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Der widersprüchliche "Kronjurist des Dritten Reiches"

Carl Schmitt gilt als ein wortgewaltiger Klassiker des politischen Denkens. Zugleich aber gibt es kaum einen deutschen Staats- und Völkerrechtler, der umstrittener wäre als er. Er bescheinigte dem NS-System, rechtlich legitimiert zu sein, und fand auch nach dem Ende des Krieges nie ein bedauerndes Wort zum Holocaust. Was macht diesen Juristen so interessant? Der Journalist und Autor Christian Linder hat versucht, das herauszubekommen.

28.04.2008
    Schon auf den ersten Seiten erhält Jürgen Habermas das Wort: Dieser Carl Schmitt habe, wie Martin Heidegger, eine radikale "Wendung gegen den Humanismus" vollzogen; ein tiefes Unbehagen an der Tradition der Aufklärung habe ihn angetrieben, eine "geisteselitäre Abneigung" gegen Parteienstaat, Demokratie, Öffentlichkeit und Diskussion. Ziemlich zwangsläufig sei ihm, wie auch Heidegger, Adolf Hitler zum Schicksal geworden.

    50 Seiten weiter auf dieser an Windungen und Widersprüchen reichen "Reise ins Carl Schmitt Land" erklärt der französische Philosoph Jacques Derrida, dass man den "Kronjuristen des Dritten Reiches" mit seiner furchtbaren Freund/Feind-Theorie auch ganz anders sehen könne: als "Wächter", der die Stürme und Erschütterungen des 20. Jahrhunderts antizipiert habe, die Umwälzungen des "historischen Feldes und des politischen Raums". Und nicht nur das:

    Vielmehr hat dieser "Wächter" auch ein größeres Gespür als viele andere für die Zerbrechlichkeit, die Ungesichertheit der Strukturen, der Grenzen und Axiome besessen, die er um jeden Preis schützen, restaurieren und "bewahren" wollte.

    Einen "Sprachmachtmenschen" nennt ihn Christian Linder, eine "Begriffsmaschine als Präzisionswunderwerk". Und selbst zahlreiche Gegner haben Carl Schmitt unumwunden zum bedeutendsten deutschen Staatsrechtler des 20. Jahrhunderts nobilitiert. Das ist erstaunlich, denn seine politisch-juristischen Grundbegriffe - staatliche Allmacht, Freund und Feind, der Ausnahmezustand und die rechtsetzende Gewalt der Entscheidung - sind von bestürzender, wenn auch stählern funkelnder Simplizität. Sie konstituieren ein "fundamentalistisches Reich" ...

    ... dessen Machthaber nicht zurückschrecken vor der Vernichtung des 'seinsmäßig' Anderen; ein gegen Interventionen von außen geschütztes Terrorsystem, das Sicherheit und Schutz nur seinen Parteigängern gewährt, die zugleich Brüder im Glauben sein müssen.

    So hat die Philosophin Ruth Groh in einer eindrucksvollen Studie die Konsequenzen des Schmittschen Denkens auf den Begriff gebracht.

    Carl Schmitt: politischer Publizist und Rechtsprofessor in der ungeliebten Weimarer Republik, ab 1930 Verfechter eines repressiven Präsidialsystems, ab März 1933 Mitglied der NSDAP, Preußischer Staatsrat während der Hitler-Diktatur, 1936 auf Betreiben der SS als "Opportunist" entmachtet, bis an sein Lebensende 1985 fanatischer Rassist und Antisemit ... Was macht diesen furchtbaren Juristen so interessant, dass, wie Linder meldet, noch heute "im Durchschnitt pro Monat irgendwo auf der Welt ein neues Buch" über ihn erscheint?

