, warum ich diese Fascia lata aus Leichenbeständen ersetzen sollte. Und das ist ein Frischtransplantat, da sind die Zellen noch lebendig, die ich einpflanze."

    Häufig werden dennoch Transplantate verwendet. Zahlen sind nicht bekannt, aber sowohl Tutogen Medical als auch das DIZG haben Leichen-Fascia lata in ihrem Sortiment. Und niemand kontrolliert derzeit, ob ein Transplantat zwingend erforderlich war. Ein Versäumnis, meint Ingrid Schneider, und plädiert für ein strenges Regelwerk:

    "Eine Regel wäre die Gewebesparsamkeit, das heißt, dass Gewebe nur dann verwendet werden sollte, wenn es eine medizinische Indikation dafür gibt und wenn das Gewebe anderen Verwendungsformen deutlich überlegen ist, zum Beispiel synthetischen Produkten oder tierischen Produkte oder anderen Therapieformen. Und die zweite Regel lautet, dass das Gewebe bedarfsdeckend verwendet werden soll, aber nicht bedarfsweckend. Also es geht darum, dass man nicht künstlich neue Nachfrage schaffen sollte nach Gewebe, indem man das entsprechende Angebot bereitstellt, sondern nur das, was wirklich nötig ist, mit Gewebe versorgt."

    Ein anderes Beispiel. Aus einem Bereich, der eher dem Lifestyle denn der Medizin zuzuordnen ist: der Schönheitschirurgie. In den USA vertreibt die US-amerikanische Firma LifeCell Corporation ein Produkt namens Alloderm. Es besteht aus so genannter azellulärer Haut: Die lebendigen Zellen werden entfernt, übrig bleibt nur eine Kollagenschicht. Und die kann in zerkleinerter Form unter die Haut gespritzt werden: Zum Glätten von Falten oder zum Vergrößern von Lippen. Im Jahr 2007 erzielte LifeCell mit Alloderm rund 167 Millionen Dollar Umsatz, einen Teil mit solchen Schönheitskorrekturen. - Hatten die Spender solche Geschäfte im Sinn, als sie ihren Körper selbstlos zur Verfügung stellten? Hinzu kommt noch ein anderes Problem. Steinau:

    "Ich muss Ihnen ganz offen sagen, die Unterspritzung führen wir nicht durch, weil es auch zu diesen Produkten keine sauberen Studien gibt. Ich denke, insbesondere in der ästhetischen Chirurgie brauchen wir eine Überprüfung, was Akutkomplikationen betrifft, und es ist ganz wichtig, dass die Patienten und Patientinnen etwas erfahren können über die Dauer dieser Behandlung: Wie lange hält das vor, welche Komplikationen bekomme ich davon, was passiert, wenn die umgebende Haut weitere Runzeln ausbildet, und so weiter. Ich würde mir wünschen, dass im Interesse der Patientensicherheit all diese Substanzen einer sorgfältigen klinischen Prüfung unterzogen werden, und diese Daten fehlen bisher."

    Steinau ist ein Vertreter der evidenzbasierten Medizin, die wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit und Unschädlichkeit von Therapien verlangt. Den Einsatz von Leichengewebe in der Schönheitschirurgie sieht er skeptisch. Allerdings kennt er durchaus Bereiche, in denen Gewebetransplantate von Leichen hilfreich sind. Sein Spezialgebiet ist die Behandlung von Schwerbrandverletzten - das sind Patienten, bei denen die Körperoberfläche zu 70 oder 75 Prozent verbrannt ist. Solche Menschen können nicht sofort mit Eigenhaut versorgt werden, was die beste Lösung wäre, weil sie gut anwächst und nicht abgestoßen wird.

    "Die Fremdhauttransplantation ist deswegen eingeführt worden, weil man in der ersten Phase, wenn die Patienten in einem schlechten Allgemeinzustand sind – sie haben nicht mehr genügend Körperflüssigkeit, sie haben eventuell schon Aussaat von Bakterien – dann wird man nicht unbedingt noch eigene Haut entnehmen, weil man damit die Körperoberfläche, die unbedeckt ist, noch vergrößert, und in solchen Fällen kann man durch aufgearbeitete Fremdhaut, also Leichenhaut zum Beispiel, diese Areale abdecken, und wenn sich der Patient erholt hat, das austauschen gegen Eigenhaut."

