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Des Pfarrers schwarzer Schleier

Regisseurs Romeo Castellucci beruft sich gerne auf die Antike und auf die Poetik des Aristoteles. Auch in seinem neu inszenierten Stück "Le voile noir du pasteur - des Pfarrers schwarzer Schleier" findet er wieder einmal ganz altertümliche Bildwelten.

Von Eberhard Spreng | 16.03.2011
    Ein Zusammenzucken steht am Anfang der Inszenierung, denn ein ohrenbetäubender Lärm setzt unvermittelt ein, der Blick fällt auf ein gewaltiges Bild voller suggestiver Kraft: Ein regelrechtes Gestöber aus schwarzen Flocken wirbelt über die Bühne und verdeckt den Blick auf den Hintergrund. So als hätte das Theater sich selbst in einen undurchdringlichen schwarzen Schleier gehüllt. Wenn dieser sich etwas lichtet, wird im Hintergrund eine Christusabbildung erkennbar, ein fahles Antlitz, vor dem jemand eine schwarze Fahne schwenkt. Nach diesem bildmächtigen Start wird der Text der 1836 veröffentlichten Novelle auf eine Gaze projiziert, aus dem Grollen schält sich die Stimme eines Erzählers, und wo das Theater eben noch eine große Bildinstallation war, scheint es nun zu einem einzigen dröhnenden Rachen zu werden, in dem sich die Worte einer finsteren Parabel formen.
    ..en conséquence de quoi ils exprimèrent tous leur stupéfaction. Êtes-vous sûr que ce soit lui », demanda Goldman Gray au sacristain. Pour sûr, c'est notre bon Monsieur Hooper », répondait le sacristain. La cause de tant d'étonnement peut paraître bien légère.

    Im Theater des italienischen Künstlers werden keine Geschichten erzählt, wird keiner traditionellen Dramaturgie gefolgt, mit Schauspielern, die Figuren entwickeln. Castellucci paraphrasiert die Stoffe für die er sich interessiert und übersetzt sie in eine sinnliche Parallelwelt, in ein Theater der Sensationen. Und wo der finster romantische Text von Nathaniel Hawthorne, über den plötzlich mit einem Gesichtsschleier herumlaufenden Pfarrer die Motive für dieses absonderliche Verhalten letztlich nicht preisgibt, so lassen sich auch in Castelluccis Bilderbogen keine simplen kausalen Zusammenhänge erkennen. Es geht dem Künstler um eine Reflexion über das Verhältnis von Gesicht und Blick. Der einzige Teil des Körpers, der in unserer Kultur unbedeckt bleibt, ist das Gesicht, es ist für Romeo Castellucci der politische Ort unseres Körpers. Und der Ort, in dem unser Blick ein öffentlicher, ein politischer ist, ist das Theater.

    Nach der Symbolik des Anfangs und der ihm folgenden Betrachtung des Textes, als zentralem Material, fällt der Blick des Zuschauers in einen dunkel getäfelten Salon mit einem Schreibtisch und auf einen mit dem Rücken zum Publikum stehenden Schauspieler, der ein Stück schwarze Gaze zurechtschneidet. Aber dieser etwas zeremonielle Realismus, der Pfarrer Hooper's Verwandlung erzählt, wird bald darauf in einem traumbildartigen Surrealismus gebrochen, wenn plötzlich eine gewaltige Lokomotive quer durch den Salon bis zur Vorderbühne geschoben wird.

    Eingefasst sind die Bilder dieses Abends von einem Bühnenportal aus schwarzem Marmor, über dem in antiker Goldschrift je einzelne Begriffe angeleuchtet werden. Und wo die Lektüre von der Überschrift "Vertebrata" begleitet wurde, erscheinen nun, zum Schriftzug "Animalia" einzelne Gestalten auf der Bühne, die eine mannsgroße Glasscheibe neben sich herschleifen. Eine Frau zupft sich schluchzend Haarbüschel strähnenweise vom Kopf. Ein Opfer von Verstrahlung? Die Interpretation ist naheliegend. Ein Mann entkleidet sich, seine Glasscheibe abstützend, mühselig, verletzt sich eine Hand, führt schließlich eine Glasscherbe an seinen After und droht sich eine schlimme Verletzung zuzufügen. Plötzlich wird der Zuschauer brüsk und schmerzhaft auf sich selbst zurückgeworfen. Nein, das will man nicht sehen und Castelluccis Meditation über den Blick im Theater kann an dieser Stelle allzu leicht mit simpler Provokation verwechselt werden. Im letzten Bild sind die Menschen aus der Schöpfung verschwunden, kreist der Blick von Maschinen weltvergessen über die leere Bühne: Es sind drei alte Fernsehstudiokameras. Sie schwenken und fahren durch den Raum, ein Monitor zeigt zuvor schon aufgenommene Bilder; unter ihnen das des leeren Zuschauerraums. In dieser "Tetrapoda" genannten Installation kommt die Evolution an ihr Ende, Vierbeiner sind übrig geblieben, die Menschen sind weg. Von der "Eukaryota", einem Begriff aus der Zellbiologie bis zum Vierbeiner, mit dem hier aber auch Kameras auf ihren drei Stativbeinen gemeint sein können, reicht Castelluccis machtvoll-rätselhaftes Bildertheater, das vom Symbolismus über den Text als Bild, vom Realismus und Surrealismus bis zur Allegorie und Metaphorik reicht. Allesamt Masken des Theaters, auf die hier ein verblüffter, tief beeindruckter aber manchmal auch etwas ratloser Blick des Zuschauers fällt.