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Der Zauber des Tango

Wenn man nur genau hinhört, klingt der Tango nicht nur - er spricht auch. Er erzählt eine Geschichte, seine Geschichte, die sich mit der Geschichte der Tänzer verschränkt. Ja, so muss es sein, die Trauer des Tänzers spiegelt sich im Tango, und sie spiegelt sich nicht nur, sie verwandelt sich in Worte, Worte, die der Tango dem Tänzer ins Ohr flüstert, mit denen er ihn verzaubert und im besten Fall sogar ermutigt. Ja, der Tango spricht, und das kann man in Elsa Osorios Roman "Im Himmel Tango" ruhig wörtlich nehmen.

Von Kersten Knipp | 31.05.2007
    Über mehrere Generationen erstreckt sich ihre Geschichte Argentiniens im 20. Jahrhundert. Und weil das keine sonderlich glückliche Geschichte war, spiegelt sie sich im Tango, der großen Musik der Melancholie. Und da der Tango sprechen kann, kommt er bei Osorio auch direkt zu Wort, als eigenständiger Protagonist, anders als die anderen aber als einer, der mit Unsterblichkeit gesegnet ist. Denn Tango, das ist Nostalgie. Aber auch Zukunft, jedenfalls der Glaube an eine Zukunft. Und diesen Glauben brauchte man dringend zu Beginn auch des 21. Jahrhunderts, als Argentinien in eine der schlimmsten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte stürzte. In dieser Zeit, berichtet Osorio, besann man sich auch des Tangos wieder neu.

    " Vielleicht war es die Verzweiflung, der Umstand, dass Argentinien in eine große Krise fiel, nicht nur in eine wirtschaftliche, sondern auch in eine Wertekrise, und wo alle Menschen spürten, dass etwas verloren gegangen war. Und was ich in jener Zeit in argentinischen Tangolokalen immer wieder hörte, war dieser Satz: Das Beste ist, dass wir hier an nichts anderen denken müssen als an den Tanz. Zugleich war das eine Suche nach Identität - und auch der Versuch, vorwärts, in die Zukunft zu schauen. "

    Und doch setzt "Im Himmel Tango" nicht in Buenos Aires ein, sondern in der heimlichen Hauptstadt Lateinamerikas: in Paris. Paris, schrieb einmal der argentinische Schriftsteller Julio Cortázar, sei im Grunde eine südamerikanische Metropole. Denn immer blickten die Künstler zwischen Mexiko und Feuerland auf die Stadt an der Seine. Dort suchten sie Inspiration - und dort starteten sie ihre Karrieren. Garcia Márquez, Vargas Llosa, Alejo Carpentier, um nur einige zu nennen: Alle lebten und arbeiteten sie in Paris, der Stadt, die Schutz vor den politischen Exzessen in der Heimat bot. Elsa Osorio selbst lebte lange Jahre in Madrid, erst vor kurzem kehrte sie nach Buenos Aires zurück. Aber wie nimmt man sein Land aus der Ferne wahr? Nicht auszuschließen, dass man empfänglich wird für seine stärksten Symbole, sich auf die Dinge besinnt, die auf der Hand liegen; und wenn nicht in der Wirklichkeit, so doch - vielleicht sogar umso mehr - in der Kultur. Man könnte auch sagen: im Klischee. Einem Klischee von gestern. Natürlich wird der Tango auch heute noch getanzt. Aber er wirkt doch seltsam entrückt, ein wenig wie aus der Zeit gefallen. Dabei ist er auf das engste mit der argentinischen Geschichte verwoben. Und das, meint Osorio, hat sie auch bewogen, die Geschichte ihres Landes im Spiegel des Tangos zu erzählen.

    " Die Idee war, die Geschichte einer Stadt durch die für sie typische Musik zu erzählen. Der Tango hat eine ganz besondere Entwicklung der Stadt begleitet, denn Buenos Aires gründet auf einem gewaltigen Einwandererstrom, der die Stadt von ungefähr 1880 bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts gewaltig wachsen ließ. Und der Tango ist jene Musik, die von den Menschen am Rande dieser Stadt kommt, die dann aber zum Kennzeichen für die gesamte Stadt und die in ihr lebende Gesellschaft wurde. So erlaubt mir der Rückgreif auf den Tango, in dem Roman ganz unterschiedliche Menschen zusammenzuführen. "