    Eine solche Behandlung mit Leichenhaut ist sehr teuer. Ein einziger Verbandswechsel kostet leicht 20.000 bis 30.000 Euro. Im Jahr summieren sich die Kosten für Leichenhaut in Bochum auf 400.000 bis 800.000 Euro. Wie andere deutsche Zentren für Brandverletzte bezieht das Bergmannsheil die benötigte Leichenhaut überwiegend von der gemeinnützigen Euro Skin Bank im niederländischen Leiden. Kaum eine deutsche Klinik gewinnt bislang selbst die Haut von Verstorbenen. Warum nicht? Hans-Ulrich Steinau:

    "Man muss sich vorstellen, dass eine Familie, die gerade Abschied nimmt von ihrem geliebten Menschen, zuerst gefragt wird, wie sieht’s aus, wir brauchen unbedingt Nieren, und dann: Wir brauchen eventuell auch die Leber und das Herz, und dann kommt noch einer und sagt: Wir haben Schwerbrandverletzte da, ich brauche dringend den gesamten Rücken, und wir müssen ihm die Haut abziehen - das ist, glaube ich, eine ziemlich starke Belastung für die Angehörigen und insofern sind die Wege, um an die Hauttransplantation zu gelangen, schon schwierig."

    Die Männer im Sektionssaal der Hamburger Rechtsmedizin arbeiten zügig. Der Arzt Christian Braun hatte vor der Gewebeentnahme mit einem Angehörigen der Toten telefoniert. Der hatte eingewilligt. Der linke Oberschenkelknochen ist herausgelöst. Es folgt die Kniescheibe.

    "So, jetzt sieht man hier die Menisken und die Kreuzbänder, vorderes Kreuzband und hinteres Kreuzband, die schneide ich jetzt einfach durch."

    Die Gewebeentnahme ist in Hamburg straff organisiert. Bereits seit 2006 kooperiert das rechtsmedizinische Institut mit einem gemeinnützigen pharmazeutischen Hersteller in Berlin, dem Deutschen Institut für Zell- und Gewebeersatz – kurz DIZG. Das DIZG bekommt von der Hamburger Rechtsmedizin Knochen, Muskelhüllen, Haut und Sehnen geliefert. Die Sehnen werden zu sterilisierten Produkten verarbeitet. Verwendung finden sie vorwiegend in der Sportmedizin. Wenn zum Beispiel ein Kreuzband gerissen ist, kann es mit Hilfe einer Leichensehne geflickt werden. Allerdings gibt es auch die Möglichkeit, das Kreuzband durch eine Sehne aus dem Bein des Patienten selbst zu ersetzen.

    "Die Verwendung von körperfremdem Material wie zum Beispiel Sehnenmaterial von Organspendern hat anfangs eine kurze Euphoriephase erlebt."

    Oliver Dierk ist Orthopäde und Unfallchirurg in Hamburg. Er betreut unter anderem die Bundesligafussballer des Hamburger Sportvereins.

    "Ursprünglich haben wir uns erhofft, durch den Wegfall der Entnahmeproblematik am selben operierten Bein einen Vorteil zu gewinnen, es hat sich aber im weiteren Verlauf gezeigt, dass weder dieser Wegfall der Entnahme ein Vorteil ist, noch die Sehneneigenschaften des Spendermaterials einen Vorteil bringen. Mittlerweile sind die Ergebnisse eher ernüchternd, und man sollte das nicht als Standardverfahren, sondern nur in Notfällen verwenden."

    Dierk ist Spezialist für Kreuzbandrisse. Solche Verletzungen bedeuteten für einen Spieler früher oft das Karriereende. Auch heute noch ist ein Kreuzbandriss gravierend - die Verletzten fallen in der Regel für sechs Monate aus. Danach aber schaffen viele ein Comeback und spielen so stark wie zuvor. Dierk:

    "Der goldene Standard ist die Verwendung von körpereigenem Sehnenmaterial, dazu gibt es grundsätzlich drei Spenderareale: Das eine ist die Innenseite des Oberschenkels, dort werden zwei Sehnen entnommen und anschließend als Kreuzband transplantiert; die zweite Variante ist die Verwendung der Kniescheibensehne mit Verbindung von zwei Knochenblöcken, und die dritte Variante ist die Verwendung der Oberschenkelmuskelsehne mit Verbindung von einem Knochenblock."

