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"Des isch kei Kunst"

Die Aufführung von John Cages experimentellen Opern "Europera" drei und vier fand wenig Zuspruch beim Ulmer Publikum. Der Kulturjournalist Jörn Florian Fuchs spricht dagegen von einer dargestellten Genealogie der Operngeschichte mit großem intellektuellen Reiz. Einen weiteren Teil der Aufführung bildete Gerhard Stäblers Stück "Futuressence XXX".

Jörn Florian Fuchs im Gespräch mit Burkhard Müller-Ullrich | 16.06.2012
    Burkhard Müller-Ullrich: "300 Jahre lang schickten uns die Europäer ihre Opern. Jetzt schicke ich sie ihnen zurück", soll der vor 100 Jahren geborene, vor 20 Jahren gestorbene amerikanische Komponist John Cage über seine EUROPERAS gesagt haben. Darin steckt "Your Operas" und natürlich "Europe" und "Operas". Die Nummern drei und vier wurden gerade in Ulm gegeben, ganz ernst und in Abendgarderobe, aber was, Jörn Florian Fuchs, kann, darf, soll man sich darunter eigentlich vorstellen?

    Jörn Florian Fuchs: Das ist eine Vielzahl von mehr oder minder bekannten Opern – Opern, die jeder kennt, aber auch ein paar Raritäten. Die werden nacheinander oder auch parallel gesungen und nicht nur live gesungen, sondern sie werden auch noch in klassischen Aufnahmen dazugespielt, zum Teil in Ulm von Grammofonen …

    Müller-Ullrich: Also das klingt wie mehrere Sender gleichzeitig eingestellt? Nicht wirklich Musik?

    Fuchs: Das ist auf der einen Seite nicht wirklich Musik, auf der anderen Seite ist es aber doch so reizvoll, finde ich, gerade wenn man sich ein bisschen im Bereich des Musiktheaters auskennt und die Klassiker alle parat hat, dass man die in neuem Kontext hört, dass man Bruchstücke hört, dass sie überlagert werden von anderen Werken.

    Der Hintergrund ist, dass John Cage im MS-Dos-Modus noch ein Computerprogramm erstellt hat, einen speziellen Zufallsgenerator, der jeden Abend in jeder Aufführung komplett neu anordnet, wer welche Partie wann singt, wann sich Dinge überlagern und wann auch noch zum Beispiel bestimmte Licht- und Blitzeffekte eingesetzt werden. Das gehört auch noch dazu, sodass man so einen Gesamtraum hat, der immer neu sich zusammensetzt, der überhaupt nicht vorausberechenbar ist, außer dass natürlich die Sänger, die live singen, schon sich vorbereiten und bestimmte Arien lernen. Das geht anders natürlich nicht.

    Müller-Ullrich: Sind Sie da in so eine Quiz-Stimmung geraten? Ist das "Erkennen Sie die Melodie"?

    Fuchs: Ja das ist ein bisschen natürlich auch "Erkennen Sie die Melodie", und dann ist es ein bisschen auch den Ärger, den man spürt, wenn man zum Beispiel eine schöne Wagner-Partie hat, "Lied an den Abendstern", und es wird gnadenlos überbrüllt von Dingen aus den Grammofonen, dann gibt es Stroboskopeffekte, und plötzlich sind wir bei Bellini und Puccini, man wünscht sich so sehr, wie jetzt bei jemand wie Alfred Brendel, der ja nicht mehr Klavier spielt, sondern immer nur erklärt, der spielt dann irgendwie ein paar Takte und hört dann auf, und alle seufzen, spiel halt weiter, und das wünscht man sich auch, dass die einfach weitersingen. Das Einzige, was an diesem Abend komplett festgelegt ist in "Europeras drei", ist, dass es genau eine Stunde zehn Minuten läuft, es gibt einen Timer, und die "Europeras vier" geht genau 30 Minuten.

    Müller-Ullrich: Wo ist denn auf dieser Grenze zwischen Hörtest und Kunstgenuss eigentlich der Sinn?

    Fuchs: Der Sinn? Das ist ja der berühmte Satz von Cage, "Ich habe nichts zu sagen, und ich sage eben genau das". Das ist alles dadaistisch, das ist alles irgendwo ein bisschen Spaß, Guerilla vielleicht auch auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite gibt es so eine Archäologie oder Genealogie der Oper, der Operngeschichte. All das klingt jetzt einfach mal auf ganz neue Weise zusammen, wie wir das eben nie ein zweites Mal hören und wie es wahrscheinlich die meisten auch in Ulm im Publikum in dieser Form nie sich vorgestellt haben, dass sie so was erleben, was dann zu Reaktionen führte wie eine Dame, die nach vorne brüllte in Minute 41, "des isch kei Kunst", und kurzzeitig für ein ziemliches Aufsehen im Publikum dann sorgte.

    Es gab dann auch massivste Abwanderungsbewegungen, was unglaublich schade ist, weil es gab noch ein kleines Stück von Gerhard Stäbler mit dem Titel "Futuressence XXX", und da wurden innerhalb von 20 Minuten futuristische Aktionen zum Beispiel von Marinetti nacheinander arrangiert von dem Operndirektor hier, Matthias Kaiser, in Ulm, ganz brillant, kleine Räume aus Licht, Klang und so Einfällen, dass jemand nach vorne kommt und sagt, ach, angesichts der Unendlichkeit weiß ich überhaupt nicht, ob ich jetzt die Zeitung lesen soll oder mich erschießen, worauf ihm ein Revolver von einer Dame präsentiert wird, den er nicht nimmt, stattdessen geht er einfach von der Bühne ab und es knallt.

    Müller-Ullrich: Jetzt möchten wir gerne mal was hören als Beispiel.

    Fuchs: Natürlich. Da muss ich noch erwähnen, dass es einige sehr gute Sängerbesetzungen in Ulm gab, unter anderem Kwang-Keun Lee, ein Bariton, der hat sich sehr mit Wagner und dem Figaro beschäftigt. Aber wir hören mal in diese gesamte Klangwelt einfach hinein, ein Auszug aus "Europeras drei".

    Fuchs: Da sind also auch noch zwei Pianisten mit an Bord, die natürlich auch nach dem Zufallsprinzip die eine oder andere Liszt-Paraphrase vor allen Dingen spielen. Da schaut dann ab und zu sogar das Erhabene aus der H-Moll-Sonate von Liszt vorbei, wenn ich das richtig identifiziert habe. Also insgesamt hat das, fand ich, einen sehr, sehr großen, abgründigen und auch intellektuellen Reiz. Das Publikum war, ich denke, zu 60, 70 Prozent am Ende dann nicht mehr vor Ort – leider.

    Müller-Ullrich: Das heißt, die haben sich also geärgert, wohingegen Jörn Florian Fuchs offenbar eher Spaß an der Sache hatte. Danke für diese Eindrücke von einer Ulmer Aufführung der EUROPERAS drei und vier von John Cage.