    Ist es, wie Linder meint, sein "Talent als Rollen- und Maskenspieler", das ihn zum blendenden politischen Autor prädestinierte, ist es seine überragende humanistische Bildung, die ihn zum Sprachakrobaten und schließlich zum eigenen Mythos werden ließ? War Carl Schmitt womöglich eher Künstler denn Rechtsgelehrter, ein radikaler Träumer und Utopist, verkleidet als Staatsrat, der Hitlers Ermächtigungsgesetz begrüßt und die Nürnberger Rassengesetze als "Verfassung der Freiheit" gefeiert hat?
    Dem "Geheimnis seiner Person" setzt sich Christian Linder auf die Spur. Was aber ist an dieser Person so erhaben oder rätselhaft, dass sie bis heute viele Intellektuelle linker wie rechter Provenienz fasziniert? Die Antwort auf diese Frage, die "Reise ins Carl Schmitt Land", verlangt eine eigene Methode.
    Ich wollte nicht den zehntausendeinsten Kommentar über Schmitts Bücher legen und mich an der Zerredung seines Werkes beteiligen, sondern habe versucht, den Blick wieder frei zu machen auf die Texte, indem ich einige Leitideen herausgelöst und durch Überblendungen so wieder zusammengefügt habe, dass Zusammenhänge von Schmitts Denken, Schreiben und Leben aus sich selbst heraus erscheinen.

    So Christian Linders Erläuterung im Nachwort zu den ungewöhnlichen schriftstellerischen Manövern, die er mit seinem Buch unternommen hat. Die intellektuelle Reise in Land des "Kronjuristen" ist virtuos mit einer physischen Reise ins Sauerland verknüpft, in Linders eigene Heimat, in die herben Idyllen des Landstrichs zwischen Plettenberg, Pasel und Finnentropp, wo Carl Schmitt die letzten vier Jahrzehnte seines Lebens verbracht hat. Die äußere Landschaft mit Feldern, Wäldern, Wiesenhängen verhilft der inneren, geistigen dabei keineswegs zum wohlfeilen "Kolorit", sie bietet dem Leser jedoch eine Struktur, die ihn davor bewahrt, sich in den ausgedehnten Zitat-Feldern, die Linder vor ihm ausbreitet, zu verlaufen.

    In der Tat: dieses Buch lässt Schmitts Texte ausführlichst zum Zuge kommen: seine unübersteigbaren Wortgebirge aus Schriften wie "Politische Theologie", "Römischer Katholizismus und politische Form", "Der Begriff des Politischen" und "Der Führer schützt das Recht". Zumal das erste Drittel des Buches liest sich wie ein ausgeschütteter Zettelkasten - fast ehrfürchtig, bescheiden moderierend tritt der Autor hinter die Denk- und Sprachkaskaden seines zwiespältigen Helden zurück. Dabei hat Christian Linder durchaus erzählerisches Geschick zu bieten, gelungene "Überblendungen", auch poetische Kraft:

    ... natürlich gab es auch für ihn, der die Welt als Idee erklärt hatte, die Welt als Mobile, es gab Wolken am Himmel, Wind, Schnee, Licht in einem Zimmer, Bäume, Straßen, das Blau des Meeres, das Erlebnis der Jahreszeiten, Liebe, Tod, Musik, die Form einer Hand, den Geruch eines Körpers, das Gefühl für Haut, die Empfindungen von Schmerzen, den Klang einer Stimme, die Erinnerung an die Zeit der Augen, die sich öffnen.

    Das ist - oder scheint zumindest - Empathie in reinster Form: auch dort, wo die Zitate eine entlarvende Funktion haben, wird ihrem Urheber der rote Teppich ausgerollt, verschmelzen die hochfahrenden, nicht selten unerträglich elitären Litaneien Schmitts zu einem "Streaming" von exzellenter Sprachkunst, aber auch ermüdender Monotonie.

    Wären da nicht die gewitzten Machinationen, die Linder in Szene setzt - sei es, dass er sich selbst als Akteur einschaltet, um mit dem greisen Schmitt durchs Sauerland zu wandern und fiktive Gespräche zu führen; sei es, dass er zwei konservative Publizisten und Schmitt-Verehrer der Nachkriegsjahrzehnte, Rüdiger Altmann und Johannes Gross, als Studenten mit dem Meister plaudern und ergriffen seinen egomanen Monologen lauschen lässt.