    Kraftmessungen haben gezeigt: Die Muskulatur eines Patienten, der eine körpereigene Sehne verpflanzt bekommen hat, ist nach der Rehabilitation so stark wie zuvor. Hingegen werden die vermeintlichen Vorteile einer Leichensehne oft durch mittel- oder langfristige Fehlschläge erkauft. Dies belegte eindrucksvoll eine Studie unter Federführung von Ottmar Gorschewsky, Chefarzt der Sportorthopädie Bern und Vizepräsident der Deutschen Vereinigung für Orthopädische Sporttraumatologie. Das Team um Gorschewsky operierte 265 Patienten mit einem Kreuzbandriss. Die eine Hälfte bekam eine Leichensehne der Firma Tutogen Medical GmbH verpflanzt, die andere Hälfte wurde mit körpereigenem Material versorgt. Bereits zwei Jahre nach der Operation war bei 20 Patienten aus der Gruppe mit Fremdtransplantat die Sehne erneut gerissen, die monatelange Rehabilitation somit vergebens. Nach sechs Jahren war dies in der Gruppe mit Fremdtransplantat bei nahezu der Hälfte der Studienteilnehmer der Fall, die noch erfasst werden konnten. In der anderen Gruppe waren hingegen nur sechs Prozent betroffen. Überdies war die Leichensehne weitaus häufiger ausgeleiert als die körpereigene. Solche Ergebnisse sind den Herstellern selbstverständlich bekannt. Und sie bekommen auch die Konsequenzen zu spüren. DIZG-Geschäftsführer Hans-Joachim Mönig:

    "In der Tat, die Abgabe dieser Sehnentransplantate ist in Deutschland relativ begrenzt, das ist richtig."

    Mönig hat dennoch Kunden gefunden, die seiner Firma die sterilisierten Sehnen abnehmen – und mit den Resultaten zufrieden sind.

    "Relativ häufig verwendet werden diese Sehnen in Griechenland und auch in Südkorea, und in Südkorea haben wir auch nach drei Jahren die Erhebung der klinischen Ergebnisse durchgeführt, um auch hier eine Resonanz von den Nutzern zu bekommen. Und hier sind eigentlich in einem außerordentlich hohen Maße sehr positive Ergebnisse berichtet worden."


    Alloderm is a versatile material that can be used in multiple abdominal wall applications and in a variety of surgical techniques as onlay, underlay or interpositionally. Alloderm is increasingly utilized in challenging hernia repair.

    Ein Video von der Website des amerikanischen Herstellers LifeCell Corporation in Branchburg, New Jersey. Geworben wird für Alloderm, jenes Produkt aus Leichenhaut, das auch benutzt wird, um Falten aufzufüllen und Lippen zu vergrößern. Diesmal geht es allerdings um eine andere Verwendung: Brüche in der Bauchdecke sollen mit Hilfe von Alloderm geschlossen werden.

    "In den USA in die Mode gekommen ist jetzt ein neues Netz, das aus Leichenhaut produziert wird, speziell aufgearbeitet und zur Verstärkung der Bauchwand eingesetzt wird."

    Waldemar Uhl ist Direktor der Klinik für Allgemeine und Viszerale Chirurgie am Josefshospital in Bochum, einem Klinikum der Ruhruniversität. Bauchdecken- oder Narbenbrüche sind eine häufige Komplikation - und damit auch ein großer Markt. In Deutschland werden jährlich rund 500.000 Menschen wegen eines Bruchs operiert. Das hierzulande übliche Standardverfahren wurde über viele Jahre erprobt. Uhl:

    "Man muss den Bruch versorgen, das heißt die Eingeweide in den Bauch wieder zurückdrängen und dann die Bauchwand so verstärken, dass nicht wieder ein Bruch entsteht. Dazu eignen sich Netze, die man in die Bauchwand einlegt, um die Bauchwand zu verstärken... Das sind Netze aus Kunststoff, der Kunststoff heißt Polypropylen. Das ist sicher Fremdmaterial, diese Kunststoffnetze sind aber vom Material her schon seit über 20 Jahren geprüft in der Anwendung beim Patienten, zum Beispiel Gefäßprothesen, die man einlegt bei speziellen Problemen, oder Gefäßersatz. Das sind auch diese Materialien, die gut integriert werden, ohne große Fremdkörperreaktion."

