Freitag, 29. März 2024

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Detlef Scheele, Bundesagentur für Arbeit
"Es ist immer besser, Menschen in Arbeit zu halten"

Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit verteidigte im Dlf die Verlängerung der Kurzarbeit bis Ende 2021. Auch mit Blick auf die Bundestagswahl im kommenden Jahr sei dies legitim, sagte Detlef Scheele im Dlf. Dadurch könne verhindert werden, dass extreme Parteien gewählt würden.

Detlef Scheele im Gespräch mit Sina Fröhndrich | 20.09.2020
Detlef Scheele, Vorstandsvorsitzender der Bundesagentur für Arbeit am 31.03.2020 in Berlin
Jobs in der Automobilindustrie seien der „Kern des deutschen Arbeitsmarktes“, sagte BA-Chef Scheele im Dlf. Man müsse alles tun, um sie zu retten. (imago / IPON)
Das Bundeskabinett hat dem Gesetzentwurf zur Verlängerung des Kurzarbeitergelds zugestimmt. Die Verlängerung soll für alle Betriebe bis Ende 2021 gelten. Kurzarbeit sichere nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) in Berlin.
Kritiker warnen vor Zombie-Unternehmen. Die Kurzarbeit dürfe keine Zuflucht für Unternehmen sein, die mit dem Strukturwandel kämpften oder kein Geschäftsmodell für die neue Normalität unter Pandemiebedingungen hätten.
Scheele: Verlängerung des Kurzarbeitergelds sei richtig
Der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, hält die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes für richtig. Damit würden im Moment 2,1 Millionen Arbeitsplätze erhalten. Kurzarbeit nicht zu verlängern, sei eine "Hochrisiko-Operation am offenen Herz der deutschen Wirtschaft, insbesondere da, wo Industriearbeitsplätze betroffen sind. Wenn sie weg sind, sind sie weg." Scheele räumte aber ein, dass es bei dem Instrument auch Mitnahmeeffekte gebe.
Ob die verlängerte Kurzarbeiterregelung eine steigende Arbeitslosigkeit vor der Bundestagswahl verhindern solle – dazu sagte Scheele: "Ich finde es bei einem vierjährigen Wahlturnus völlig legitim, dass man guckt, dass die Situation dann so ist, dass zumindest keine extremen Parteien gewählt und gestärkt werden." Eine neuerliche Verlängerung der Kurzarbeit über das Jahr 2021 hinaus schloss Scheele aber aus.
Coronakrise zehrt Milliardenrücklage der BA auf
Angesichts der Kosten für die Kurzarbeit rechnet der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit damit, dass seine Behörde in diesem Jahr 27 Milliarden Euro mehr ausgegeben werde, als sie einnimmt. Zur Deckung werde die Rücklage von 26 Milliarden Euro verwendet. Auch im kommenden Jahr werde der Haushalt wegen geringerer Beitragseinnahmen nicht gedeckt sein. Das gesamte Defizit bis Ende 2021 bezifferte Scheele auf dann 10 Milliarden Euro – "bei dem wir uns wünschen, dass wir um diese Summe entschuldet würden." Darüber spreche man derzeit mit der Bundesregierung. Von einer Erhöhung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung hält Detlef Scheele nichts.
Hubertus Heil (SPD), Bundesminister für Arbeit und Soziales, wartet auf den Beginn der wöchentlichen Kabinettssitzung im Kanzleramt.
Bundesarbeitsminister: Mit Kurzarbeit Arbeitsplätze sichern
Arbeitsminister Heil hat die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes verteidigt. Es sei vernünftig, mit Kurzarbeit Beschäftigung zu sichern, sagte er im Dlf. Gleichzeitig müsste die Wirtschaft modernisiert werden.
Das Interview im Wortlaut:
Sina Fröhndrich: Herr Scheele, Sie haben einmal gesagt, die Bundesagentur für Arbeit soll keine karikative Kriseninterventionsbehörde sein, sondern eine Begleitungsbehörde. Sie haben ja auch in Ihrem Berufsleben ganz konkret Menschen begleitet, zurück in die Arbeitswelt, betonen immer wieder die Bedeutung von Weiterbildung, aber im Moment, da organisieren Sie mit Ihrer Behörde ja vor allem das Kurzarbeitergeld, die erleichterte Grundsicherung. Sind Sie jetzt doch der oberste Krisenmanager für den Arbeitsmarkt?
