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Dessau, Kagel, Stockhausen

Die Oper sei tot, gehe seit dem Krieg ihrem Ende entgegen, hätte seit Richard Strauss keine gute Zeit mehr gesehen. Eine geläufige Antwort, wenn man nach der Oper der Gegenwart fragt. Die neue CD-Box des Deutschen Musikrats, die sich mit Opern der letzten 50 Jahre beschäftigt, dokumentiert Anderes.

Von Frank Kämpfer | 09.05.2004
    * Musikbeispiel: Paul Dessau - aus: "Einstein"

    Zeit und Raum sind relativ und in Veränderung. Der diese Regel erkannt, wünscht sie in schwieriger Situation sich selber zu nutze zu machen: Unbemerkt und auf der Flucht will er entgegen jeglicher Logik noch einmal die Sonne aufgehen sehen – im Deutschland der Nazis, das er anders als seine Kollegen kurz entschlossen verlässt. Komponist Paul Dessau gibt der Titelfigur seiner Oper "Einstein" (und ihrem Sänger Theo Adam) einen musikalischen Begleiter mit auf den Weg: es ist Johann Sebastian Bach, der die Szene in Gestalt einer Triosonate grundiert, und Einstein quasi in Webernscher Kürze eine Abschieds-Arie erlaubt. Der Finalton allerdings fehlt, statt dessen bricht Wirklichkeit ein.

    "Einstein", 1974, zum 80. Geburtstag des Komponisten unter Otmar Suitners musikalischer Leitung uraufgeführt in der Berliner Staatsoper Unter den Linden ist ein Signal. Das Stück erhebt Paul Dessau aus kulturpolitischem Streit in den Rang eines hochkarätigen Opernkomponisten und es belegt, dass ein hochpolitischer Stoff in Ostberlin Anfang der 70er Jahre durchaus kontrovers komponiert werden kann. Denn weniger der Lebenslauf des Physikers, vielmehr der unaufhaltsame Fortgang atomarer Rüstung wird darin thematisiert. Friedensbewegung bleibt ohne Wirkung, der Einzelne ist Spielball anonymer Mechanismen – alle Moral gar wird schließlich zur Farce, wie die groteske Persiflage Wagners und Bachs unüberhörbar belegt. Und noch eines wird im Nachhinein deutlich – "Einstein" (so Booklet-Autorin Daniela Reinhold) eröffnet eine Reihe wichtiger, substanzieller ostdeutscher Opern; Dessaus Erben Goldmann und Schenker, Bredemeyer, Katzer und Heyn melden sich auf dem Theater zu Wort.

    In Deutschland-West heißen die Komponisten theatergeschichtlich bleibender Werke in jener Zeit Henze, Stockhausen, Kagel. Von Letzterem wird 1980 am Staatstheater Stuttgart das Musiktheaterstück "Die Erschöpfung der Welt" uraufgeführt. Hier Bild 1: Zum Ursprung / Einige Taten und Flüche des Herrn.

    * Musikbeispiel: Kagel - aus: "Erschöpfung der Welt"

    Soweit die Eingangs-Szene aus Mauricio Kagels theatraler Aktion "Die Erschöpfung der Welt". Gleichwohl es auf den ersten Blick anders erscheint – weniger eine spektakuläre Provokation ist hier beabsichtigt, als vielmehr Denkanstösse zu geben in einer zunehmend gesicherten Welt. Kagels 11 musikalisch-theatralischen Szenen liegt eine Umdeutung zugrunde. Am Anfang steht statt der Schöpfung Erschöpfung – der Mensch ist nicht schlecht sondern gut – er wehrt sich gegen die göttliche Praxis des Strafens und ist auf Untergang programmiert.

    Das gesprochene Wort steht im Zentrum, Musik ist sparsam und schlicht, meist tonal organisiert und sie birgt diverserlei Anspielungen an traditierte Stile und Formen.

    Auf derselben CD finden sich gleichfalls einige Szenen aus Karlheinz Stockhausens Monumentalzyklus "Licht". Auch dieses Opern-Projekt polarisiert, findet in der Fachwelt begeisterte Anhänger wie auch erbitterte Gegner. Letztere halten die veroperte Schöpfungsgeschichte des Kürtener Meisters für einen politisch-ästhetisch unverzeihlichen Abstieg ins Pseudo-Religiöse – erstere erkennen die Genese des gigantomanischen Werks aus einer einzigen musikalischen Formel als überragende kompositorische Leistung.

    Die hier enthaltenen zwei knapp halbstündigen Ausschnitte wurden im Elektronischen Studio des Westdeutschen Rundfunks produziert. Die Mehrzahl der Aufnahmen in der dem Musiktheater gewidmeten CD-Box der Musikrats-Edition "Musik in Deutschland 1950-2000" entstammt allerdings dem Theaterbetrieb. Gemäß der Projekt-Idee sind nie ganze Werke, sondern nur einzelne Szenen enthalten. Je eine CD belegt das besondere Engagement der Berliner und der Hamburgischen Staatsoper sowie der Münchner Biennale. Andere CDs sind thematisch sortiert: Musikalische Komödien, Künstlerdramen, Opern für Kinder. Letztere Platte hält Ausschnitte aus Kurt Schwaens "Pinocchio", Violetta Dinescu’s "35. Mai" und Willfried Hillers "Peter Pan" bereit. Kinderoper erweist sich in dieser Auswahl als Theater mit substanzieller Musik. Die Komödien, ausgewählt und im Booklet von Ulrike Liedtke betreut, erweisen sich als Werke von zugespitzter Gesellschaftskritik: namentlich Boris Blachers "Preußisches Märchen" und Reiner Bredemeyers "Candide" beschäftigen sich mit immer wieder engen, engstirnigen Zuständen.

    Die von Christiane Tewinkel kommentierte CD "Künstlerdramen" führt zum Teil an kleinere Häuser: hier finden sich Szenen, die ihre Premieren am Staatstheater Saarbrücken, im Berliner Theater im Palast oder gar im Theater Stralsund erlebten. Letzteres bot zwei Jahre vor dem Mauerfall das Forum für die Uraufführung von "Krischans Ende" nach Valentins Novelle "Grabbes letzter Sommer". Das abendfüllende Stück des damals 34jährigen Walter Thomas Heyn konfrontiert zwei Revoluzzer der 1830er Jahre. Das Opus, das Choräle, Volks- und Revolutionslieder und diverserlei Operngeschichtezitiert, barg seinerzeit einigen Sprengstoff: denn Ziegler, soeben aus Amerika heimgekehrt, und Grabbe, der nie seine Kleinstadt verließ, diskutieren das Ausreise-Thema. 'Gehn oder Bleiben’ – die Alternativen ergeben dasselbe: Künstler wie Weltverbesserer haben in engen Welten kein Glück.

    * Musikbeispiel: Heyn - aus: "Krischans Ende"

    Ein Ausschnitt aus "Krischans Ende" von Walter Thomas Heyns – uraufgeführt 1987 am Theater Stralsund mit Reinhard Schmiedel am Pult. Soweit ein kurzes Hineinhören in die 6. CD-Box der Edition des Deutschen Musikrats "Musik in Deutschland 1950-2000", die dem Genre "Neues Musiktheater" gewidmet ist. Erschienen ist die Box beim Label BMG RCA Red Seal – erhältlich sollte sie in jedem gutsortierten Fachgeschäft sein.

    Musik in Deutschland 1950-2000
    Label: BMG
    Labelcode: LC 00316
    Bestellnr.: CD 74321 73629 2