    Alloderm has the natural elasticity of human skin…

    Alloderm besitze die natürliche Elastizität menschlicher Haut, erklärt das Video der LifeCell-Corporation, und ein handtellergroßes, weißliches Stück Gewebe rückt ins Blickfeld der Kamera.

    Alloderm creates the perfect environment for tissue regeneration which benefits to you and your patients with fewer complications resulting in improved outcomes.

    Das Transplantat schaffe die perfekte Voraussetzung für den Wiederaufbau von Gewebe, bei speziellen Bruchoperationen etwa. Die Patienten hätten weniger Komplikationen und bessere Resultate – verspricht die Produktwerbung. Waldemar Uhl:

    "Diese Verwendung der Netze halte ich für sehr problematisch, weil zurzeit keine großen Erfahrungen damit vorhanden sind. Wir wissen zum Beispiel nicht, wie der Körper die veränderte Haut in den Körper integriert, welche Fremdkörperreaktion passiert und wie stabil diese Haut diese Bauchwand verstärkt, davon haben wir noch gar keine Kenntnis, keine Untersuchungen diesbezüglich."

    Für den deutschen Markt ist Alloderm nicht zugelassen, doch seit 2007 darf hier ein vergleichbares Produkt des Berliner Herstellers DIZG abgegeben werden. Es heißt Epiflex und besteht wie Alloderm aus azellulärer Haut. Epiflex wird nach Angaben des DIZG vor allem eingesetzt, um Haut zu rekonstruieren, etwa nach schwersten Verbrennungen. Hier ist der Nutzen unbestritten. Reüssieren soll es aber auch in der Bauchdeckenchirurgie, dort wo als Alternative eben auch Kunststoff-Netze zur Verfügung stehen. Geschäftsführer Mönig auf Nachfrage. Zitat:

    Der Standpunkt (..) dass die Polypropylen-Netze Standard sind, stimmt natürlich, und diese Netze liefern für die überwiegende Mehrheit aller Bruchoperationen [Übersetzung der Redaktion – im Original: Hernien-Eingriffe] gute und sehr gute Ergebnisse. Es gibt aber auch (..) Indikationen, bei denen müssen diese Netze als sehr problematisch angesehen werden.

    Mönig nennt als Beispiel nicht verschließbare Bauchwunden oder erneute Bruchoperationen. Und er fährt fort, Zitat:

    In den USA liegen für die Behandlung der genannten kritischen Fälle mit humaner azellulärer Haut hervorragende publizierte Ergebnisse vor, die damit den (..) Polypropylen-Netzen klar überlegen sind.

    Doch Waldemar Uhl von der Ruhruniversität Bochum weiß nichts von diesen Studien.

    "In der Medizin verlangen wir immer randomisierte, kontrollierte Studien, das heißt, ich muss dieses Netz gegen den Standard prüfen, bevor ich in den Markt trete und das Produkt für alle Patienten anbiete, das fehlt momentan bei diesen Netzen, die aus menschlicher Haut produziert werden."

    "Mein Name ist Roland Hetzer. Ich bin der ärztliche Direktor des Deutschen Herzzentrums Berlin und befasse mich mit Herzchirurgie und Transplantation, und im Rahmen der Transplantation betreiben wir seit 1988 eine sogenannte Homograft- Klappenbank, eine Bank, in der vor allem menschliche Herzklappen gelagert werden, um sie später zu transplantieren."