Detlef Scheele: Ich glaube, man muss das annehmen, was auf einen zukommt und als wir am 15., 16., 17. März dann langsam gesehen haben, was dann tatsächlich passierte, muss man auch zum Krisenmanager werden. Daran kommt man jetzt nicht vorbei, aber ich gehe davon aus, dass es auch wieder Zeiten gibt, in denen man planmäßig an Qualifizierung, Vermittlung, und so weiter, denken kann. Gegenwärtig steht aber wirklich auf dem Fahrplan das Retten der Unternehmen durch Kurzarbeitergeld, weil das sind eben Arbeitsplätze, gerade in der Industrie, die sind gut bezahlt und wenn die verloren gehen, kriegen wir sie nur schwer wieder. Insofern ist die Priorität auf Rettung und Krise gerade richtig.
"Der Arbeitsmarkt ist gut durch die Krise gekommen"
Fröhndrich: Und zuletzt waren es 2,95 Millionen Jobsuchende. Im Juli und im August - da ist die Arbeitslosigkeit erst einmal wegen Corona nicht weiter angestiegen. Da könnte man ja eigentlich fast zu dem Schluss kommen, dass der deutsche Arbeitsmarkt relativ robust durch diese Krise kommt bisher.
Scheele: Ja, dem würden wir zustimmen. Ich glaube, der Arbeitsmarkt ist gut durch die Krise gekommen. Wir haben tatsächlich vom Juni zum Juli und vom Juli auf den August keine nennenswerten Corona-bedingten Anstiege mehr gehabt. Das ist so, aber man muss jetzt gucken, was macht man mit den Menschen, die arbeitslos geworden sind. Laufen wir in eine Situation, wo das erste Mal seit der Reformzeit der Sockel wieder steigt oder kriegen wir die Vermittlung hochgefahren, nehmen die Stelleneingänge zu. Also von der Normalität sind wir trotz der stabilen Lage am Arbeitsmarkt, finde ich, nach wie vor weit entfernt, und wenn man 636.000 mehr Arbeitslose im Vergleich zum Vorjahr hat, ist das ja schon ein ordentlicher Schluck aus der Pulle, mit dem wir gar nicht gerechnet hatten.
Statistik der Arbeitslosenquote in Deutschland von August 2019 bis August 2020
Arbeitslosenquote in Deutschland von August 2019 bis August 2020 (Statista)
Vor allem Ausländer von corona-bedingter Arbeitslosigkeit betroffen
Fröhndrich: Und wenn wir das mal ganz korrekt machen, wer ist das denn? Wer sind denn diese Arbeitslosen? Wer ist das, der jetzt da seinen Job verliert? Sind das zum Beispiel Geflüchtete? Sind das vielleicht auch Ältere, die ein bisschen früher jetzt aus dem Erwerbsleben ausscheiden?
Scheele: Also, wenn man nach Branchen guckt, sind das hauptsächlich das Gastgewerbe, das von früheren Krisen gar nicht betroffen war. Da gab es nie Kurzarbeit. Verarbeitendes Gewerbe, da kennen wir das und Verkehr und so weiter, aber es ist eben eine Krise, die alle Branchen umfasst zurzeit und wenn man Zielgruppen beguckt, dann sind es in der Tat Ausländer. Also, wir unterscheiden in der Statistik ja nicht Migranten und Ausländer, sondern Menschen mit ausländischem Pass. Da steigt die Arbeitslosigkeit dreimal so stark wie bei einheimischen Menschen und da gibt es eben ein Zusammentreffen von Merkmalen, möglicherweise schlechte deutsche Sprachkenntnisse, beschäftigt in der Zeitarbeit oder befristet, also auch fragil beschäftigt, und schlecht oder wenig qualifiziert, die trifft es zurzeit am härtesten. Das kann man gar nicht anders sagen.
Die Altstadt von Lüneburg, Platz Stintmarkt am Fluss Ilmenau, historisches Hafenviertel, viele Restaurants, Kneipen, Cafés, Niedersachsen, Deutschland,
Gastgewerbe in historischer Krise
Die staatlichen Hilfen in der Corona-Pandemie haben ein großes Kneipensterben in Deutschland bislang verhindert. Aber das könnte sich in den nächsten Monaten ändern, wenn etliche Hilfsprogramme auslaufen, warnt der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband.
