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Der Wunsch, unbeachtet zu sein

Mehrfach schon hatte der Suhrkamp Verlag eine Bildbiografie über den Schweizer Schriftsteller Robert Walser angekündigt, doch immer wieder war das Erscheinen aufgeschoben worden. Jetzt ist es da: ein von Bernhard Echte, dem unermüdlichen Walser-Entzifferer, in langer Arbeit und mit einiger Findigkeit zusammengetragener Prachtband. Das Warten hat sich gelohnt.

Von Holger Noltze | 02.02.2009
    "Dieses Buch erzählt nicht von der Einsamkeit des Schreibenden an irgendeinem Mansardentisch, von der Kälte der ungeheizten Kammer im Winter, von den Selbstzweifeln an den Nachmittagen des völligen Sinnlosigkeitsgefühls, von den Kopfschmerzen am Tag nach verzweifelten Trinkwanderungen, ja, von ganzen depressiv im Bett verbrachten Tagen, von der Energie, die Walser dennoch über all die Jahrzehnte aufbrachte, sich unverdrossen ein ums andere Mal an den Schreibtisch zu zwingen und in immer neuer Weise davon zu dichten, dass das Leben ein Segenswort sei."

    Bernhard Echte im knappen Vorwort zu diesem über fünfhundert Seiten schweren Band.

    "Das Buch, so mag es scheinen, zeigt das Wesentliche dieser Biographie also gerade nicht, kann es nicht zeigen, denn dieses Leben ging in einem Maß im Schreiben auf, wie man es bei kaum einem anderen Autor der Literaturgeschichte kennt."

    Robert Walser zählt zu den am wenigsten abgebildeten großen Schriftstellern der Moderne. Nicht mehr als neun Fotografien zeigen den Dichter, bevor er 1929 in den Anstalten Waldau, später Herisau der Welt abhanden kam. Das ist wenig Stoff für eine "Bildbiographie"; hatte aber wohl Methode: "Ich wünsche unbeachtet zu sein", schreibt er in einem Prosastück in eigener Sache, was ihm nicht wenig gelungen ist.

    Noch 1925, als Herr von 47 Jahren, schickt er auf Anfrage der "Literarischen Welt" ein zwanzig Jahre altes Jugendfoto. So kam es, dass der Autor auch bei einer öffentlichen Lesung, Ende 1920 im "Lesezirkel Hottingen" eben doch nicht las, sondern inkognito im Publikum sitzen und dem Vortrag seiner Texte durch einen Redaktor der "Neuen Zürcher Zeitung" zuhören konnte.

    Erst 1928, zum 50. Geburtstag, besucht ihn der Journalist Walter Kern in seiner Berner "Mietsbude" und knipst den schwer rotgesichtigen Dichter am Tisch sitzend. Dass Robert Walser dennoch zu den Bildikonen der neueren Literaturgeschichte wurde, liegt an den Aufnahmen, die sein Mäzen und Vormund Carl Seelig auf den gemeinsamen Spaziergängen in der Umgebung der psychiatrischen Klinik Herisau am Fuße des Säntis gemacht hat: Walser im Schneetreiben, mit Hut, im Anzug mit Einstecktuch und zusammengeklapptem Regenschirm, Walser mit Zigarette im Mundwinkel, von der Seite im Gegenlicht fotografiert, wie er am Bahnhofskiosk in einem Band blättert. Seeligs Bilder zeigen einen traurigen, würdigen älteren Herrn, von dem man kaum annehmen würde, was der Krankenbericht der Psychiatrie so vermerkt:

    "Einsilbig interesselos beim Papierverlesen… alles was er von sich gibt, zerfällt in nichtssagende Bröckel. Nur eine oberflächliche Schicht wird sichtbar, ob ihn drunter was bewegt, kann man weder aus den Äusserungen, noch aus der ausdrucksarmen Mimik erfahren."

    Man liest das Schreibmaschinenblatt aus der Anstaltsbuchführung, man versucht sich – vergeblich - in der Entzifferung der Winzigschrift der späten Walserschen "Mikrogramme": Bleistiftspuren auf weißem Papier: fast wie jene letzten sechs Schritte im Schnee, die auf den letzten Fotos von Robert Walser zu erkennen sind, die der Herisauer Polizist von dem am Weihnachtstag 1956 durch Herzschlag hingestreckten Dichter gemacht hat: auf dem Rücken liegend, die Linke ausgestreckt, der Hut ein wenig weitergerollt.

    "Derart ging ich also von den Menschen fort… Es schneite"

    Echte setzt ein paar Zeilen aus Walsers Prosastück "Eine Weihnachtsgeschichte" unter das Bild.

    "Es schneite, und durch das liebe dichte Schneien klangen die Abendglocken. Die Stadt war wie ein Märchen. So süß und so weich flog es herab, das wirbelnde Gewimmel. Eine Schneeflocke flog mir auf den Mund, als fliege mir ein Kuß zu. Hut und Mantel waren bald schneeweiß ... "

    So führt der Herausgeber Bild und Text zusammen, so führt er noch häufiger und gelegentlich verblüffend Literatur und Lebensdokument zusammen. Darf der das? Er darf, schon weil die Mühen der Beschaffung all der zeitgenössischen Bilder von Orten, Papieren und Menschen, die im Leben Walsers etwas zu bedeuten haben, enorm gewesen sein müssen, weil Echte diese Lebensspuren eines Fast-Unsichtbaren mit ebensoviel Akribie behandelt, wie er seinerzeit die Mikrogramme aus dem "Bleistiftgebiet" dechiffriert hat. Er darf es, weil sich die Bilder und die Literatur gegenseitig so faszinierend erhellen: Man kann besichtigen, wie die "Reklameuhr" aussah, die im Roman "Der Gehülfe" der Erfinder Tobler erfunden hat, im wirklichen Leben aber Walsers Wädenswiler Dienstherr Dubler. Auch den "Schützenautomat".

    Man darf in den Verzeichnissen der unteren Chargen der Zürcher Kantonalsbank anno 1904 nicht nur den des Schreibgehilfen Walser, sondern auch jener Kollegen finden, deren Namen sehr nebenbei Literatur wurden, weil Walser sie in seinen "Prosastückli" verewigte. Man kann den berühmten "Spaziergang" an Originalschauplätzen abschreiten. Man sieht die gefälschte Unterschrift, die Robert Walsers älterer Bruder Karl in die opulente Erstausgabe der "Gedichte" eintrug:

    Robert war die Edition offenbar zu luxuriös geraten. Überhaupt fällt hier nebenbei ein schönes Seitenlicht auf den bedeutenden Maler, Illustrator und Bühnenbildner Karl Walser. Man liest auch, staunend, wie 1936 ein Nachdruck von "Der Gehülfe" der "Schweizer Bücherfreunde St. Gallen" den Roman mit buntem Aufkleber als "Ein prächtiges Ferienbuch" anpreist.

    Ein prächtiges, strenges, genaues Buch ist Bernhard Echte gelungen, ein riesiger Bild- und Text-Kontinent für Walserdetektive. Auf Seite 85 findet man eine kleine Sensation: "Ausschnitt eines Briefes von Robert Walser an seine Schwester Fanny, Mai/Juni 1904." Auf dem Abriss ist ein millimeterwinziger Abschnitt schon jener Mikroschrift zu erkennen, mit der sich Walser dann Jahre später aus der Welt herausschreiben sollte. So etwas muss einer sehen können!

    Bernhard Echte (Hrsg.): Robert Walser. Sein Leben in Bildern und Texten
    Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 511 Seiten, 49 Euro