    Neben den aus den Protokollen der Nürnberger Prozesse gefilterten Dialogen, die Schmitt mit dem Vertreter der Anklage Robert Kempner führte, und zahlreichen Fundstellen aus dem Nachlass sind es gerade diese "Überblendungen" ins Fiktionale, die dem Leser Authentisches, nämlich deutsche Zeitgeschichte und ihre Abgründe vermitteln.

    Warum aber hat sich dieser brillante Kopf, fragt Linder endlich nach 300 Seiten, 1933 für die Nationalsozialisten entschieden? Hatte er nicht noch 1932 mit seiner Konstruktion eines autoritären Präsidialregimes versucht, Hitlers Machtantritt um jeden Preis zu vereiteln? Abermals erfindet der Autor eine kühne Fiktion, um diese Fragen in aller Breite zu verhandeln. Inmitten düsterer Ruinen auf dem sauerländischen Schwarzenberg lässt er Freunde und Gegner Carl Schmitts über seine intellektuellen Verdienste und Verbrechen debattieren. Und wieder lässt er uns durch eine Zitaten-Landschaft wandern, dabei zeigt er Gespür für Dramatik, für die scharfsinnige Kontroverse, den leidenschaftlichen Disput.
    Die Frage aller Fragen schließlich, so sagt der "Kronjurist" selbst 1972, sei die "nach der Legalität der Machtergreifung".

    Diese hing mit dem unheimlichen Problem des "politischen Mehrwerts" der formallegalen Macht und des Machtbesitzes zusammen. Das Gesetz ist ein Funktionsmodus - Sie können es den Funktionsmodus der Bürokratie nennen. Was ich hätte tun müssen als Jurist, habe ich auf meine Weise getan - aber erst nach dem Ermächtigungsgesetz, nicht vorher. Das war der echte Rubikon - dieses Problem der Legalität.

    er Jurist muss die Welt, wie sie ist, legitimieren - so definiert später, 1985, der jüdische Religionsphilosoph Jacob Taubes Carl Schmitts schauriges Geschäft. Nach dem Ermächtigungsgesetz war kein Halten mehr. So kam es im August 1934 zu jener Schrift "Der Führer schützt das Recht", die explizit die im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre im Auftrag Hitlers erfolgten Erschießungen rechfertigte. Der Fanatiker des positiven Rechts mutierte zum Kronjuristen einer mörderischen Diktatur. Für Christian Linder ein logisches Ergebnis der Freund/Feind-Theorie.

    Diese Formel, erlebt und gesehen vom "Ausnahmezustand" her, ist verbunden mit der Kategorie der Entscheidung. Dezisionismus verstanden auch als intellektuelles Verhalten, mit dem man der Welt und den Dingen gegenübertritt in dem Wissen, dass alles Leben eine Erfindung ist. Das Recht ist folglich etwas Beliebiges, das durch Entscheidungen entsteht.

    So konnten die Nationalsozialisten mit ihrem bedeutendsten Juristen einfach sagen: Die Rechtsquelle ist Adolf Hitler. Punkt.

    Zu einem erhabeneren Fazit gelangt der Autor gegen Ende seiner langen Reise: Schmitt sei, schlicht und ergreifend, Gnostiker gewesen. Er habe an das "dualistische Prinzip" geglaubt, an den ewigen Kampf zwischen Licht und Finsternis in der Welt, in der Geschichte, in jedem einzelnen Menschen.

    Es besteht also weiterhin Forschungsbedarf. Schon im nächsten Monat erscheint ja, nach Linders Hochrechnung, wieder ein Buch über Carl Schmitt.

    Klaus Kreimeier war der Rezensent des Buches "Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt Land" Von Christian Linder. MSB Matthes & Seitz in Berlin hat das 478 Seiten starke Buch verlegt zum Preis von 34,90 Euro.