Vermittlung und Maßnahmen in Arbeit liefen nur schleppend
Fröhndrich: Und wie groß ist Ihre Sorge, dass sich gerade diese Arbeitslosigkeit, die jetzt entsteht, dass die sich am Ende vielleicht auch verfestigt?
Scheele: Wir haben in den Jahren nach 2008/2009 keine erhöhte Sockelarbeitslosigkeit gehabt, aber man muss jetzt sagen, da alle Branchen betroffen sind, wird es sehr schwer sein, die jetzt gestiegene Arbeitslosigkeit, ohne zumindest leichte Erhöhung des Sockels und das Durchrutschen ins SGB II gänzlich zu vermeiden. Das muss man sagen, wobei man hinzufügen muss, es sind nur 150.000 Menschen wirklich arbeitslos geworden. Es sind eben auch weniger Abgänge, weniger Eintritte in Fortbildung und Umschulung und weniger Austritte aus Maßnahmen in Arbeit. Also das durchhängende Vermittlungsgeschäft und das sehr schleppende Maßnahmengeschäft trägt ebenso zur Erhöhung der Arbeitslosigkeit bei wie die der tatsächlich Arbeitslosmeldung von Menschen aus dem ersten Arbeitsmarkt.
Fröhndrich: Jetzt ist es ja so, dass Sie auch sagen, Arbeit hat eine hohe Wertigkeit. Da geht es um mehr als um das Geldverdienen und ein Jobverlust entwerte den Menschen. Was macht es mit denjenigen, die jetzt in dieser Krise ihren Job verlieren und merken, dass sie nicht aufgefangen werden, obwohl wir ja so viele Rettungspakete geschnürt haben? Wir haben das Kurzarbeitergeld.
Scheele: Wer jetzt arbeitslos wird, hat damit ja gar nicht rechnen können, denn ich habe auf dieses Wochenende vom 16. März gerade verwiesen. In den Wochen davor hat keiner damit gerechnet. Wir haben in die Zukunft geplant und haben mit den Unternehmen darüber geredet, wie wir Beschäftigte qualifizieren, damit die Transformation gelingt. Dass wir quasi über Nacht in eine Situation kommen, dass Hunderttausende von Menschen ihre Arbeit verlieren bzw. keine wie sonst im Trend aufnehmen, wussten wir nicht und das hat im Einzelfall sicherlich auch zu sehr schwierigen Lebenslagen geführt, auch bei Kurzarbeitern, wenn bei einem Ehepaar beide in Kurzarbeit sind und in den ersten Monaten 60 oder 67 Prozent haben, aber möglicherweise ganz andere Verpflichtungen eingegangen sind, weil sie ja gar nicht damit rechnen, dass sie arbeitslos werden, dann ist das schon ein tiefer Einschnitt in manche Erwerbsbiografie zurzeit.
"Die Langzeitarbeitslosigkeit steigt naturgemäß jetzt auch"
Fröhndrich: Zur Kurzarbeit kommen wir auch gleich noch einmal ausführlicher. Vielleicht schauen wir noch mal auf die, die davor schon arbeitslos waren, die Langzeitarbeitslosen. Wie ist es denn bei denen? Die Vermittlung in Ihrer Behörde liegt ja im Moment oder lag zumindest im Frühjahr ja relativ brach. Viele, die sonst für die Vermittlung zuständig waren, wurden auch für die Beantragung und Auszahlung des Kurzarbeitergeldes eingesetzt. Wie viel Zeit bleibt denn noch für Langzeitarbeitslose im Moment?
Scheele: Die Langzeitarbeitslosigkeit steigt naturgemäß jetzt auch, aber wir haben zurzeit sozusagen in dem konjunkturanfälligen Bereich der Versicherung, also im SGB III, deutlich mehr Effekte als in der Grundsicherung, aber wir müssen eben damit rechnen, dass auch der ein oder andere nach zwölf bzw. 15 Monaten dann keine Arbeit hat und auch in der Grundsicherung landet und dann ist man langzeitarbeitslos und diese Zahl wird zunehmen. Wir fahren ja unsere Organisation jetzt wieder so hin, dass wir auch wieder mehr vermitteln können. Die Unterstützung der Abrechnung von Kurzarbeit geht zurück und wir nehmen wieder mehr Vermittlungen auf. Wir brauchen nur Angebote der Arbeitgeber und das geht zurzeit ehrlicherweise noch recht schleppend ein. Wir haben über 200.000 weniger bei uns gemeldete offene Stellen. In den letzten beiden Monaten ist es dann um 10.000 und 11.000 hochgegangen. Das ist aber nicht die Welt. Also, die Frage, wann springt es wieder an, ist schon von Bedeutung.
