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Detailarbeit am Text hat es schwer

Bücher sind nur in den seltensten Fällen das Produkt eines einzelnen Autors. Wenngleich oft ungenannt, spielt der Lektor eine zentrale Rolle dabei, aus dem Manuskript eine runde, der Veröffentlichung würdige Sache zu machen. Doch das Lektorat steckt in einer Krise, so der Tenor einer von Gunther Nickels herausgegebenen Textsammlung.

Von Klaus Modick | 29.11.2006
    Ein bekannter deutscher Schriftsteller bat mich vor einiger Zeit, den Fahnensatz seines neuen, inzwischen recht erfolgreichen Romans zu lesen. Er habe das ungute Gefühl, der Text sei nur flüchtig und unzureichend lektoriert worden. Da die Werke dieses Autors in einem der renommiertesten Literaturverlage Deutschlands erscheinen, wunderte ich mich sehr, machte mich an die kritische Lektüre und wunderte mich dabei immer mehr. Der Text wimmelte von grammatischen Patzern, stilistischen Flüchtigkeiten, Redundanzen und Anschlussfehlern innerhalb der Konstruktion, die auszumerzen nicht einmal besonders schwierig war. Der zuständige Lektor hatte den Text offensichtlich nur überflogen und so schnell wie möglich in die Produktion durchgewinkt.

    Derlei Schlamperei ist leider kein Einzelfall, sondern exemplarisch für eine Entwicklung, die sich inzwischen zu einer "Krise des Lektorats" ausgewachsen hat. So lautet auch der Titel eines von Gunther Nickel, Lektor beim Deutschen Literaturfonds, herausgegeben Sammelbands, in dem zehn Lektoren über ihre Arbeit und ihr Selbstverständnis Auskunft geben. Zwar ist der Titel mit einem Fragezeichen versehen, doch herrscht unter den Beiträgern Einigkeit darüber, dass die aus ökonomischen Gründen rasant fortschreitende Umfunktionierung des klassischen Lektors zu einem Produktmanager in Sachen Buch die intensive Detailarbeit am Text immer obsoleter werden lässt. Was hier verloren geht, beschreibt am eindringlichsten der Schriftsteller Dieter Wellershoff, der sich früher als Lektor große Verdienste um die deutsche Gegenwartsliteratur erworben hat. Das Faszinierende dieser Tätigkeit sei "der Umgang mit Menschen, die sich im Medium ihrer Texte teils bewusst, teils unbewusst exponieren. Es ist eine Arbeit dicht am lebendigen Zentrum der individuellen Existenz." - Solcher Umgang verlangt jedoch nicht nur Zuneigung zu Autoren und Texten, sondern eben auch sehr viel Zeit - und Zeit ist in Zeiten gnadenloser Durchrationalisierung von Betriebsabläufen mehr denn je Geld. Die Krise des Lektorats ist, vereinfacht, aber zutreffend gesagt, nichts anderes als das Resultat der Profitmaximierung in der Buchproduktion. Irritierend an den durchweg interessanten und lesbaren Beiträgen ist nun allerdings, dass alle zehn Lektoren sehr genau um die Problematik wissen, keiner von ihnen jedoch eingesteht, sich solchen Zwängen zu fügen. Nach Lektüre des Bands könnte man zu dem trügerischen Ergebnis kommen, die Krise des Lektorats sei nichts als ein Gerücht. Entweder hat man hier nur solche Lektoren zu Wort kommen lassen, die tatsächlich noch ohne Rücksicht auf knappe Zeit und noch knapperes Geld hingebungsvoll an Texten arbeiten und mit Autoren kommunizieren - oder aber hier ist gemogelt worden, weil man vom lieb gewonnenen Berufsbild nicht lassen mag.

    Herausgeber Nickel kommt in seinem abschließenden Beitrag, der kursorisch die Wandlungen der Lektorenfunktion in den letzten hundert Jahren nachzeichnet, dann auch zu einem eher deprimierenden Ergebnis, wenn er konstatiert: "Solange der Markt weder ein gutes Lektorat honoriert noch ein schlechtes sanktioniert, wird bei steigendem Konkurrenzdruck kein Unternehmen seine gegenwärtige Lektoratspraxis überdenken. Ein verändertes Käuferverhalten aber setzt beim Publikum Bildung und Geschmack voraus, deren Erwerb durch das gegenwärtige Bildungssystem nicht mehr garantiert ist. Hier schließt sich ein Teufelskreis." Soweit Gunther Nickel. - Mir selbst allerdings hat dieser Teufelskreis zu zwei Kisten erstklassigen Rotweins verholfen, die mir der seinem Lektor misstrauende Schriftsteller als Dank für meine Arbeit an seinem Roman zukommen ließ.