    Roland Hetzer ist einer der renommiertesten deutschen Herzchirurgen und ein Pionier in der Transplantation von menschlichen Gefäßen und Herzklappen. Patienten, denen eine solche Operation bevorsteht, sind oft lebensbedrohlich erkrankt. Hetzer:

    "Am meisten verwendet wurden sicherlich Aortensegmente, nämlich als Aortenersatz bei infizierten Prothesen. Der Patient hat meinetwegen eine Aortenprothese. Wenn die sich infiziert, dann ist das eine ziemlich prekäre Situation. Man muss sie dann wechseln. Nur womit wechseln? Wieder mit einer künstlichen Prothese? Die infiziert sich auch gleich wieder. Das einzige, was zu einer Ausheilung führen kann ist eine menschliche Aorta."

    Der Bedarf an Gefäßstücken von Leichen wird in Deutschland auf rund 500 jährlich geschätzt. Nicht nur, wenn sich ein Gefäß entzündet hat, ist menschliches Gewebe unter Umständen lebensrettend. Auch die gefürchtete Endokarditis, eine Entzündung der Herzinnenhaut, heilt in der Regel nur aus, wenn eine menschliche Herzklappe verpflanzt wird. Roland Hetzer:

    "Dieses natürliche Gewebe scheint offenbar die Eigenschaft zu haben, tatsächlich zu einer Ausheilung beizutragen, ohne selbst durch die Infektion zerstört zu werden."

    Lebensbedrohliche Komplikationen wie Endokarditis sind allerdings selten. Nur wenige hundert der jährlich rund 15.000 in Deutschland verpflanzten Herzklappen stammen von menschlichen Spendern. Viel häufiger werden mechanische Klappen oder biologische Prothesen vom Rind oder Schwein transplantiert. Dass menschliche Herzklappen so selten verpflanzt werden, liegt nicht nur daran, dass sie anders als Prothesen lediglich in beschränkter Zahl verfügbar sind. Hetzer:

    "Ich glaube, dass diese Homografts hinsichtlich ihrer Haltbarkeit gegenüber tierischen Klappen keinen Vorteil bieten. Die können ja von einem älteren Menschen sein oder von einem jüngeren sein, die können schon ein bisschen Sklerose aufweisen oder nicht, die können von der Größe passen oder nicht. Das ist anders als bei diesen vorgefertigten biologischen Prothesen. Diese biologischen Prothesen sind industriell hergestellte, optimale Substitute, die nur nach bestimmten Kriterien entnommen werden und nach sehr stringenten Qualitätskriterien ausgesucht werden."

    Der menschliche Körper hat eine besondere Qualität. Seine sterblichen Reste werden verarbeitet und gehandelt, und doch ist die Leiche keine Ware. Welche Zwecke rechtfertigen eine Gewebeentnahme? Und wo dienen die Transplantate eher der Lifestyle-Medizin oder schmücken die Bilanzen der Hersteller? Fakt ist: Derzeit fehlt der Überblick. Und es fehlt an Regeln, die den Einsatz von Gewebetransplantaten auf medizinisch sinnvolle Zwecke beschränken. Keine einfache Situation für Ärzte, potentielle Spender - und Patienten. Ingrid Schneider:

    "Ich finde es problematisch zu sagen, ich habe einen Anspruch darauf, Teile aus dem Körper eines anderen Menschen implantiert zu bekommen! Ich meine, dass es kein entsprechendes Recht gibt. Es kann höchstens einen Wunsch geben, aber es gibt keine Pflicht von uns, anderen Menschen Körperteile zu spenden."

    Im Sektionssaal des Rechtsmedizinischen Instituts der Universitätsklinik Hamburg macht sich der Präparator Jürgen Brillinger dran, den Leichnam der 90-jährigen Frau für die Bestattung herzurichten. Brillinger:

    "Da mach ich jetzt ein Stück Holz rein, polstere das noch ein bisschen aus mit Zellstoff und dann vernäh ich das vernünftig, dass man die Dame dann auch dem Bestatter übergeben kann, und dann wird sie anschließend, wenn sie fertig ist, dann wird sie auch noch mal gewaschen, dass soweit keine Blutrückstände mehr vorhanden sind, denn es besteht ja immer noch die Möglichkeit, dass die Dame von den Angehörigen noch mal besichtigt wird, und desto sauberer die Dame übergeben wird, desto besser."