Statistik der Anzahl der Langzeitarbeitslosen von August 2019 bis August 2020
Anzahl der Langzeitarbeitslosen von August 2019 bis August 2020 (Statista)
Fröhndrich: Und was glauben Sie denn, wann das alles sozusagen wieder anspringt?
Scheele: Das ist, glaube ich, ein Blick in die Glaskugel. Im verarbeitenden Gewerbe und in der Automobilindustrie und den Zulieferern sehen wir ja sozusagen das Überlagern von konjunktureller und Pandemie-bedingter Krise mit den Transformationsprozessen. Da werden einige Betriebe gerade bei den Automobilzulieferern nicht mehr das Volumen erreichen, was auf 100 Millionen Autos weltweit ausgelegt ist. Also, in der Gastronomie und im Tourismus hören wir, sehen wir, dass in den guten Lagen Hoteliers auch das alles aufholen, was sie im Frühjahr verloren haben, aber in durchschnittlichen Stadtlagen, wo die Geschäftsreisen und Dienstreisen fehlen, wird es noch dauern. Also, ich würde mal sagen, wir werden das Vorkrisenniveau vor 2023 in der Summe nicht erreichen.
Verlängerung der Kurzarbeit "jetzt in dieser Situation richtig"
Fröhndrich: Jetzt ist in dieser Woche vom Bundeskabinett die Verlängerung des Kurzarbeitergeldes auf den Weg gebracht worden. SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil spricht von der stabilsten Brücke in dieser Krise. Im Juni haben knapp 5,4 Millionen Menschen kurzgearbeitet. Das sind so ungefähr 12 Prozent aller Erwerbstätigen. Das kostet schon jetzt ziemlich viel Geld. Können wir uns denn diese Verlängerung, diese teure Brücke überhaupt leisten?
Scheele: Ich finde die Frage, was kostet die Kurzarbeit und kann man sie sich leisten, kann man immer nur beantworten, wenn man das bespricht mit der Frage, was ist die Alternative, und die Alternative ist gewiss nicht, nichts zu tun, weil dann stellen sie Menschen arbeitslos und wir hatten im April einen Ersatz von Arbeitsplätzen in Höhe von 2,5 Millionen, die die Kurzarbeit verhindert hat, die Arbeitslosigkeit. Das liegt jetzt bei 2,1 Millionen und 2,1 Millionen Arbeitslose kosten Transferleistungen und sie kosten möglicherweise auch aufstockende Leistungen in der Grundsicherung für die Wohnung. Also umsonst ist es sowieso nicht zu haben und es ist immer besser, Menschen in Arbeit zu halten, weil aus der Arbeit heraus kann man eher woanders hin vermitteln oder qualifizieren und ich fand, dass unter Abwägung aller Gesichtspunkte jetzt in dieser Situation richtig, auch mit der Veränderung ab 30.06. des nächsten Jahres 50 Prozent der Kosten für die Sozialversicherungsbeiträge nur zu bezahlen, wenn auch qualifiziert wird. Da ist ja auch eine Perspektive drin, dass Unternehmen jetzt sich auch darauf einstellen sollen, die Pandemiezeit zu überwinden, indem sie ihre Mitarbeiter weiterbilden. Das ist ja nicht nur einfach Kurzarbeit.
'Raus aus der Kurzarbeit' sei keine Option
Fröhndrich: Wenn wir noch mal auf dieses Szenario schauen, diese drohenden Jobverluste, wenn wir die Kurzarbeit nicht hätten oder auch nicht verlängern würden, ist das dann wirklich gesagt, dass da jeder Job am Ende gefährdet ist, weil Sie haben ja gerade schon gesagt, wir haben die Sozialversicherungsbeiträge, die Sie übernehmen, dann mit Qualifizierung, zum Teil auch nur noch zu 50 Prozent, aber die Hürden für den Bezug des Kurzarbeitergeldes sind ja sehr niedrig. Gibt es da nicht die Gefahr von Mitnahmeeffekten auch?