    Die Geschichte, wie gesagt, beginnt in Paris. Hier lebt Ana, Tochter eines argentinischen Oppositionellen, der während der Militärdiktatur lange Jahre im Gefängnis saß. Mit Argentinien, dem Land des Leides, will sie darum nichts zu tun haben, zunächst auch dann nicht, als ein junger argentinischer Filmemacher sie dazu bewegt, an einer Dokumentation über den Tango teilzunehmen. Schließlich lässt sie sich überzeugen oder besser: beginnt sich für das Projekt zu interessieren, um schließlich davon nicht mehr loszukommen. Und so entfaltet sich der Roman, führt in das lange argentinische Jahrhundert, dem er in immer neuen Verästelungen folgt, darin, haben Kritiker behauptet, der emotionalen Vielschichtigkeit und den harmonischen Verschachtelungen des Tangos folgend. Aber dass die Geschichte in Paris beginnt, im Milieu der ehemaligen Flüchtlinge: Dieser Umstand ist im Gesamtwerk von Osorio von einiger Bedeutung. Vor einigen Jahren erschien ihr Roman "Mein Name ist Luz", der die Geschichte einer jungen Frau erzählte, die, geboren in einem Gefangenenlager zur Zeit der argentinischen Militärdiktatur, ihren Eltern geraubt und Anhängern des Regimes zur Adoption überlassen wurde - eine in jener Zeit oft gepflegte Praxis. Luz, so der Name der jungen Frau, wird um ihre wahre Identität und Geschichte betrogen - und macht sich auf, ihre wirkliche Herkunft in Erfahrung zu bringen. Genau dieser Bruch spiegelt sich im Leben vieler Argentinier - und so ist "Im Himmel Tango" auch ein Versuch, an die Geschichte anzuknüpfen, über die Vergangenheit zu sprechen, sich einer historischen Kontinuität bewusst zu werden, die lange Jahre verschüttet war.

    " Ich glaube dass die letzte, wirklich sehr blutrünstige Diktatur den Kindern, den Töchtern und Söhnen ihrer Feinde die Identität geraubt hat. Und das war natürlich ein ungeheurer Bruch in der Identität dieser jungen Menschen. Und natürlich gab es auch eine Generation - meine eigene, ich wurde 1952 geboren, die auf ganz andere Weise zu leiden hatte. In dieser Generation gab es viele so genannte Verschwundene, viele Menschen, die ins Exil gehen mussten. Und das hatte natürlich ganz furchtbare Folgen. Von denen wir uns jetzt aber wieder zu erholen beginnen. "

    So erzählt dieser Roman nicht nur vom Tango, nicht nur von der Musik und denen, die sie schaffen oder sich auch nur von ihr verzaubern lassen. Sondern auch von dem Umständen, die diese Musik erst haben entstehen lassen, also den großen Migrantenströmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die zigtausende Menschen nach Buenos Aires trugen, darunter auch viele Künstler, hochbegabte Künstler zu Teilen, die die krude Musik der Spelunken verfeinerten und zu jenen Höhen trieben, auf denen sie sich heute findet. Wirtschaftsgeschichte und politische Geschichte, die Arbeiterkämpfe, das politische Ringen, die Intrigen im Kampf um die Macht, all dies findet Eingang in den Roman, der so zu einem großen historischen Panorama wird. Aber auch das ist ein Trend: In den letzten Jahren sind eine ganze Reihe historischer Romane erschienen. Horacio Vázques Rial, auch er ein seit Jahren in Spanien lebender Autor, hat dem Tango gleich zwei bestechende Romane gewidmet. Und sein Kollege Cesar Aíra geht noch weiter zurück, bis in die Kolonialzeit, die er in seinem Roman "Die Mestizin" freilich nicht als Idylle präsentiert, sondern als Entstehungszeit des Kapitalismus, der die Menschen seinen Rhythmen unterwirft. Doch historische Romane bergen ein Risiko: Sie können leicht nostalgisch werden. Darauf hat der chilenische Autor Robert Bolaño in einer bestechenden Kurzgeschichte, "Der unerträgliche Gaucho" hingewiesen. Vor den Wirren im zu Anfang dieses Jahrtausend vom Staatsbankrott geplagten Buenos Aires flieht der Protagonist in die Weiten der argentinischen Pampa. Doch die Reise in die vermeintliche Idylle wird zu einer ins kulturelle Niemandsland, ein Land, das oft nicht einmal mehr in der Erinnerung, sondern nur noch in der Phantasie existiert. Genau darum, meint Osorio, arbeitet sie in ihrem Roman auch bewusst mit phantastischen Elementen, verleiht nicht nur dem Tango eine Stimme, sondern auch den Toten.

    " Viele Schriftsteller haben einen Widerwillen, sich über die unmittelbare Vergangenheit zu äußern. Darum mag es jetzt eine Art Renaissance des historischen Romans geben - aber eine Variante, die sehr viel von Jorge Luis Borges hat. Die Autoren suchen die Vergangenheit, aber vielleicht nicht unbedingt die jüngste Vergangenheit. Mir scheint, auch die jüngere Vergangenheit wird sehr bald zum Gegenstand neuer Romanwerke, aber momentan gehen einige Autoren noch weiter zurück, setzen dabei auch phantastische Elemente ein. Auch sie sind ein Ausdruck der Notwendigkeit, die großen geschichtlichen Epochen mit neuen Augen zu sehen. "

    "Im Himmel Tango" beschwört eine oft finstere Vergangenheit und die ihr entsprechende Musik. Vielleicht lässt sich Osorio gelegentlich zu sehr von dieser Melancholie verführen und zu allzu starken Metaphern hinreißen. Aber so ist es eben mit der Kunst: Sie ist verführerisch und setzt bisweilen den kritischen Apparat namens Hirn außer Kraft. Aber so lange das nur ganz selten mal passiert, ist dagegen nichts einzuwenden; denn es zeigt, dass der Tango immer noch lebt, einen Zauber versprüht, der diesem Buch in die meisten seiner Sätze gekrochen ist.

    Elsa Osorio: Im Himmel Tango. Suhrkamp, 505 S., EUR 19,80