Scheele: Ja, natürlich gibt es die Gefahr von Mitnahmeeffekten. Da muss man überhaupt nicht drüber reden und es ist auch so, dass man natürlich einzelne Betriebe haben wird, bei denen das, was es an Anpassungsbedarfen und Transformationsbedarfen gibt, jetzt nicht geschieht, weil man halt in Kurzarbeit ist. Das ist so, nur ich finde, was die Bundesregierung macht, gerade sozusagen mit der Befristung der Sozialversicherungsbeiträge bis zum Sommer in Gänze, ist ein Schritt, der jetzt angemessen war, denn, ehrlicherweise, raus aus Kurzarbeit, wie es manche Forscher sagen, ist eine Hochrisikooperation am offenen Herzen der deutschen Wirtschaft und insbesondere da, wo Industriearbeitsplätze betroffen sind, wenn sie weg sind, sind sie weg und das kommt mir eher ein bisschen dreimalneunklug, was da gerade geredet wird. Noch einmal kann man es gewiss nicht verlängern, aber es gibt eben Betroffene, sowohl Unternehmen wie Mitarbeiter, bei denen, wenn man das jetzt nicht gemacht hätte, auch weitere persönliche Krisen die Folge gewesen wäre und das hat ja auch immer Folgen auf das Verhalten und so weiter der Menschen. Ich finde das richtig.
Sicherheit für Unternehmen und Beschäftigte schaffen
Fröhndrich: Also, würden Sie nicht sagen, dass das vielleicht so ein bisschen aktionistisch ist und man hätte ja vielleicht auch bis Ende des Jahres noch warten können – oder dass das jetzt so ein Signal schon einmal in Richtung Bundestagswahl ist, dass man sich damit noch einmal Zeit auch kauft eben, um eine größere Arbeitslosigkeit im nächsten Jahr im Zweifel vielleicht nicht vor der Bundestagswahl zu haben?
Scheele: Also, erst einmal finde ich es bei einem vierjährigen Wahlturnus völlig legitim, dass man guckt, dass diese Situation dann so ist, dass zumindest keine extremen Parteien gewählt werden und gestärkt werden. Das finde ich richtig und ehrlicherweise brauchen Unternehmen, damit sie nicht kündigen, auch einen gewissen Vorlauf, denn wer kündigen will, braucht einen Interessenausgleich und einen Sozialplan und die Verhandlungen müssen eingeleitet werden und wenn Betriebe, die Sozialverhandlungen einleiten, dann haben wir das Problem, dass wir eben aus der Kurzarbeitergeldzahlung wahrscheinlich raus müssten, weil keine Fortführungsperspektive mehr besteht. Also, das ist ein bisschen komplexer, als sich manch einer das vorstellt. Ohne Vorlauf ist das nicht zu machen.
Fröhndrich: Trotzdem gibt es ja Branchen, denen bringt die Kurzarbeit gar nicht so viel. Die sagen, wir bekommen dann zwar Geld für die Beschäftigten, aber dass am Ende mit der Kurzarbeit dann, in Anführungszeichen - Zombieunternehmen - finanziert werden und man am Ende dann vielleicht feststellt, man hat da ziemlich viel Geld ausgegeben, aber die Jobs werden dann doch nicht erhalten.
Scheele: Das kann im Einzelfall passieren. Man muss, glaube ich, aber immer in Alternativen denken. Also, wenn man das Kurzarbeitergeld, die Bezugsdauer jetzt eingestellt hätte zum 31.12., dann hätte es eine Reaktion am Arbeitsmarkt gegeben und ich finde das in diesem Rahmen angemessen.
Fröhndrich: Jetzt ist es ja so, dass Sie unter dem damaligen Bundesarbeitsminister Olaf Scholz Staatssekretär waren, unter ihm als Hamburger Bürgermeister Arbeits- und Sozialsenator. Sie sind selbst SPD-Mitglied. Nützt denn diese Nähe jetzt in dieser Krisenzeit mit diesen beiden SPD-geführten Ministerien?
Scheele: Also, es nützt, dass ich Politiker gewesen bin. Natürlich redet man mit jemandem, der der eigenen Partei angehört, manchmal etwas anders als mit dem Koalitionspartner, aber Sie können gewiss sein, dass der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit die gleichen guten und freundschaftlichen Kontakte in die Unionsfraktion hat wie in die SPD-Fraktion. Anders würde es ja gar nicht gehen.
Kurzarbeit mit Weiterbildung kombinieren
Fröhndrich: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Detlef Scheele. Er ist Chef der Bundesagentur für Arbeit. Sie haben die Qualifizierung bei der Kurzarbeit schon angesprochen. Sie haben die Industrie angesprochen, die Autobranche ist im Umbruch. Wie kann ich mir das konkret vorstellen? Wie könnte da ein Automechaniker weitergebildet werden?
Scheele: Also, am besten ist es so, wenn die Sozialpartner, also die Betriebsräte und die Eigentümer von Mercedes, VW und alle wie sie heißen, gemeinschaftlich das sozusagen reaktivieren, was wir alles vor der Pandemie miteinander besprochen haben. Was braucht ein künftiger Mitarbeiter von VW, wenn keine Verbrenner, sondern Elektroautos gebraucht werden, dafür liegen Konzepte in den Schubladen. Das fängt an mit Grundqualifikation in Elektromobilität und hat etwas mit digitalen Cockpits und Ähnlichem zu tun und ich glaube, das kann man jetzt parallel zur Kurzarbeit natürlich wieder mobilisieren und sozusagen ein bisschen schlauer aus der Krise herauskommen, als man reingegangen ist. Ich will gerne einräumen, das Komplizierte ist, Kurzarbeit ist ein sehr volatiles Mittel. Also, die kann an einem Tag fünf Stunden dauern und in der nächsten Woche nur drei Stunden und in der übernächsten Woche ist man zu 100 Prozent freigestellt. Also, da Bildung reinzuphasen, ist nicht ganz einfach, aber ich glaube, wir werden ja 2022/23 vor den gleichen Problemen stehen wie vor der Pandemie. Fachkräftemangel, demografische Entwicklung, Übergang Schule – Beruf, Ausbildungsplätze, alles das, was uns bis zu dem Tag im März bewegt hat, ist ja nicht weg und dann ist es klug sozusagen, wenn der Sturm ein bisschen abflaut, wieder zu Beginn sich auch sozusagen wieder darauf einzustellen, was uns im Frühjahr bewegt hat.
Jobs in der Automobilindustrie – "Kern des deutschen Arbeitsmarktes"
Fröhndrich: Das ist auch eine Frage, die sich stellt angesichts der verschiedenen Autogipfel, die wir zuletzt jetzt schon hatten. Natürlich geht es da auch um das Auto von morgen. Es geht viel um das Thema E-Mobilität, aber es waren auch schon wieder Verbrennerprämien im Gespräch. Gleichzeitig frage ich mich, reden wir jetzt an dieser Stelle nicht viel zu sehr rückwärtsgewandt und viel zu wenig über den Arbeitsmarkt der Zukunft, also das, was Sie eben gerade schon angesprochen haben. Wie können wir uns in Zukunft im Zweifel auch ohne diese jetzt noch so wichtige Industrie aufstellen?
Scheele: Ich würde mal sagen, Deutschland kann sich nicht ohne diese so wichtige Industrie aufstellen. Also, sozialversicherungspflichtige tarifliche Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe, in der Automobilindustrie, bei den Zulieferern und so weiter sind der Kern des deutschen Arbeitsmarktes. Damit kann man eine Familie ernähren, auch wenn man Arbeitnehmer ist, der alleine verdient und ohne diese Arbeitsplätze, diese Arbeitsplätze gehören zum sozialen Inventar der Bundesrepublik Deutschland. Man muss alles tun, um sie zu retten.
Arbeitsplätze zur Produktion von mehr als nur Verbrenner und E-Autos schaffen
Fröhndrich: Und was machen wir, wenn wir, sagen wir mal, eine längerfristige Perspektive einnehmen? Wir wissen, dass China versucht, sich sozusagen selbst als Markt zu versorgen. Es ist für uns ein wichtiger Exportmarkt. Was machen wir denn, wenn China in zehn, 15 Jahren unsere deutschen Autos nicht mehr möchte und wir diese Jobs dann hier einfach nicht mehr halten können?
Scheele: Darauf kann Ihnen der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur heute keine Antwort geben, was wir in zehn bis 15 Jahren machen, wenn eine Diktatur ihre Politik ändert, denn China kann ja entscheiden, den Knopf umzudrehen, und dann läuft es anders. Das machen sie ja auch gerade. Das ist auch für die Automobilindustrie ausgesprochen schwer, sich auf einen Partner einzustellen, der nicht nach den Kriterien funktioniert wie eine westliche Demokratie. Damit setzen sich die Hersteller auseinander, damit setzen sich die Gewerkschaften auseinander, und wenn uns ein Markt wie China richtig wegbrechen würde, würde das erheblichste Auswirkungen auf Deutschland haben und auch auf Europa, aber umso wichtiger ist es sozusagen, relativ zügig Arbeitsplätze zu generieren, die eben technologisch auch etwas anderes produzieren können als einen Verbrenner oder ein Auto mit Batteriebetrieb. Man muss gucken, was ist mit Wasserstoff und Ähnlichem. Das ist ein breites Portfolio, das da bespielt werden muss. Der Außenhandel schwächelt und wenn das nicht besser wird, wird es auch für diese ganzen Sektoren schwieriger.
"Jetzt in die Weiterbildung der Beschäftigten zu investieren"
Fröhndrich: Und was ja noch dazu kommt, ist ja die Digitalisierung, die die Arbeitswelt auch verändert. Jetzt haben wir in dieser Krise gesehen, dass unser soziales Netz für bestimmte Berufsgruppen, für Selbstständige, vor allem Soloselbstständige, sogenannte, die jetzt auf Grundsicherung angewiesen sind. Wenn wir in Zukunft damit rechnen müssen, vielleicht dass wir noch mehr solcher Selbständigen haben, auch durch die Digitalisierung, wie gut sind wir denn da für die Zukunft aufgestellt? Haben wir den vernünftigen Instrumentenkasten oder brauchen wir auch da Gespräche über mögliche Reformen?
Scheele: Ich glaube, wir haben den richtigen Instrumentenkasten. Man muss den Blick einmal rückwärts schweifen lassen in den Februar und Januar und so weiter. Da haben wir darüber geredet, was bewirkt die Digitalisierung, und da hat unser Institut für Arbeitsmarkt und Berufsforschung zu geforscht und es ist so, wir werden bis 2030 1,5 Millionen Arbeitsplätze verlieren und 1,5 Millionen hinzugewinnen. Also, es ist ein Nullsummenspiel, die Digitalisierung. Das Problem ist, dass es eine permanente Aufwärtsqualifizierung geben muss. Also, die Arbeitsplätze, die entstehen, werden anspruchsvoller, aber wenn wir das, was wir mit dem Qualifizierungschancengesetz gemacht haben, wieder zum Laufen kriegen, dann werden wir auch das Mittel der Wahl, Weiterbildung und Qualifizierung, wieder anfahren können. Und man muss eben sehen, so war es im Januar, Februar und auch im letzten Jahr, wir haben eine Situation, dass Deutschland in diesem Jahr 40.000 mehr Menschen hat, die im erwerbsfähigen Alter sind, 40.000. Das ist nicht das Schwarze unterm Fingernagel. Üblicherweise hatten wir zwischen 400.000 und 500.000 zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse. Diese Zeit wird wiederkommen und man ist gut beraten, jetzt in die Weiterbildung der Beschäftigten zu investieren, denn eigentlich hatten wir uns darauf eingestellt, dass wir angesichts des so geringen Zuwachses an Erwerbspersonen dieses Jahr schon in eine extrem schwierige Lage kommen und wir Zuwanderung aus Drittstaaten bräuchten in einem nie gekannten Ausmaß. Das ist aber nur ausgesetzt, dieses Phänomen. Das kommt.
"Ein Grundeinkommen hilft keinem Industriearbeiter"
Fröhndrich: Aber ein Grundeinkommen, das jetzt auch wieder diskutiert wird, das kommt für Sie nicht infrage?
Scheele: Ein Grundeinkommen hilft keinem Industriearbeiter. Ein Grundeinkommen liegt knapp über den SGB II-Leistungssatz. Dazu braucht es ergänzende Hilfen für Krankheit und so weiter, denn ein Grundeinkommen führt ja nicht dazu, dass man jemanden dann in der Gosse liegen lässt, wenn es alle ist. Also das ist von hinten bis vorne nicht durchdacht. Davon sollte man die Finger lassen, und zwar ganz schnell.
Zwei Hände reichen in Richtung des Betrachters mehrere Euro-Banknoten.
Brauchen wir das bedingungslose Grundeinkommen?
Die Coronakrise bringt neuen Schwung in die Debatte um das bedingungslose Grundeinkommen. Jede Bürgerin und jeder Bürgerin würde es erhalten. Was spricht also dagegen? Wie soll es finanziert werden?
"Werden in diesem Jahr keinen gedeckten Haushalt haben"
Fröhndrich: Herr Scheele, wir sollten auch noch mal auf die Finanzen zu sprechen kommen, all das, was jetzt in der Krise an Kurzarbeit bezahlt wird, das kostet natürlich Milliarden. Sie nehmen weniger ein, geben mehr aus. Mit welchem Defizit rechnen Sie in diesem Jahr?
Scheele: Also, wir werden dieses Jahr unsere Rücklage aufbrauchen und ein Defizit von 27 Milliarden Euro ungefähr haben.
Fröhndrich: Die Rücklage von 26 Milliarden Euro?
Scheele: Ja, genau, wir werden nach dem gegenwärtigen Stand 27 Milliarden Euro mehr ausgeben, als wir einnehmen und wir gehen weiter davon aus, dass wir natürlich auch nächstes Jahr durch die geringeren Beitragseinnahmen keinen gedeckten Haushalt haben werden und dass wir gegen Ende des Jahres ungefähr um zehn Milliarden Euro Defizit haben, bei dem wir uns wünschen, dass wir um diese Summe Ende des Jahres 2021 entschuldet würden. Darüber sind wir mit der Bundesregierung im Gespräch.
Fröhndrich: Das ist noch nicht entschieden, ob Sie das Geld als Zuschuss oder vielleicht auch als Darlehen bekommen?
Scheele: Nein, das ist nicht abschließend entschieden. Das ist aber auch ganz normal. Wir befinden uns im Haushaltsaufstellungsverfahren, aber auf alle, auf die ich treffe, wir waren neulich im Gespräch mit dem Haushaltsausschuss, wenn wir nicht entschuldet würden, bis wir dann zehn Milliarden sozusagen zurückgezahlt hätten bei einem so niedrigen Beitragssatz wie 2,4 Prozent, das dauert ewig und würde auch zweifelsohne dazu führen, dass wir Ermessensleistungen, also da, wo wir nicht zahlungsverpflichtet sind im Titel, wo Arbeitslose gefördert werden, sicherlich auch kürzen müssten und das will ehrlicherweise niemand in Berlin.
Fröhndrich: Eine Beitragserhöhung der Arbeitslosenversicherung ist ein No-Go?
Scheele: Also, ab 2023 ist ja vorgesehen, dass der Beitragssatz wieder auf 2,6 Prozent steigt. Dann würde es uns entlasten, das wären ungefähr 2,2, 2,3 Milliarden Euro, aber gegenwärtig kann man am Beitragssatz ebenso wenig drehen wie an der Absenkung der Eingliederungsleistung für Arbeitslose.
Digitale Kommunikationswege der BA künftig noch stärker ausbauen
Fröhndrich: Herr Scheele, am Ende noch eine persönliche Frage. Die vergangenen Monate, die haben ja auch einige Dinge sehr klar gezeigt. Systemrelevante Berufe, die könnten besser bezahlt werden. Die Care-Arbeit, die wird vor allem immer noch von Frauen umgesetzt und vielleicht auch nicht immer besonders hoch wertgeschätzt. Das Homeoffice ist sehr wohl doch möglich. Welche Erkenntnis ist denn Ihre ganz persönliche? Welchen Aha-Moment hatten Sie?
Scheele: Also, der Aha-Moment war, dass das Telefon zu mehr zu gebrauchen ist, als man es dachte, denn wir haben ja ehrlicherweise, als wir unsere Einrichtung geschlossen haben in der dritten Märzwoche, wir waren ja für die Arbeitslosen da, erreichbar und da hat das Telefon uns wirklich mehr als gute Dienste geleistet. Normalerweise telefonieren bei uns 4.000, 5.000 Leute. Dann waren es im Höchstfall 17.000 und man muss sagen, dass die Onlinekanäle besser funktionieren, als wir gedacht haben, und wir sind auch jetzt dabei sozusagen, wir haben immer gesagt als Vorstand, wir werden, wenn Corona vorbeigeht oder wenn wir wieder aufmachen und so weiter, dann wird die BA anders sein als vor der Krise. Also wir führen jetzt die Videokommunikation ein, wir führen ein Antragstracking ein, damit man weiß, wo sein Antrag steht. Das sind alles Erkenntnisse aus diesen Monaten, die wir jetzt in unseren Haushaltsberatungen für das Jahr 2021 gerade so absichern, dass wir sie auch auf Dauer unseren Kundinnen und Kunden zur Kommunikation und zu schnellerem Wissen, was mit ihren Dingen bei uns ist, anbieten können.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.